Inklusion

"Das haben wir uns verdient"

Ein Schulbuch, ein Kind steht, das andere sitzt im Rollstuhl. Kindern soll so das gemeinsame Lernen von nicht behinderten und behinderten Schülern vermittelt werden.
Ein Schulbuch, in dem die Inklusion - das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht-behinderten Kindern - erklärt wird. © picture alliance / dpa / Foto: Caroline Seidel
Von Axel Schröder |
Seit zwanzig Jahren bemühen sich die Lehrkräfte der Erich-Kästner-Schule in Hamburger darum, behinderte und nicht-behinderte Kinder zu unterrichten. Für ihr Engagement ist die Schule jetzt ausgezeichnet worden.
Die zweite Stunde hat angefangen, Schülerinnen und Schüler der 6 b an der Erich-Kästner-Ganztagsschule beugen sich über ihre Arbeitsblätter. Die Aufgabe: sie sollen Fotos von sich aufkleben, eines als Baby, ein aktuelles und beides ergänzen durch beschreibende Texte und eine Zeichnung: das bin ich in zehn Jahren. Janna von Stein unterrichtet die 6b, die 29-jährige Lehrerin steht neben Henry - und hilft.
"Wie alt bist Du in zehn Jahren, Henry? - 21! - Ja, dann kannst Du das auch hinschreiben…"
Henry schaut seine Lehrerin an, wieder runter aufs Blatt. Schreibt auf, was er mal werden will. Und irgendwie passt es. Groß und sportlich wie er ist: Profi-Basketballer will er werden, schon heute zeigt er den Klassenkameraden auf dem Schulhof, dass er vielleicht nicht so schnell beim Rechnen und Schreiben ist, wohl aber beim Körbe werfen. Kurz vor Ende der Stunde präsentieren die Kinder ihre Arbeiten vor der Klasse. Auch Henry steht auf, steht schüchtern ganz vorn, hält seinen Pappbogen in der Hand.
"… und hier: möchte ich ein Basketballer werden. In zehn Jahren."
Mehr nicht, Henry macht es kurz. Dann geht es raus in die Pause, auf den weiten Schulhof. Janna von Stein setzt sich auf eine Tischkante, erzählt aus ihrem Berufsalltag, in einer Schule, die die Inklusion, das Gemeinsame Lernen von behinderten und nicht-behinderten Schülern, voranbringen will.
"Die Teamstrukturen, die wir hier an der Schule haben, die sind einfach wahnsinnig toll. Ich komme richtig gerne zur Arbeit, und dass wir eben diese vielen Kompetenzen im Team haben, dass ich eine Sonderpädagogin an meiner Seite habe - ich bin die Regelschullehrerin - dass ich weiß, ich kann da eine Kompetenz ansprechen, dass wir uns ergänzen, das ist schon was sehr Besonderes an dieser Schule. Nicht, wie an anderen, dass da eine Sonderpädagogin vielleicht für den ganzen Jahrgang zuständig ist und eigentlich nie so richtig Zeit hat, sich komplett alle Kinder anzugucken."
Keine Angst vorm "Anderssein"
Oben, an der hinteren Wand des Klassenraums hängt ein großes DIN A4-Blatt: "Anderssein" steht in der Mitte. Drumherum haben die Schüler aufgeschrieben, wie dieses Anderssein zustande kommt: durch den Charakter, die Haarfarbe, die Herkunft. Krankheit und Behinderung tauchen nicht auf. Ticken die Schüler der Erich-Kästner-Schule anders als andere. Gilt der alte Spruch: "Kinder können grausam sein!" hier nicht, wird hier niemand gehänselt, der vermeintlich schwächer ist?
