"Von Bildungsgerechtigkeit sind wir weit entfernt"
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Wie lernen Kinder im Lockdown? Webcam an, Risikogruppen raus? Der Sonderpädagoge Menno Baumann warnt vor einem Rückschritt in Sachen Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Was sagen Lehrer, Eltern und Schüler selbst?
"Corona hat die Schwachstellen der Inklusion aufgezeigt", sagt Menno Baumann, Sonderpädagoge und Professor an der Fliedner-Fachhochschule in Düsseldorf. "Mich erschreckt, mit welcher Selbstverständlichkeit zurzeit Risikogruppen aus allen Prozessen rausgenommen werden. Dass man laut aussprechen darf: Dann sollen doch die, die Angst haben, zu Hause bleiben."
Dass der gemeinsame Unterricht während der Pandemie schwieriger geworden sei, dürfe nicht heißen, dass die Inklusion ganz gestrichen werde. "Wir müssen aufpassen, dass wir da keinen Rückwärtssalto machen und uns die Pandemie zurückwirft. Wir müssen hier viel sensibler werden, was genau heißt Inklusion für wen?"
An seinem Lehrstuhl für Intensivpädagogik erforscht Baumann die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf behinderte und kranke Schüler. Das Ergebnis ist ernüchternd: Kinder und Jugendliche, die wegen einer meist geistigen Behinderung die Corona-Regeln wie Maske tragen oder Abstand halten nicht einhalten können, seien schlicht vom Unterricht ohne Alternativangebot für Bildung und Tagesstruktur ausgeschlossen worden.
Außerdem hätten Schulbegleiter die Schulen als "externe Erwachsene" teilweise nicht betreten dürfen, was ebenfalls zum Ausschluss der Schüler geführt habe. Und Kinder mit körperlichen Behinderungen oder chronischen Erkrankungen hätten genau zwei Alternativen gehabt: "Entweder Regelbeschulung ohne besondere Schutzmaßnahmen oder die Befreiung von der Regelbeschulung durch Attest eines Kinderarztes."
"Am stärksten bemängle ich allerdings neben fehlender unterrichtlicher und sozialpädagogischer Versorgung der zu Hause befindlichen Schüler die fehlende Partizipation der Eltern in der Entscheidung", sagt Baumann.
Strategien fürs Lernen im Krisenmodus
Mit der mangelnden Einbeziehung der Personen, um die es eigentlich geht, nämlich die betroffenen Schüler und ihre Eltern, hatte Lukas während seiner gesamten Lernbiografie zu kämpfen. Wegen einer langjährigen, lebensbedrohlichen Krankheit hat der Schüler, der lieber anonym bleiben will, jahrelang zwischen Krankenhaus, Klinikschule und Regelschule gewechselt.
Nur der außerordentlichen persönlichen und bürokratischen Anstrengung seiner Mutter hat Lukas es zu verdanken, dass er nun an einer Regelschule Abitur machen kann. Wegen Corona muss er sich sein gesamtes letztes Schuljahr von zu Hause aus erarbeiten.
Auf Twitter teilt Lukas als Katheterkarambolage, was auch gesunde Schüler von ihm lernen können: Welche Strategien helfen, wenn es wenig Unterstützung durch Schule und Lehrer gibt.
Aber einiges ist für ihn auch leichter geworden dank Corona: Vor Corona habe Lukas die wenige Energie, die er wegen der Krankheit zur Verfügung hatte, oft mit der Suche nach verlässlichen Quellen und Unterrichtsmaterialien verbringen müssen. "Jetzt kann ich mehr Energie ins Lernen selbst stecken, weil Lernplattformen an Schulen und Nachhilfeinstituten ihre Unterlagen kostenfrei zur Verfügung stellen."
An den Schulen gebe es Zoom-Meetings, Onlineunterricht und Moodles. "Es werden generell plötzlich Dinge möglich, die meiner Mutter und mir in der Vergangenheit von meinen vorherigen Schulen als 'zu großer Aufwand' benannt wurden", schreibt Lukas auf dem Blog "Krisenclub".
"Das ist alles toll und macht mich glücklich, weil ich sehe, dass es doch irgendwie geht. Aber es hinterlässt auch einen bitteren Geschmack. Jetzt betrifft es die Mehrheit, plötzlich müssen alle verstehen, wie es ist, wenn man bildungstechnisch Nachteile erfährt. In so kurzer Zeit wurde so viel erreicht. Warum nicht schon vorher?"
Lukas wünscht sich, dass diese Angebote bleiben und die Nachhilfeplattformen immerhin für eine kleine Minderheit, kranke Schüler wie ihn, weiterhin kostenfrei zugänglich bleiben.
Lukas selbst vermisse den Kontakt zu seinen Klassenkameraden zwar nicht allzu sehr, weil er damit gut klarkomme, alleine zu Hause zu lernen, und online mit seinen Freunden verbunden sei. "Aber ich kann mir schon vorstellen, dass es bei einem Großteil der anderen Kinder und Jugendlichen ganz anders aussehen wird."
