Inklusion statt Integration
Marion Schick, Kultusministerin in Baden-Württemberg, will mehr behinderte Kinder von den Sonder- in die Regelschulen holen. Dennoch soll am dreigliedrigen Schulsystem nicht gerüttelt werden.
Britta Bürger: Seit gut einem Jahr steht Deutschland in der Pflicht, die unterschriebene UN-Behindertenrechtskonvention in die Praxis umzusetzen. Vom deutschen Schulsystem verlangt das nicht mehr und nicht weniger als den kompletten Umbau. Das Zauberwort der Stunde heißt Inklusion statt Integration oder auch schlichter: eine Schule für alle. Wir wollen uns im Folgenden das Beispiel Baden-Württemberg anschauen, wo mittlerweile fast 30 Prozent aller Kinder mit besonderem Förderbedarf eine Regelschule besuchen. Kurz vor der Sendung habe ich darüber mit Kultusministerin Marion Schick gesprochen und sie zunächst gefragt, worin bislang der gravierendste Umbau des Schulsystems in Baden-Württemberg besteht?
Marion Schick: Wir haben in Baden-Württemberg mit fast 30 Prozent Kindern mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf schon eine hohe Quote, die wir gemeinsam beschulen mit den anderen Jugendlichen, und haben hier schon immer versucht, uns sehr stark an der Vorstellung der Beschulung der Eltern zu orientieren. Mit unserem neuen Vorgehen ab diesem Schuljahr wird die Elternvorstellung aber zum Leitrecht, das heißt die Eltern haben den Erziehungsplan, an dem wir uns orientieren, wenn Sie so wollen, haben wir eine Beweislastumkehr: Nicht die Eltern müssen uns beweisen, dass es geht, gemeinsam beschult zu werden, sondern wir müssten beweisen, dass es nicht geht. Ich halte dies für einen Paradigmenwechsel.
Bürger: Was hat sich denn an den Regelschulen konkret geändert, um jetzt angemessene Bedingungen für alle Schüler zu schaffen? Also das ist ja auch etwas, was Eltern dann überzeugen könnte, diese Eltern, die immer noch denken, an der Sonderschule wird ihr Kind möglicherweise besser gefördert.
Schick: Wir wollen den Eltern nicht eine Linie vorgeben. Das heißt, es wird selbstverständlich Fälle geben, wo die Förderschule tatsächlich das beste Mittel der Wahl ist, um einem jungen Menschen eine optimale Schulbildung zu geben. Denken Sie zum Beispiel an Fälle von schwer, mehrfach körperbehinderten Jugendlichen, die ganz besondere räumliche Voraussetzungen brauchen. Also es ist nicht so, dass Baden-Württemberg sagt, wir wollen die Förderschulen abschaffen oder wir wollen den Eltern einen Weg vorschreiben – nein: Wir werden die Bildungswegekonferenz, also die Diskussion über den Einzelfall im ganzen Land etablieren an allen Schulämtern und wir sagen allen Schulen: Das Thema der inklusiven Beschulung ist ein Thema, das geht jeden an. Es gibt niemand, der sagen kann, das betrifft uns nicht, sondern vor Ort muss die passgenaue Lösung in der Bildungswegekonferenz gefunden werden.
Bürger: Dennoch noch mal die Frage: Was haben Sie schon konkret an den Schulen verändert?
Schick: An den Schulen gibt es ja durch die breite Erfahrung über Außenklassen über gemeinsame Beschulung schon sehr viel Erfahrung, die wir nun den Schulen, die bislang noch keine Erfahrung haben, systematisch zur Verfügung stellen werden. Und die Verpflichtung, die Bildungswegekonferenz einzurichten, wenn Eltern dies wünschen, das ist tatsächlich neu. Gleichwohl ist das für die Schulen natürlich, die bislang noch keine Erfahrung haben, ein breiter und sicher auch langer Weg der Entwicklung des Sichherantastens. Deswegen nehmen wir uns ja auch Zeit bis zu einer Änderung des Schulgesetzes bis zum Schuljahr 2013, um diesen Prozess so zu gestalten, dass möglichst viele Lehrer und Lehrerinnen hier beherzt mitgehen und nicht verschreckt werden durch eine schnelle allgemeingültige Lösung.
