Inkludieren statt integrieren
Dass mehr behinderte Kinder in Regelschulen statt in Sondereinrichtungen ausgebildet werden, wünscht sich der Präsident des Sozialverbandes und Sprecher des Deutschen Behindertenrates Adolf Bauer. Derzeit findet der Weltkongresses zur Integration Behinderter in Berlin statt.
Hanns Ostermann: Papier ist häufig geduldig. Was hilft es, wenn Ansprüche formuliert werden, an die sich im Alltag keiner hält. Andererseits: Ist etwas schriftlich fixiert, dann kann die Umsetzung überprüft werden wie beim Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 2006 wurde es verabschiedet. Rund 2.300 Delegierte aus 70 Ländern wollen ab heute in Berlin Anspruch und Realität miteinander vergleichen. Haben Behinderte dieselben Möglichkeiten wie Nichtbehinderte? – Ich habe darüber mit Adolf Bauer gesprochen, dem Präsidenten des Sozialverbandes und des Deutschen Behindertenrates. Zunächst wollte ich von ihm wissen: wie hoch sind bei uns die Barrieren des Alltags?
Adolf Bauer: Die Barrieren des Alltags sind für Menschen mit Behinderungen immer noch erheblich. Es geht nicht nur um die baulichen Barrieren, die man täglich sieht – ob es Stufen sind vor Gebäuden oder fehlende Einrichtungen für Blinde oder Hörgeschädigte -, es sind auch die Barrieren in den Köpfen, dass man immer noch Menschen ausgliedert, die anders sind, als man vermeintlich als nicht behinderter Mensch meint.
Ostermann: Immerhin gilt auch bei uns seit einem Jahr die UN-Vorgabe. Was hat sich da in den letzten 12 Monaten getan? Sehen Sie überhaupt positive Entwicklungen?
Bauer: In den 12 Monaten, wenn man das auf diesen engen Zeitraum beschränkt, hat sich nicht ganz viel getan, seit dem in Kraft treten der UN-Konvention. Die Länder, der Bund tun sich sehr schwer, den Handlungsbedarf anzuerkennen, beziehungsweise wenn man ihn erkannt hat, ihn umzusetzen.
Ostermann: Liegt das unter anderem daran, dass die öffentlichen Haushalte überhaupt kein Geld mehr haben?
Bauer: Nein, das kann man nicht alleine auf die Haushaltsmisere zurückführen. Das liegt zum Teil auch an ideologischen Barrieren. Wenn man glaubt, dass alles schon im Lot sei, wenn man also glaubt, dass das Behindertengleichstellungsgesetz bei uns umgesetzt sei, dass die Gleichstellung ja in Artikel 3 des Grundgesetzes geregelt, dass die UN-Behindertenrechtskonvention zwar von Deutschland mit aktiv betrieben, aber eigentlich kein Handlungsbedarf da sei, dann habe ich eine Begründung dafür, dass ich nichts oder ganz wenig nur tue.
Ostermann: Herr Bauer, häufig lernen behinderte und nichtbehinderte Kinder an unterschiedlichen Schulen. Hier bereits könnte man ja aufeinander zugehen, und Sie fordern auch die sogenannte inklusive Bildung. Was kann ich mir darunter vorstellen?
Bauer: Die inklusive Bildung ist eine Formulierung, die in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist. Darunter muss man sich vorstellen, dass wir eine Abkehr von unserer bisherigen Praxis vornehmen. Bisher sondern wir Menschen aus, die mit irgendeiner Form von Behinderung leben müssen. Ein Beispiel: Wenn ein Kind Lernschwierigkeiten hat, geht es auf die Sonderschule oder Förderschule für Lernbehinderte. Und so gibt es Förderschulen für alle möglichen Formen von Behinderungen. Wir gliedern aus, statt sie zu inkludieren. Wir müssen heute nach der Ausgliederung hinterher die Kinder mühselig wieder integrieren in die Gesellschaft, eingliedern in die Gesellschaft, und vergessen dabei, dass alle nicht gelernt haben, miteinander umzugehen, Nichtbehinderte mit Behinderten und auch umgekehrt, und das macht ein Problem. Inklusion, wenn ich das noch anfügen darf, schafft eine Voraussetzung in den Regelschulen zum Beispiel. Sie müssen so gestaltet werden, dass alle Kinder, möglichst alle Kinder die angemessene Beschulung finden.
Ostermann: Aber warum sprechen Sie von einem neuen Begriff, der für nicht Eingeweihte schwer nachvollziehbar ist? Weshalb sprechen Sie von Inklusion oder Inclusion und nicht mehr von Integration?