"Ja, natürlich gibt es das! Dass diese Kinder geärgert werden. Das haben wir auch. Aber bei mir in der Klasse ist es so, dass die Inklusionsschüler sozial so integriert sind und hier so viele Freunde haben. Ich glaube, es ist den Mitschülern nicht wirklich klar, wer eigentlich hier mit sonderpädagogischem Förderbedarf sitzt. Klar - in anderen Klassen - wenn da jemand stark autistisch ist… Das stellt natürlich auch sehr, sehr große Anforderungen an die Mitschüler. Und die kommen dann damit unterschiedlich gut zurecht. Das ist dann ein neues Aufgabenfeld für uns Lehrer…"
… das sie zum Beispiel durch regelmäßigen Projektwochen zum Thema "Autismus" oder "Trisomie 21" mit den Schülern beackern. Die Lehrerin verabschiedet sich, weist den Weg nach draußen, quer über den Schulhof, zum "Prisma" im Nachbargebäude. Dort betreut die Sonderpädagogin Gabriela Schütz bis zu 15 Schüler, denen die übliche Unruhe im regulären Unterricht zu viel wird. Vier Kinder, eines davon autistisch, ein anderes mit Rechenschwäche sitzen gerade in dem Raum, die Regale voll mit Holzwürfeln, die man zusammenpuzzeln muss, mit Papier und Stiften, Konzentrationsspielen. Keines der Kinder schaut auf, alle arbeiten an ihren Aufgaben, als Schütz sie kurz alleine lässt, um vor der Tür über ihre Arbeit zu berichten:
"Wir finden hier heraus, was die Schüler leisten können, wo sie ihre Stärken haben. Und ausgehend davon, dass sie ihre Stärken hier leben und zeigen können, was sie lernen wollen und können, gehen sie dann in die Klassen zurück. Gestärkt. Und können
sich dort auch darauf einlassen, mal zu schauen, ob sie nicht auch dort zeigen können, was sie leisten können. Und das klappt hervorragend."
… und danach geht es auch für sie weiter im Klassenverband. Draußen toben schon wieder die Kinder auf dem Schulhof. Und na klar: alle wissen, dass ihre Schule einen Preis bekommt. Den Jakob-Muth-Preis für Inklusion, gestiftet von der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, der Bertelsmann Stiftung, der Deutsche UNESCO-Kommision und der Sinn-Stiftung.
Kinder:"Ich find's toll, dass unsere Schule einen Preis gewonnen hat. Ich finde, wir haben den auch voll verdient. - Wir können gut mit den anderen umgehen. Auch mit den anderen, die nicht so schnell lernen können. Ja! Wir haben den verdient, den Preis!"
Es braucht Geld und Stellen
Als es soweit ist, steht ein Schülerchor auf der breiten Bühne in der Schulaula. Gekommen sind die Stifter, ganz vorn sitzt Hamburgs Schulsenator Thies Rabe, wippt und klatscht im Takt. Oben steht Schulleiter Pit Katzer, nimmt die Urkunde entgegen, ein bescheidenes Lächeln hinter der kleinen Brille. Er schüttelt Hände, freut sich über die Auszeichnung, 20 Jahre, nachdem er die - früher hieß es: Integration - an der Schule vorangetrieben hat. Nach der Feier rennen die Schüler durch die Pausenhalle. Daneben Schulsenator Thies Rabe:
"Ich freue mich sehr! Es ist schon das zweite Mal, dass eine Hamburger Schule ausgezeichnet wird. Und es zeigt, dass man zwei Dinge braucht für Inklusion: natürlich zählt dazu: Geld und Stellen. Aber es zählt auch dazu ein engagiertes Kollegium, das sagt: ´Das ist eine spannende Aufgabe! Eine Aufgabe, die uns und die Kinder weiterbringt und die wir gerne annehmen!`"
Die Mittel sollen in den kommenden Jahren bis zu 25 Millionen Euro aufgestockt werden. Dass das dringend nötig ist, dass es mit Engagement, Teamarbeit und immer neuen Ideen nicht getan ist, findet auch Schulleiter Pit Katzer. Als alle Gäste gegangen sind, sitzt er in seinem Büro. Draußen fallen ein paar Schneeflocken, die Regale stehen voll mit Fachliteratur, auf dem Tisch dampft starker Kaffee:
"Wenn ich auf die gesamte Hamburger Schullandschaft und Inklusionslandschaft gucke, dann - und das ist nicht nur meine Sichtweise, sondern bei den Schulleitern der Stadtteilschulen durchgängig - dass sowohl bei den Schülern mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und Verhalten, als auch für die Kinder mit klassischen Behinderungen die Ressourcen nicht ausreichen."
Noch, so Katzer, kann er die Mittel im Schulhaushalt so umschichten, dass das Niveau gehalten wird. In ein paar Jahren, das ist schon heute klar, werden Gelder fehlen. Dann wird es schwierig, Inklusions-Preise zu gewinnen und vor allem: den Kindern gerecht zu werden.
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