Bürger: Bildungsforscher sagen, die Klassenstärke in dieser neuen Schule für alle, die dürfte 16 bis 20 Kinder nicht übersteigen, es müsse eben Tische zum Beispiel geben, unter die selbstverständlich ein Rollstuhl passt, es müsste Lernmaterial in Blindenschrift geben, es sollte ein zweiter Förderlehrer im Unterricht sein. Wie sieht es mit diesen konkreten Punkten aus?
Schick: Wir haben, diese gemeinsame Vorgehensweise von Lehrern und Lehrerinnen haben wir schon in vielen Außenklassen in Baden-Württemberg, dass also ein Lehrer aus der Förderschule mit der Lehrerin der Grundschule zusammen Unterricht macht. Das ist insoweit nichts Neues. Die Folgen für die Schulhausausstattung und die Schulbaugestaltung wollen wir in den nächsten drei Jahren intensiv beobachten. Deswegen hat Baden-Württemberg fünf Erprobungsregionen eingerichtet, in denen wir bereits über das heute geltende Schulgesetz hinausgehen, in denen wir aber auch Erfahrungen sammeln wollen, welche finanzielle Folgen entstehen. Wir müssen ja hier konstruktiv und zielführend mit den Schulträgern zusammenarbeiten, es kann nicht eine Kostenlawine losgetreten werden und deswegen muss man die Einzelfallorientierung, die passgenauen Lösungen auch systemisch sich anschauen: Wann lohnt es sich, wann ist es angezeigt, tatsächlich bauliche Maßnahmen zu machen? Das alles werden wir in den nächsten drei Jahren sehr intensiv erproben.
Bürger: Verfechter des inklusiven Schulmodells sehen die größte Hürde im dreigliedrigen Schulsystem, sie fürchten, dass die meisten Kinder mit besonderem Förderbedarf dann nach der Grundschule doch auf der Haupt- oder Sonderschule landen. Hören wir kurz gemeinsam, Frau Schick, was die Soziologin Lisa Pfahl gestern hier bei uns im "Radiofeuilleton" gesagt hat.
O-Ton Lisa Pfahl: Den Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe, da spielen sich regelmäßig Dramen ab, also wo integrierte Kinder anschließend dann die Sonderschule besuchen müssen. Das liegt mit daran, dass das deutsche gegliederte Schulsystem in Haupt, Real und Gymnasium viel zu starr ist, um flexibel Kinder aufzunehmen und sich ihren Bedürfnissen anzupassen. Also es müsste eine Offene Schule sein, am besten eine gemeinsame Schule, weil dann wüssten die Lehrer jetzt schon, wie sie auch mit unterschiedlichen Leistungsständen umgehen von einem jetzigen Hauptschüler und einem Gymnasiasten, wenn sie die beiden in einer Klasse haben und die beide unterrichten können, dann können sie auch ein lernbehindertes Kind dabei unterrichten oder ein gehbehindertes Kind.
Bürger: Die Aufgabe des dreigliedrigen Schulsystems fordert die Soziologin Lisa Pfahl mit Blick auf ein Schulsystem, in dem Kinder mit unterschiedlichsten Stärken und Schwächen dann gemeinsam unterrichtet werden. Deutschlandradio Kultur ist darüber im Gespräch mit Baden-Württembergs Kultusministerin Marion Schick. Wird sich Ihr Bundesland, Frau Schick, mit Blick auf die Anforderungen, die die UN-Behindertenkonvention stellt, vom dreigliedrigen Schulsystem verabschieden müssen?