Die Corona-Regeln werden gut akzeptiert
Zita Schneider (Name geändert) ist Lehrerin in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Alleine lernen müssen die Schüler in ihrer Klinikschule nur, wenn es einen Corona-Fall auf Station gebe. Ansonsten habe Corona den Alltag hier wenig verändert, berichtet Schneider.
"Die Pausen finden nicht mehr auf dem Schulhof statt, sondern auf der jeweiligen Station. Die Corona-Maßnahmen werden in der Regel von allen sehr gut akzeptiert. Natürlich gibt es aufgrund von verschiedenen Erkrankungen Schwierigkeiten, alle Regeln genauestens einhalten zu können."
"Die Heimatschulen, an denen die Kinder und Jugendlichen normalerweise sind, sind nun digital so aufgestellt, dass sie viel schneller Unterrichtsmaterialien übermitteln können", sagt Schneider. "Viele Schulen verfügen auch über eine Lernplattform, die Schülerinnen direkt nutzen können, sobald sie bei mir in der Klasse sind. Dadurch haben sie das Gefühl, weiter am Geschehen der eigenen Klasse teilzuhaben, und fühlen sich dadurch noch einmal mehr motiviert."
Exklusion statt individuelle Förderung
Für die 13-jährige Judith bedeutet Corona nun zum zweiten Mal den kompletten Ausschluss aus der Schule. Sie hat einen seltenen Chromosomendefekt, ist schwer mehrfachbehindert, hat chronische Krankheiten und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Wenn der Pflegedienst wegfällt, der Judith zur Schule begleitet, springt ihre Mutter ein, um die pflegerischen Aufgaben zu übernehmen.
Während der Pandemie bleibt Judith wegen ihrer Infektanfälligkeit nun auf unabsehbare Zeit zu Hause. Eine Herausforderung für die Familie, trotz der Erfahrung, die sie mit dieser Situation hat, weil Judith wegen ihrer Krankheit oft länger zu Hause bleiben musste. Auf ihrem Blog und auf Twitter als dasbewegteleben schreibt Anne Hawranke über ihren Alltag, der nicht nur immer schwierig ist.
"Der letzte Lockdown hat gezeigt, dass sie auch Anforderungen und kognitiven Anspruch braucht. Wir werden zusammen mit dem Pflegedienst, der vormittags da ist, überlegen, wie wir den Tag strukturieren, damit sie einen Rhythmus hat und nicht ganz im Bodenlosen zu Hause umherschwirrt."
Aber Judith vermisse die Schule sehr, berichtet Hawranke. "Sie hat Verständnis dafür, dass es jetzt nicht geht, aber sie ist darüber auch traurig." Während des ersten Lockdowns habe sich ihre Tochter sehr zurückgezogen.
"Von Bildungsgerechtigkeit sind wir weit entfernt!"
Eltern werden in solchen Fällen nicht ausreichend unterstützt, sagt Menno Baumann. "Von Bildungsgerechtigkeit sind wir weit entfernt. Wenn die Eltern unterstützen können, hat ein junger Mensch Glück. Wenn die Eltern das aber nicht können, weil zum Beispiel der Arbeitsplatz unsicher ist und die wirtschaftliche Perspektive der Familie nicht gesichert ist, setzt einen so eine Phase massiv unter Druck."
Gerade wenn Kinder zum Beispiel bei Atemwegserkrankungen bisher die Regelschule besuchen könnten, jetzt plötzlich Risikopatienten würden, oder Angehörige hätten, die Risikopatienten seien, gebe es keine ausreichende Unterstützung.
"Da lag die Versorgung seit Jahren im Argen. Aber es war bisher eine kleine Gruppe, die wird bereitwillig ignoriert. Jetzt haben wir die Situation, dass es plötzlich sehr viele Menschen betrifft und sichtbar wird."
"Wir müssen weg vom Schubladendenken", sagt Baumann. "Ich halte einen Inklusionsbegriff, der sich auf alle Kinder zur gleichen Zeit im selben Klassenraum bezieht, für zu einfach. Spannend ist die Frage der Teilhabe. Zum Beispiel, dass die Schüler über eine Webcam am Unterricht oder eine Chatfunktion an Gruppenarbeit teilnehmen können."
Das ginge vielleicht nicht in allen Fällen, aber: "Viele Kinder und Jugendliche wären in der Lage, in die Prozesse der Schule eingebunden zu sein, auch wenn sie sich in einer Klinik aufhalten oder sich aufgrund der COVID-19-Pandemie zurzeit zu Hause bleiben müssen. Diese Potenziale schöpfen wir im Moment nicht aus."
Was Distanzunterricht, Lernplattformen, über die Unterrichtsmaterialien zur Verfügung gestellt werden können, seien in der Pandemie jetzt die ersten Schritte getan. "Darin liegt auch eine Chance für Kinder, die bisher nicht die Regelschule besuchen konnten." Das Wichtigste sei aber, gemeinsam mit den Beteiligten individuelle Lösungen zu finden.