"Volkskrankheit" Missbrauch
12.000 - 13.000 Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche erfasst die Kriminalstatistik pro Jahr. Doch das tatsächlich Ausmaß liege weitaus höher, meint der Pädagoge Jens Brachmann. 7 Prozent der Jungen und 18 Prozent der Mädchen seien betroffen.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland hat nach Einschätzung des Pädagogen Jens Brachmann das "epidemische Ausmaß einer Volkskrankheit".
Nach der Kriminalstatistik liege die Zahl der Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche relativ konstant bei 12.000 bis 13.000 pro Jahr. Der Rostocker Pädagogik-Professor, der auch Mitglied der Aufarbeitungskommission Kindesmissbrauch ist, vermutet jedoch eine "mindestens sechsstellige" Dunkelziffer. "Das bedeutet, dass aktuell in Deutschland mehr als eine Million Kinder und Jugendliche leben, die von sexueller Gewalt betroffen sind, das heißt, circa sieben Prozent der Jungen und 18 Prozent der Mädchen", sagte Brachmann.
Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt" soll Lehrer sensibilisieren
Das bedeute, dass in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder säßen, die von sexueller Gewalt betroffen seien. Insofern begrüßt Brachmann die Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt", die heute startet. "Tatsächlich erreicht man in der Schule jedes Kind, und das zu nutzen, ist eine dankenswerte Initiative", sagt er. Kinder brauchten Lehrer, die diesbezüglich sensibel seien.
"Da herrscht in den Schulen eine ganz große Unsicherheit, wie soll man denn mit einem solchen Verdachtsfall umgehen?" Viele Lehrer scheuten sich da tatsächlich nachzufragen, so der Pädagoge. "Hier Lehrer gezielt zu sensibilisieren und hier stark zu machen, entsprechende Verdachtsfälle zu äußern (…), das ist einer der entscheidenden Punkte dieser Initiative."
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Heute beginnt eine bundesweite Initiative: "Schule gegen sexuelle Gewalt". Und allein dass eine solche Initiative aufgelegt wird, aufgelegt werden muss, zeigt eins: Sexueller Missbrauch ist ein Problem, das offenbar trotz aller öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema beileibe nicht beseitigt ist.
Jens Brachmann weiß das nur zu genau, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Rostock, einer der Forscher, die die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule aufarbeiten, und Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Jens Brachmann, guten Morgen!
Jens Brachmann: Guten Morgen, Herr Frenzel!
"Mindestens sechsstellige Dunkelziffer"
Frenzel: Welche Dimension hat sexueller Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen, von wie viel Betroffenen müssen wir ausgehen?
Brachmann: Also, vertrauen wir der Kriminalstatistik, dann können wir relativ konstant in jedem Jahr von 12.000 bis 13.000 Fällen ausgehen. Wir müssen aber in der Tat mit einer Dunkelziffer rechnen, die mindestens sechsstellig ist. Das bedeutet, dass aktuell in Deutschland mehr als eine Million Kinder und Jugendliche leben, die von sexueller Gewalt betroffen sind. Das heißt, circa sieben Prozent der Jungen und circa 18 Prozent der Mädchen.
Und in der Konsequenz bedeutet das eben auch, dass in der bundesdeutschen Gesellschaft circa sieben bis acht Millionen Erwachsene leben, die in ihrer Kindheit sexueller Gewalt ausgesetzt wurden. Das bedeutet eben auch, dass wir in der Tat davon ausgehen müssen, dass sexuelle Gewalt eben nicht nur ein Grundrisiko von Kindheit ist, sondern dass es tatsächlich das epidemische Ausmaß einer Volkskrankheit hat.
Frenzel: Das heißt, wir müssen aber auch heute konstatieren, es ist ein Problem, das sich eigentlich im Grunde nicht verringert hat. Ich hatte …
Brachmann: Nein.
Frenzel: … die Hoffnung, dass man sagen kann, durch eben all die Aufklärungsarbeit, die stattfindet, dass wir von einem Phänomen reden, das sich bestenfalls reduziert hat?
Brachmann: Nein, wir sind wahrscheinlich eher sensibler geworden, deswegen fallen auch mehr Fälle auf. Aber wir müssen davon ausgehen, dass Gewalt ein manifestes Muster der Regulierung von Generationenbeziehungen ist und pädokriminelle Gewalt ein Teil davon. Das hält sich relativ konstant über die historischen Epochen hinweg, von der Antike bis in die Gegenwart, und das Problem hat sich wahrscheinlich nicht verringert, nur dass wir diesbezüglich etwas sensibler geworden sind. Kultur ist noch immer ein prekäres Strukturgefüge, das das Leid Heranwachsender gezielt wagt und damit einen brüchigen gesellschaftlichen Status quo sichert.