Bauer: Weil Integration bedeutet, dass der Mensch sich anpassen muss an das System, wenn er integriert werden soll. Bei der Inklusion sind die Bedingungen von der Gesellschaft, von den Einrichtungen so zu schaffen, dass alle Menschen ihre Förderung bekommen und teilhaben können an der Gesellschaft. Das ist ein Begriff, der aus dem Englischsprachigen kommt, der über unseren, bisher gehandhabten Begriff Integration weit hinausgeht beziehungsweise deutlich abgrenzbar ist.
Ostermann: Vertreter aus 70 Ländern sind bei diesem Weltkongress in Berlin von heute an dabei. Von wem lässt sich da eigentlich besonders viel lernen? Sind Briten oder Franzosen Behinderten gegenüber aufgeschlossener?
Bauer: Unsere europäischen Nachbarn sind fast alle aufgeschlossener gegenüber Behinderten. Wir sind zudem noch belastet durch unsere Geschichte. Wir behandeln unsere Kinder mit irgendwelchen Behinderungen ganz anders als unsere europäischen Nachbarn. In der Bundesrepublik Deutschland werden etwa 15 Prozent aller Kinder mit Behinderungen in Regelschulen unterrichtet, bei unseren europäischen Nachbarn können wir 80 bis 100 Prozent registrieren. Das macht einen ganz erheblichen Unterschied.
Das setzt sich fort in der beruflichen Ausbildung. Bei uns wird die überwiegende Anzahl an jungen Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen, die wir dringend brauchen, jetzt bei diesem System, ausgebildet. Über 90 Prozent aller jungen Menschen mit Behinderungen werden nicht im dualen System, sondern in Sondereinrichtungen ausgebildet. Das zeigt, dass wir noch ganz erheblich uns bewegen müssen.
Ostermann: Herr Bauer, Sie haben schon darauf hingewiesen: die Barrieren in den Köpfen bei uns in Deutschland, das sind die größten Schwierigkeiten. Aber wie wollen Sie das relativ schnell ändern?
Bauer: Das bedarf intensiver politischer Anstrengungen. Wir müssen die Diskussion in allen Ebenen führen. Dazu müssen die Behindertenverbände ihren Teil beitragen, aber gefordert ist vor allem die Politik auf der schulischen Ebene, auf der Ebene der Ausbildung, der beruflichen Bildung, dazu sind unsere kulturellen Einrichtungen gefordert, die Medien müssen ihren Teil dazu beitragen. Es wird nicht ganz leicht sein, aber wir können es uns nicht leisten, einige hunderttausend junge Menschen auszugliedern, sie nicht teilhaben zu lassen an der Gesellschaft, sie damit auf Dauer auch nicht in die Lage zu versetzen, ihr Leben eigenverantwortlich zu führen, eine Perspektive überhaupt zu bekommen.
Ostermann: Vor Beginn des heutigen Weltkongresses in Berlin Adolf Bauer, der Präsident des Sozialverbandes und Sprecher des Deutschen Behindertenrates. Herr Bauer, vielen Dank für das Gespräch!
Bauer: Bitte schön, Herr Ostermann!
Adolf Bauer: Die Barrieren des Alltags sind für Menschen mit Behinderungen immer noch erheblich. Es geht nicht nur um die baulichen Barrieren, die man täglich sieht – ob es Stufen sind vor Gebäuden oder fehlende Einrichtungen für Blinde oder Hörgeschädigte -, es sind auch die Barrieren in den Köpfen, dass man immer noch Menschen ausgliedert, die anders sind, als man vermeintlich als nicht behinderter Mensch meint.
Ostermann: Immerhin gilt auch bei uns seit einem Jahr die UN-Vorgabe. Was hat sich da in den letzten 12 Monaten getan? Sehen Sie überhaupt positive Entwicklungen?
Bauer: In den 12 Monaten, wenn man das auf diesen engen Zeitraum beschränkt, hat sich nicht ganz viel getan, seit dem in Kraft treten der UN-Konvention. Die Länder, der Bund tun sich sehr schwer, den Handlungsbedarf anzuerkennen, beziehungsweise wenn man ihn erkannt hat, ihn umzusetzen.
Ostermann: Liegt das unter anderem daran, dass die öffentlichen Haushalte überhaupt kein Geld mehr haben?
Bauer: Nein, das kann man nicht alleine auf die Haushaltsmisere zurückführen. Das liegt zum Teil auch an ideologischen Barrieren. Wenn man glaubt, dass alles schon im Lot sei, wenn man also glaubt, dass das Behindertengleichstellungsgesetz bei uns umgesetzt sei, dass die Gleichstellung ja in Artikel 3 des Grundgesetzes geregelt, dass die UN-Behindertenrechtskonvention zwar von Deutschland mit aktiv betrieben, aber eigentlich kein Handlungsbedarf da sei, dann habe ich eine Begründung dafür, dass ich nichts oder ganz wenig nur tue.
