Inklusion

Gemeinsam lernen, gemeinsam leben

In einer Grundschul-Klasse sitzt ein Junge im Rollstuhl
Bei Inklusion geht es nicht nur um gemeinsames Lernen in der Schule. © dpa picture-alliance / Armin Weigel
Von Alexander Budde |
Bei der sogenannten Inklusion hinkt Deutschland im Vergleich mit anderen europäischen Ländern weiter hinterher. Denn: Inklusion umfasst weit mehr als das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht-behinderten Kindern in der Schule.
Als Mensch mit geistiger Behinderung fordert María Hreiðarsdóttir ein, was für viele ihrer Landsleute selbstverständlich ist. Das Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Recht, eine Familie zu gründen und Kinder großzuziehen. Das Recht auf Bildung und Lebensunterhalt durch Arbeit. So steht es geschrieben in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. 2008 ist das Vertragswerk in Kraft getreten, doch viele Isländer haben noch nie davon gehört. So reist María, alleinerziehende Mutter eines elfjährigen Sohnes, durch das Land. Die 43-Jährige sucht das Gespräch, sie streitet, klärt auf:
"Ich bin jetzt in einem Programm, bei dem ich selbst über meine persönliche Assistenz entscheiden kann, also die Leute selbst anstelle, die zu mir ins Haus kommen, um mich im Alltag zu unterstützen. Auch zähle ich zu den Glücklichen, die sich ihre Wohnung selbst auswählen durften. Viele Menschen mit Behinderungen haben diese Wahlfreiheit nicht. An der Entscheidung, wo und mit wem sie leben wollen, sind sie nicht beteiligt. Und das bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die seelische Gesundheit eines Menschen."
Doch in jüngster Zeit hat die kleine Inselnation bei der inklusiven Teilhabe große Fortschritte gemacht. Beispiele, die auf der Konferenz in Wolfenbüttel diskutiert werden, sind die flexiblen Arbeitszeiten und die vom Staat gewährte finanzielle Entschädigung für pflegende Angehörige.
Italien - 35 Jahre gelebte Inklusion
Ermutigend sind auch die Erfahrungen, die unsere Nachbarn, die Italiener, in mehr als 35 Jahren gelebter Inklusion gesammelt haben. Am Beispiel ihrer Heimatstadt Triest beschreibt Felicitas Kresimon, Chefin einer sozialen Kooperative, wie es funktioniert: Für jedes einzelne der derzeit rund 300 Kinder mit besonderem Förderbedarf wird zu Beginn eines jeden Schuljahres ein Entwicklungsplan aufgelegt. Darüber beraten Arbeitsgruppen aus Klassenlehrern, Pädagogen, Psychologen. Auch die Schüler selbst und ihre Eltern sind eingebunden.
Kresimon: "Das sind oft andere Ziele als im Schuljahr die anderen Kinder haben, aber die laufen dann trotzdem im Programm mit. Das System ist so differenziert gestaltet und die Ressourcen werden so individuell zur Verfügung gestellt, dass es zur Professionalität des Personals gehört, auch zu gucken, wann werden bestimmte Grenzen auch unter Umständen erreicht."
Stoch: Bei uns werden oft Menschen mit Behinderung übergangen. Und es wird für sie gesorgt."
Bemerkt Thomas Stoch, Leiter des Integrations- und Therapiezentrums (ITZ) des Deutschen Roten Kreuzes in Wolfenbüttel. Der Veranstalter der diesjährigen Short-Break-Konferenz bescheinigt der heimischen Debatte einen gewissen Nachholbedarf:
"Ich glaube, dass wird gesellschaftlich auch Auswirkungen haben, wenn wir es wirklich schaffen, nicht nur über Inklusion zu diskutieren und Inklusion nicht nur auf Schule zu münzen, sondern auch wirklich zu verstehen: Inklusion ist die selbstverständliche Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Natürlich ist es nicht immer einfach, aber es passiert auch ganz viel in den Familien, im Freundeskreis."
Helden des Alltags
Colette Daly ist überzeugt, dass mehr Netzwerke von Nöten sind, um pflegenden Angehörigen unter die Arme zu greifen. Daly ist aus der Grafschaft Galway im Westen Irlands angereist. Dort vermittelt sie Gastfamilien, die bereit sind, Kinder mit komplexen Bedürfnissen stundenweise oder für ein Wochenende zu betreuen. Gleich zwei Familien fanden sich, die ihr Zuhause anboten, um den Eltern der 13-jährigen Petrina unter die Arme zu greifen. Die Freunde bauten Rampen ein, übten sich auch im Umgang mit Beatmungsgerät und Magensonde.
"Für Petrina sind das noch mehr Türen hinaus zur Welt. Und die Eltern des Mädchens erzählten uns, sie hätten nun endlich Zeit für einander. Sie können zum Strand gehen oder ein Picknick organisieren. Und auch Peltinas Bruder Joseph darf auch mal sein, was er ist. Ein kleiner Junge mit seinen ganz eigenen Bedürfnissen."
Home-Sharing nennt Daly das Modell. Den Helden des Alltags ermöglicht es kleine Fluchten zum Verschnaufen.
Mehr zum Thema