Innenansichten aus dem Gottesstaat

Rezensiert von Rudolf Walther |
Der englische Journalist Christopher de Bellaigue ist seit 1999 mit einer Iranerin verheiratet, spricht fließend Persisch und lebt in der islamischen Republik. Seine Sprach- und Kulturkenntnisse erlauben ihm Einblicke in die Alltagswelt des Iran. In seinem Buch kommen Veteranen des Golfkriegs gegen den Irak ebenso zu Wort wie Anhänger Chomeinis.
In Teheran kann es einem passieren, dass ein Taxifahrer auf die Frage, was die Fahrt im Sammeltaxi koste, antwortet:

"Seien Sie mein Gast!"

Beharrt jedoch der weibliche Fahrgast darauf, die Fahrt zu bezahlen, verlangt der Fahrer überzogene 75 Toman, was den eben noch eingeladenen Gast empört:

"Ich habe erst vor zwei Tagen 50 bezahlt. Ich gebe Ihnen nicht mehr als 50."

Nachdem die Frau dem Fahrer wütend 50 Toman in den Wagen geworfen hat, sagt der Taxifahrer zum mitfahrenden Ausländer:

"Was auch immer Sie tun, heiraten Sie keine Iranerin."

An diesen Rat hielt sich der englische Journalist Christopher de Bellaigue, der für den "Economist" und für den "New Yorker" arbeitet, nicht. Er ist seit 1999 mit einer Iranerin verheiratet, lebt im Iran und spricht fließend Persisch bzw. Farsi. Seine Sprach- und Kulturkenntnisse erlauben es ihm, die eingangs beschriebene Szene im Taxi zu verstehen und zu interpretieren. Es handelt sich dabei keineswegs um eine gewöhnliche Feilscherei, sondern um das, was "Ta’aruf" heißt, und im Arabischen ein angemessenes oder übliches Betragen meint. Das Persische übernahm das Wort - wie viele andere - mit einer semantischen Verschiebung:

"Im Iran hat es seine Bedeutung verändert und bedeutet zeremonielle Unaufrichtigkeit. Aber nicht im negativen Sinn. Iran ist das einzige mir bekannte Land, in dem Heuchelei als gesellschaftliche und geschäftliche Fähigkeit geschätzt wird."

Als die Mutter seines Gesprächspartners Sadegh Zarif, mit dem der Autor fast freundschaftlichen Umgang hatte, starb, wurde Bellaigue davon unterrichtet. Er ging zum Gedenkgottesdienst und wurde höflich begrüßt. Nach einigen Minuten kam der Sohn Zarifs auf Bellaigue zu und flüsterte ihm ins Ohr:

"Mein Vater möchte wissen, ob es irgendetwas gibt, das wir für Sie tun können."

Das war, wie Bellaigue von seiner Frau erfuhr, die dasselbe zu hören bekam, eine höfliche Aufforderung, den Gedenkgottesdienst zu verlassen.

Christopher de Bellaigue möchte erfahren und verstehen, was im Iran seit der Revolution von 1979 passiert ist. Er hält sich mit schnellen Urteilen zurück und berichtet über seine Reisen durch das Land, über seine Beobachtungen und Erfahrungen, vor allem aber über seine Gespräche mit Personen ganz unterschiedlicher Herkunft und Bildung.

Zu seinen Gesprächspartnern gehören vor allem Veteranen der revolutionären Bewegung und des fürchterlichen Krieges zwischen 1980 und 1988. Dem vom Westen unterstützten Aggressor Irak stand damals der vom revolutionär-islamischen Furor erfasste Iran gegenüber. Bellaigue erzählt die Geschichte der verführten und betrogenen Veteranen mit großem Einfühlungsvermögen, aber auch mit Distanz. Er weiß, dass insbesondere im Umgang mit Ausländern immer auch "Ta’aruf" - zeremonielle Heuchelei - im Spiel ist.

Das Buch bietet nicht nur Erfahrungsberichte, sondern auch Einblicke in die jüngere Geschichte des Landes vor dem Hintergrund der Biografien seiner Gesprächspartner. Der bereits erwähnte Zarif war noch Schüler, als der Schah am 17.Januar 1979 das Land verließ. Der aus dem Exil zurückgekehrte Imam Ruhollah Chomeini war für Zarif - wie auch große Teile der Bevölkerung - gleichbedeutend mit dem Versprechen, soziale Gerechtigkeit im Namen des Islam zu verwirklichen. Bellaigue beschreibt die Stimmungslage der Chomeini-Anhänger so:

"Sie waren Liebende. Sie liebten die Wahrheit. Sie liebten Gott und den Propheten. Sie liebten den Imam und die Geistlichen in seiner Umgebung... Aber mehr als alles andere liebten sie ihre Feinde - die Liberalen und Marxisten, die Amerikaner und die britischen Agenten. Und natürlich die Zionisten. Sie würden sie mit ihrer Liebe vernichten."