Schick: Nein, da gibt es überhaupt keinen Zusammenhang, denn selbstverständlich sind auch unsere Lehrer und Lehrerinnen heute in einem individual orientierten und zieldifferenten Unterricht, wenn Sie so wollen, bestens ausgebildet. Das hat mit der Frage der Gliedrigkeit nichts zu tun. Die Flexibilität, die die Schulen an den Tag legen müssen, das müssen die Schulen an den Tag legen und hier sich weiter öffnen. Die Schulstruktur hat hier keinerlei Einfluss. Es ist hier die Schule, jeder Lehrer, jede Lehrerin und die Eltern, die gemeinsam die besten Lösungen entwickeln müssen. Auf Einzelne einzugehen, das ist ja gerade das Kennzeichen des gegliederten und differenzierten Schulsystems. Also hier einen Zusammenhang herzustellen, da würde man aus Äpfeln und Birnen jetzt einen Kompott herstellen.
Bürger: Aber es gibt Untersuchungen, die sagen, dass Kinder, die in den ersten Jahren inklusiv unterrichtet wurden, nach der Grundschule dann doch auf Sonderschulen oder Hauptschulen kommen. Also man sieht doch, dass noch immer 90 Prozent aller Sonderschüler die Schule ohne qualifizierten Abschluss verlassen, obwohl ein blindes oder gehörloses Kind unter entsprechenden Lernbedingungen durchaus ein tolles Abitur machen könnte?
Schick: Also diese Zahlen gelten mit Sicherheit nicht für Baden-Württemberg, weil wir hier mit bundesweit an der Spitze sind der heute bereits stattfindenden gemeinsamen Beschulung. Man muss ehrlicherweise sicher auch sehen, dass es manchmal Grenzen gibt der gemeinsamen Beschulung, aber selbstverständlich ist das Ziel (und gerade das werden wir im nächsten Schuljahr ja intensiv vorantreiben), ist das Ziel, in der Bildungswegekonferenz für das einzelne Kind die richtige Lösung zu finden. Und wenn hier die Begabungen und die Fähigkeit vorhanden sind, ein Gymnasium zu besuchen, dann wird dieses Kind in Zukunft ein Gymnasium besuchen. Daran werden wir alles setzen.
Bürger: Das schon, nur wenn Sie sehen, dass die Mehrheit der Kinder am Ende der Grundschulzeit nicht die Fähigkeit hat, ein Gymnasium zu besuchen, sondern doch wieder auf der Hauptschule zum Beispiel landet, versperrt man diesen Kindern nicht Chancen, die sie haben könnten, wenn man sie zusammen ließe?
Schick: Baden-Württemberg hat die zweithöchste Quote in Deutschland, was die Gymnasialempfehlungen nach der vierten Klasse Grundschule anbelangt. Wir haben die mit Abstand höchste Übereinstimmung in ganz Deutschland, was die Hauptschulempfehlung anbelangt zwischen der Elterneinschätzung und dem Lehrervotum. Über 90 Prozent der Eltern und Lehrer sind sich einig, wenn eine Hauptschulempfehlung ausgesprochen wird. Wir sehen also und haben nicht das Problem, dass wir hier Schulempfehlungen aussprechen, die völlig an der Realität des einzelnen Kindes und der Einschätzung der Eltern vorbeigehen würde, ganz im Gegenteil. Und diese hohen Übereinstimmungsquoten ermutigen uns natürlich auch dazu zu sagen, das gilt genau so für junge Menschen mit Behinderung. Wir wollen ja nun gerade nicht eine Stigmatisierung einer neuen Gruppe, sondern für diese jungen Menschen gelten die gleichen Chancen und Bildungswege. Und hier sind wir sind wir in Baden-Württemberg startend von einem sehr, sehr guten Niveau der Eltern- und Lehrerübereinstimmung.
Bürger: Inklusion statt Integration, Baden-Württembergs Kultusministerin Marion Schick versucht, mehr Kinder mit besonderem Förderbedarf in die Regelschulen zu holen. Doch am dreigliedrigen Schulsystem will Baden-Württemberg nicht rütteln. Frau Schick, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Schick: Ich danke Ihnen, auf Wiederhören!