Ostermann: Herr Bauer, häufig lernen behinderte und nichtbehinderte Kinder an unterschiedlichen Schulen. Hier bereits könnte man ja aufeinander zugehen, und Sie fordern auch die sogenannte inklusive Bildung. Was kann ich mir darunter vorstellen?
Bauer: Die inklusive Bildung ist eine Formulierung, die in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist. Darunter muss man sich vorstellen, dass wir eine Abkehr von unserer bisherigen Praxis vornehmen. Bisher sondern wir Menschen aus, die mit irgendeiner Form von Behinderung leben müssen. Ein Beispiel: Wenn ein Kind Lernschwierigkeiten hat, geht es auf die Sonderschule oder Förderschule für Lernbehinderte. Und so gibt es Förderschulen für alle möglichen Formen von Behinderungen. Wir gliedern aus, statt sie zu inkludieren. Wir müssen heute nach der Ausgliederung hinterher die Kinder mühselig wieder integrieren in die Gesellschaft, eingliedern in die Gesellschaft, und vergessen dabei, dass alle nicht gelernt haben, miteinander umzugehen, Nichtbehinderte mit Behinderten und auch umgekehrt, und das macht ein Problem. Inklusion, wenn ich das noch anfügen darf, schafft eine Voraussetzung in den Regelschulen zum Beispiel. Sie müssen so gestaltet werden, dass alle Kinder, möglichst alle Kinder die angemessene Beschulung finden.
Ostermann: Aber warum sprechen Sie von einem neuen Begriff, der für nicht Eingeweihte schwer nachvollziehbar ist? Weshalb sprechen Sie von Inklusion oder Inclusion und nicht mehr von Integration?
Bauer: Weil Integration bedeutet, dass der Mensch sich anpassen muss an das System, wenn er integriert werden soll. Bei der Inklusion sind die Bedingungen von der Gesellschaft, von den Einrichtungen so zu schaffen, dass alle Menschen ihre Förderung bekommen und teilhaben können an der Gesellschaft. Das ist ein Begriff, der aus dem Englischsprachigen kommt, der über unseren, bisher gehandhabten Begriff Integration weit hinausgeht beziehungsweise deutlich abgrenzbar ist.
Ostermann: Vertreter aus 70 Ländern sind bei diesem Weltkongress in Berlin von heute an dabei. Von wem lässt sich da eigentlich besonders viel lernen? Sind Briten oder Franzosen Behinderten gegenüber aufgeschlossener?
Bauer: Unsere europäischen Nachbarn sind fast alle aufgeschlossener gegenüber Behinderten. Wir sind zudem noch belastet durch unsere Geschichte. Wir behandeln unsere Kinder mit irgendwelchen Behinderungen ganz anders als unsere europäischen Nachbarn. In der Bundesrepublik Deutschland werden etwa 15 Prozent aller Kinder mit Behinderungen in Regelschulen unterrichtet, bei unseren europäischen Nachbarn können wir 80 bis 100 Prozent registrieren. Das macht einen ganz erheblichen Unterschied.
Das setzt sich fort in der beruflichen Ausbildung. Bei uns wird die überwiegende Anzahl an jungen Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen, die wir dringend brauchen, jetzt bei diesem System, ausgebildet. Über 90 Prozent aller jungen Menschen mit Behinderungen werden nicht im dualen System, sondern in Sondereinrichtungen ausgebildet. Das zeigt, dass wir noch ganz erheblich uns bewegen müssen.
Ostermann: Herr Bauer, Sie haben schon darauf hingewiesen: die Barrieren in den Köpfen bei uns in Deutschland, das sind die größten Schwierigkeiten. Aber wie wollen Sie das relativ schnell ändern?
Bauer: Das bedarf intensiver politischer Anstrengungen. Wir müssen die Diskussion in allen Ebenen führen. Dazu müssen die Behindertenverbände ihren Teil beitragen, aber gefordert ist vor allem die Politik auf der schulischen Ebene, auf der Ebene der Ausbildung, der beruflichen Bildung, dazu sind unsere kulturellen Einrichtungen gefordert, die Medien müssen ihren Teil dazu beitragen. Es wird nicht ganz leicht sein, aber wir können es uns nicht leisten, einige hunderttausend junge Menschen auszugliedern, sie nicht teilhaben zu lassen an der Gesellschaft, sie damit auf Dauer auch nicht in die Lage zu versetzen, ihr Leben eigenverantwortlich zu führen, eine Perspektive überhaupt zu bekommen.
Ostermann: Vor Beginn des heutigen Weltkongresses in Berlin Adolf Bauer, der Präsident des Sozialverbandes und Sprecher des Deutschen Behindertenrates. Herr Bauer, vielen Dank für das Gespräch!
Bauer: Bitte schön, Herr Ostermann!