Sie waren bereit zu kämpfen, ja zu morden, aber auch zu sterben für eine Sache, die sie fatalerweise für die ihre hielten, die jedoch längst nur noch die von verbrecherischen Eliten war.

Das Mullah-Regime beutete die Begeisterung unter den jungen Freiwilligen, den basidschis, gewissenlos aus und verheizte Hunderttausende von militärisch ahnungslosen und schlecht ausgerüsteten Soldaten auf den Schlachtfeldern. Chomeinis fromme und patriotische Radioansprachen brachten - wie Veteranen berichten - am Anfang des Krieges ganze Regimenter zum Weinen. Junge Mädchen schworen sich gegenseitig darauf ein, dereinst verwundete Soldaten zu heiraten.

Die Begeisterung kippte, als Chomeini und seine Getreuen einen möglichen Waffenstillstand ablehnten und sich dafür auf einen dubiosen Deal mit dem "Satan" (USA) einließen. Der Erlös aus geheimen Waffengeschäften mit dem Iran wurde vom Pentagon zum Freikauf von amerikanischen Geiseln und zur illegalen Unterstützung der rechtsgerichteten "Contras" in Nicaragua verwendet.

Bellaigue besuchte Opfer von irakischen Giftgasgranaten - die mit westlichem, insbesondere deutschem Know-How produziert worden waren - und erzählt vom qualvollen Martyrium der Betroffenen. Allein in Isfahan gibt es rund 8000. Die iranische Kriegsführung lag weniger in den Händen von Offizieren, als in denen von Mullahs und Seminaristen. Und diese waren, so Bellaigue,

"stolz auf ihre Ignoranz in militärischen Dingen."

Im Zeichen von Ignoranz und theologisch inspiriertem Revolutionsexport kam es zum Beispiel zur Operation "Kerbala 4", d.h. zum Versuch, über den persischen Golf und Basra nach Kerbela, dem Wallfahrtsort der Schiiten, vorzudringen. An einem einzigen Tag kamen bei einem Sturmangriff im Stil der Grabenkriege des Ersten Weltkriegs 9000 basidschis ums Leben. In kalkulierter Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben feierten die Mullahs die Toten als Märtyrer:

"Und in Teheran wurde der Sieg verkündet."

Der Märtyrer-Kult nahm groteske Züge an. Fragt man in Teheran nach einer Straße, kann man etwa Folgendes hören:

"Da müssen Sie die Märtyrer Abbasian Straße hinuntergehen, nach rechts in die Märtyrer Araki Straße einbiegen, und dann, gleich nach dem Märtyrer Paki Krankenhaus, links gehen..."

Der Autor beschreibt jedoch nicht nur die Degeneration der Revolution und die Herrschaft korrupter Kriegsgewinnler in der Islamischen Republik. Darüber hinaus verweist er in instruktiven historischen und theologischen Exkursen auf weiter zurückliegende Entwicklungen. Dazu gehört die Lockerung der Bande zwischen Staat und schiitischem Islam im 19. Jahrhundert.

Die Gläubigen unterwarfen sich damals der Autorität der Mojtaheds. Das Wort bedeutet wörtlich "Objekt der Nachahmung". Die Mojtaheds waren bloß Vorbilder und hatten unbeschränkte Macht nur über Waisen und Behinderte. In einem theologischen Gewaltakt erklärte Chomeini die iranische Gesellschaft zu Waisenkindern und sich selbst und die Geistlichen zu deren Vormündern. Diese beanspruchten die oberste Gewalt und verrieten, was Chomeini selbst wörtlich versprochen hatte:

"einen islamischen Staat, einen demokratischen Staat im wahren Sinne dieses Wortes."

Das im Ganzen solide und informative Buch enthält einige problematische Passagen. Wie in allen Diktaturen spielen auch in der Islamischen Republik Geheimdienste eine wichtige Rolle. Deren tatsächliche Bedeutung zu beurteilen, ist ein Balanceakt, weil die Informationsbasis schmal ist. Christopher de Bellaigue stürzt dabei ab und verliert sich in Spekulationen, Verschwörungstheorien und seltsamen Konstrukten. Von seinem Gewährsmann, der zwei Bücher über politische Morde im Iran geschrieben hat, sagt Bellaigue selbst:

"Was er sagte, klang, als sei er ein bisschen verrückt."

Das ist keine seriöse Basis, aber die darauf beruhenden Passagen des Buches tangieren die analytisch und erzählerisch gelungenen Teile nicht.


Christopher de Bellaigue: Im Rosengarten der Märtyrer - Ein Porträt des Iran
Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser
C.H. Beck Verlag, München 2006
Christopher de Bellaigue: Im Rosengarten der Märtyrer - Ein Porträt des Iran (Coverausschnitt)
Christopher de Bellaigue: Im Rosengarten der Märtyrer - Ein Porträt des Iran (Coverausschnitt)© C.H. Beck Verlag