Bürger: Wiederhören! Und hinweisen möchte ich noch auf unsere zweistündige Diskussion am kommenden Sonnabend: "Radiofeuilleton" im Gespräch von 9:05 Uhr bis 11:00 Uhr, auch dort geht es um Anspruch und Wirklichkeit in Sachen schulischer Integration und Inklusion. Diskutieren Sie dann mit unseren Gästen im Studio, das sind Wilfried W. Steinert, der Leiter der Waldhofschule in Templin, einer integrativen Grundschule, die gerade den Deutschen Schulpreis bekommen hat, und Eva-Maria Thoms, Gründerin des Vereins "Mittendrin", die selbst Mutter eines behinderten Kindes ist – Sonnabend von neun bis elf, "Radiofeuilleton. Im Gespräch".
Marion Schick: Wir haben in Baden-Württemberg mit fast 30 Prozent Kindern mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf schon eine hohe Quote, die wir gemeinsam beschulen mit den anderen Jugendlichen, und haben hier schon immer versucht, uns sehr stark an der Vorstellung der Beschulung der Eltern zu orientieren. Mit unserem neuen Vorgehen ab diesem Schuljahr wird die Elternvorstellung aber zum Leitrecht, das heißt die Eltern haben den Erziehungsplan, an dem wir uns orientieren, wenn Sie so wollen, haben wir eine Beweislastumkehr: Nicht die Eltern müssen uns beweisen, dass es geht, gemeinsam beschult zu werden, sondern wir müssten beweisen, dass es nicht geht. Ich halte dies für einen Paradigmenwechsel.
Bürger: Was hat sich denn an den Regelschulen konkret geändert, um jetzt angemessene Bedingungen für alle Schüler zu schaffen? Also das ist ja auch etwas, was Eltern dann überzeugen könnte, diese Eltern, die immer noch denken, an der Sonderschule wird ihr Kind möglicherweise besser gefördert.
Schick: Wir wollen den Eltern nicht eine Linie vorgeben. Das heißt, es wird selbstverständlich Fälle geben, wo die Förderschule tatsächlich das beste Mittel der Wahl ist, um einem jungen Menschen eine optimale Schulbildung zu geben. Denken Sie zum Beispiel an Fälle von schwer, mehrfach körperbehinderten Jugendlichen, die ganz besondere räumliche Voraussetzungen brauchen. Also es ist nicht so, dass Baden-Württemberg sagt, wir wollen die Förderschulen abschaffen oder wir wollen den Eltern einen Weg vorschreiben – nein: Wir werden die Bildungswegekonferenz, also die Diskussion über den Einzelfall im ganzen Land etablieren an allen Schulämtern und wir sagen allen Schulen: Das Thema der inklusiven Beschulung ist ein Thema, das geht jeden an. Es gibt niemand, der sagen kann, das betrifft uns nicht, sondern vor Ort muss die passgenaue Lösung in der Bildungswegekonferenz gefunden werden.
Bürger: Dennoch noch mal die Frage: Was haben Sie schon konkret an den Schulen verändert?
Schick: An den Schulen gibt es ja durch die breite Erfahrung über Außenklassen über gemeinsame Beschulung schon sehr viel Erfahrung, die wir nun den Schulen, die bislang noch keine Erfahrung haben, systematisch zur Verfügung stellen werden. Und die Verpflichtung, die Bildungswegekonferenz einzurichten, wenn Eltern dies wünschen, das ist tatsächlich neu. Gleichwohl ist das für die Schulen natürlich, die bislang noch keine Erfahrung haben, ein breiter und sicher auch langer Weg der Entwicklung des Sichherantastens. Deswegen nehmen wir uns ja auch Zeit bis zu einer Änderung des Schulgesetzes bis zum Schuljahr 2013, um diesen Prozess so zu gestalten, dass möglichst viele Lehrer und Lehrerinnen hier beherzt mitgehen und nicht verschreckt werden durch eine schnelle allgemeingültige Lösung.
Bürger: Bildungsforscher sagen, die Klassenstärke in dieser neuen Schule für alle, die dürfte 16 bis 20 Kinder nicht übersteigen, es müsse eben Tische zum Beispiel geben, unter die selbstverständlich ein Rollstuhl passt, es müsste Lernmaterial in Blindenschrift geben, es sollte ein zweiter Förderlehrer im Unterricht sein. Wie sieht es mit diesen konkreten Punkten aus?