Die meisten Übergriffe finden in der Familie statt
Frenzel: Aber gleichzeitig ist es ja so, sie untersuchen die Fälle an der Odenwaldschule beispielsweise, wir kennen das Beispiel der katholischen Kirche: Die gesellschaftlichen Räume, wo so etwas stattfinden konnte, also auch im halb öffentlichen Raum, die werden ja immer kleiner, die sind durch die öffentliche Aufmerksamkeit gar nicht mehr da. Ist es also etwas, was vor allem zu Hause passiert?
Brachmann: Nein. Ja, doch, es ist vor allem etwas, was auch zu Hause passiert. Wir müssen davon ausgehen, dass ein Großteil der Übergriffe noch immer im familiären Umfeld stattfindet, das hat die Politik auch erkannt, insofern nämlich auch diese Aufarbeitungskommission, die Sie ja kurz angesprochen haben, das Feld Familie auch in den Fokus nimmt. Das ist im internationalen Kontext einzigartig, denn weder die australische Kommission noch die englische Kommission noch die kanadische untersucht zu sexuellem Missbrauch in Familien, die beschränken sich tatsächlich auf den institutionellen Kontext. Aber hier hinzuschauen, das ist ganz wichtig und das hat sich die Aufarbeitungskommission auch vorgenommen.
Netzwerke der Duldung und Vertuschung
Frenzel: Würden Sie denn sagen, es gibt heute noch ein gesellschaftliches Klima, ein Umfeld, das sexuellen Missbrauch ermöglicht?
Brachmann: In der Tat. Sie müssen sich nur diesen doch mit starker Aufmerksamkeit bedachten amerikanischen Investigationsfilm "Spotlight" anschauen, der auch mit zwei Oscars prämiert wurde. Dort wird das Problem recht pointiert in den Fokus gerückt, dort fällt nämlich der bemerkenswerte Satz: Wenn es ein Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen, dann braucht es auch ein Dorf, um ein Kind zu missbrauchen. Und das macht sehr deutlich, dass diese Verbrechen, die pädosexuellen Verbrechen selten Entgleisungen verirrter Einzeltäter sind, sondern dass es nicht nur in pädagogischen Einrichtungen, sondern natürlich auch im familiären Kontext so ist, dass diese Taten System haben, dass diese Taten Methode haben, dass es immer Mithelfer gibt. Es gibt immer passive wie aktive Unterstützer, es gibt Ermöglichungsbedingungen.
Und wenn wir uns die den institutionellen Kontext anschauen, dann dürfen wir davon ausgehen, dass es eben auch Tätersysteme gibt. Das können wir etwa für die Odenwaldschule belegen, das lässt sich aber auch an anderen Einrichtungen, etwa Canisius-Kolleg belegen, es gibt konspirative Strukturen und Netzwerke der Duldung und Verdeckung dieser Verbrechen und es gibt eben auch Strukturen, die die Entschleunigung und Blockade der Aufklärung begleiten und hier verhindern. Also, hier genauer hinzuschauen, dazu bedarf es eines gesellschaftlichen Klimas, es bedarf doch in der Tat des gesellschaftlichen Impacts, das Thema muss endlich in der Gesellschaft ankommen, sowohl in der medialen Öffentlichkeit, aber eben auch im politischen System.
Große Unsicherheit unter den Lehrern
Frenzel: Heute wird die bundesweite Initiative Schule gegen sexuelle Gewalt gestartet, die ich anfangs erwähnt habe. Welche Hilfe kann man denn Kindern und Jugendlichen geben, um sexuelle Übergriffe Erwachsener abwehren zu können?
Brachmann: Also, wenn Sie sich die Dimension anschauen, die ich vorhin am Beispiel der Zahlen belegt habe, dann bedeutet das, dass in jeder Schulklasse ca. ein bis zwei Kinder sitzen, die von sexueller Gewalt betroffen sind. Hier ist die Schule in der Tat der rechte Ort, um Aufmerksamkeit entsprechend zu verfolgen. Tatsächlich erreicht man in der Schule jedes Kind. Und das zu nutzen, das ist eine dankenswerte Initiative, die durch den Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, durch Johannes-Wilhelm Rörig auf den Weg gebracht wurde, nämlich dieses Umfeld zu nutzen, um zu sensibilisieren.
Denn Kinder brauchen stabile Umfelder, Kinder brauchen Erwachsene, die hinschauen, Kinder brauchen vor allem eben auch Lehrer, die diesbezüglich sensibel sind. Und da herrscht in den Schulen eine ganz große Unsicherheit, wie soll man denn also mit einem solchen Verdachtsfall umgehen. Viele Lehrer scheuen sich da tatsächlich, nachzufragen. Und hier Lehrer gezielt zu sensibilisieren, hier Lehrer auch stark zu machen, entsprechende Verdachtsfälle zu äußern und dann die Schutzkonzepte entsprechend zu akquirieren, das ist einer der entscheidenden Punkte dieser Initiative.
Frenzel: Sagt Jens Brachmann, Professor an der Uni Rostock und Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Brachmann: Ich danke für Ihr Interesse, Herr Frenzel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.