Schick: Wir haben, diese gemeinsame Vorgehensweise von Lehrern und Lehrerinnen haben wir schon in vielen Außenklassen in Baden-Württemberg, dass also ein Lehrer aus der Förderschule mit der Lehrerin der Grundschule zusammen Unterricht macht. Das ist insoweit nichts Neues. Die Folgen für die Schulhausausstattung und die Schulbaugestaltung wollen wir in den nächsten drei Jahren intensiv beobachten. Deswegen hat Baden-Württemberg fünf Erprobungsregionen eingerichtet, in denen wir bereits über das heute geltende Schulgesetz hinausgehen, in denen wir aber auch Erfahrungen sammeln wollen, welche finanzielle Folgen entstehen. Wir müssen ja hier konstruktiv und zielführend mit den Schulträgern zusammenarbeiten, es kann nicht eine Kostenlawine losgetreten werden und deswegen muss man die Einzelfallorientierung, die passgenauen Lösungen auch systemisch sich anschauen: Wann lohnt es sich, wann ist es angezeigt, tatsächlich bauliche Maßnahmen zu machen? Das alles werden wir in den nächsten drei Jahren sehr intensiv erproben.
Bürger: Verfechter des inklusiven Schulmodells sehen die größte Hürde im dreigliedrigen Schulsystem, sie fürchten, dass die meisten Kinder mit besonderem Förderbedarf dann nach der Grundschule doch auf der Haupt- oder Sonderschule landen. Hören wir kurz gemeinsam, Frau Schick, was die Soziologin Lisa Pfahl gestern hier bei uns im "Radiofeuilleton" gesagt hat.
O-Ton Lisa Pfahl: Den Wechsel von der Grundschule in die Sekundarstufe, da spielen sich regelmäßig Dramen ab, also wo integrierte Kinder anschließend dann die Sonderschule besuchen müssen. Das liegt mit daran, dass das deutsche gegliederte Schulsystem in Haupt, Real und Gymnasium viel zu starr ist, um flexibel Kinder aufzunehmen und sich ihren Bedürfnissen anzupassen. Also es müsste eine Offene Schule sein, am besten eine gemeinsame Schule, weil dann wüssten die Lehrer jetzt schon, wie sie auch mit unterschiedlichen Leistungsständen umgehen von einem jetzigen Hauptschüler und einem Gymnasiasten, wenn sie die beiden in einer Klasse haben und die beide unterrichten können, dann können sie auch ein lernbehindertes Kind dabei unterrichten oder ein gehbehindertes Kind.
Bürger: Die Aufgabe des dreigliedrigen Schulsystems fordert die Soziologin Lisa Pfahl mit Blick auf ein Schulsystem, in dem Kinder mit unterschiedlichsten Stärken und Schwächen dann gemeinsam unterrichtet werden. Deutschlandradio Kultur ist darüber im Gespräch mit Baden-Württembergs Kultusministerin Marion Schick. Wird sich Ihr Bundesland, Frau Schick, mit Blick auf die Anforderungen, die die UN-Behindertenkonvention stellt, vom dreigliedrigen Schulsystem verabschieden müssen?
Schick: Nein, da gibt es überhaupt keinen Zusammenhang, denn selbstverständlich sind auch unsere Lehrer und Lehrerinnen heute in einem individual orientierten und zieldifferenten Unterricht, wenn Sie so wollen, bestens ausgebildet. Das hat mit der Frage der Gliedrigkeit nichts zu tun. Die Flexibilität, die die Schulen an den Tag legen müssen, das müssen die Schulen an den Tag legen und hier sich weiter öffnen. Die Schulstruktur hat hier keinerlei Einfluss. Es ist hier die Schule, jeder Lehrer, jede Lehrerin und die Eltern, die gemeinsam die besten Lösungen entwickeln müssen. Auf Einzelne einzugehen, das ist ja gerade das Kennzeichen des gegliederten und differenzierten Schulsystems. Also hier einen Zusammenhang herzustellen, da würde man aus Äpfeln und Birnen jetzt einen Kompott herstellen.
Bürger: Aber es gibt Untersuchungen, die sagen, dass Kinder, die in den ersten Jahren inklusiv unterrichtet wurden, nach der Grundschule dann doch auf Sonderschulen oder Hauptschulen kommen. Also man sieht doch, dass noch immer 90 Prozent aller Sonderschüler die Schule ohne qualifizierten Abschluss verlassen, obwohl ein blindes oder gehörloses Kind unter entsprechenden Lernbedingungen durchaus ein tolles Abitur machen könnte?
Schick: Also diese Zahlen gelten mit Sicherheit nicht für Baden-Württemberg, weil wir hier mit bundesweit an der Spitze sind der heute bereits stattfindenden gemeinsamen Beschulung. Man muss ehrlicherweise sicher auch sehen, dass es manchmal Grenzen gibt der gemeinsamen Beschulung, aber selbstverständlich ist das Ziel (und gerade das werden wir im nächsten Schuljahr ja intensiv vorantreiben), ist das Ziel, in der Bildungswegekonferenz für das einzelne Kind die richtige Lösung zu finden. Und wenn hier die Begabungen und die Fähigkeit vorhanden sind, ein Gymnasium zu besuchen, dann wird dieses Kind in Zukunft ein Gymnasium besuchen. Daran werden wir alles setzen.
Bürger: Das schon, nur wenn Sie sehen, dass die Mehrheit der Kinder am Ende der Grundschulzeit nicht die Fähigkeit hat, ein Gymnasium zu besuchen, sondern doch wieder auf der Hauptschule zum Beispiel landet, versperrt man diesen Kindern nicht Chancen, die sie haben könnten, wenn man sie zusammen ließe?
Schick: Baden-Württemberg hat die zweithöchste Quote in Deutschland, was die Gymnasialempfehlungen nach der vierten Klasse Grundschule anbelangt. Wir haben die mit Abstand höchste Übereinstimmung in ganz Deutschland, was die Hauptschulempfehlung anbelangt zwischen der Elterneinschätzung und dem Lehrervotum. Über 90 Prozent der Eltern und Lehrer sind sich einig, wenn eine Hauptschulempfehlung ausgesprochen wird. Wir sehen also und haben nicht das Problem, dass wir hier Schulempfehlungen aussprechen, die völlig an der Realität des einzelnen Kindes und der Einschätzung der Eltern vorbeigehen würde, ganz im Gegenteil. Und diese hohen Übereinstimmungsquoten ermutigen uns natürlich auch dazu zu sagen, das gilt genau so für junge Menschen mit Behinderung. Wir wollen ja nun gerade nicht eine Stigmatisierung einer neuen Gruppe, sondern für diese jungen Menschen gelten die gleichen Chancen und Bildungswege. Und hier sind wir sind wir in Baden-Württemberg startend von einem sehr, sehr guten Niveau der Eltern- und Lehrerübereinstimmung.
Bürger: Inklusion statt Integration, Baden-Württembergs Kultusministerin Marion Schick versucht, mehr Kinder mit besonderem Förderbedarf in die Regelschulen zu holen. Doch am dreigliedrigen Schulsystem will Baden-Württemberg nicht rütteln. Frau Schick, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Schick: Ich danke Ihnen, auf Wiederhören!
Bürger: Wiederhören! Und hinweisen möchte ich noch auf unsere zweistündige Diskussion am kommenden Sonnabend: "Radiofeuilleton" im Gespräch von 9:05 Uhr bis 11:00 Uhr, auch dort geht es um Anspruch und Wirklichkeit in Sachen schulischer Integration und Inklusion. Diskutieren Sie dann mit unseren Gästen im Studio, das sind Wilfried W. Steinert, der Leiter der Waldhofschule in Templin, einer integrativen Grundschule, die gerade den Deutschen Schulpreis bekommen hat, und Eva-Maria Thoms, Gründerin des Vereins "Mittendrin", die selbst Mutter eines behinderten Kindes ist – Sonnabend von neun bis elf, "Radiofeuilleton. Im Gespräch".