Von Organhandel bis Homophobie und Machismo
Jeton Neziraj gilt als "Kafka des Balkan" - ein innovativer Theatermacher aus dem Kosovo, dessen Stücke auch in Deutschland aufgeführt werden. Entwickelt im "Qendra Multimedia", lösen sie hitzige Debatten aus und versöhnen gleichzeitig im jüngsten Land Europas.
Die Fahrt zum "Qendra Multimedia" zeigt nicht gerade die schönsten Ecken Pristinas: verwohnte Neubausiedlungen, windige Straßenschluchten, staubige Treppenaufgänge und Bürgersteige.
Genau hier, in diesem heruntergekommenen Hochhausviertel am Rande der kosovarischen Hauptstadt, liegt er – der produktivste Theaterort des jungen Landes.
Der Eingang wäre ohne Hinweise Ortskundiger kaum zu finden – zu viele verbeulte Geländewagen stehen kreuz und quer geparkt vor der niedrigen schwarzen Tür. Über der prangt in schlichten Blockbuchstaben der Name "Qendra" – übersetzt: Zentrum.
Drinnen im Vorraum ist es eng und stickig. Dicker Zigarettenrauch liegt in der Luft, die Reste eines Kuchens und viele Kaffeebecher stehen auf dem Tisch; einige der Schauspielerinnen machen gerade Pause; albanische Satzfetzen fliegen laut und energisch hin und her.
Hier, im "Qendra Multimedia", ist Jeton Neziraj Hausherr. In dem angrenzenden kleinen, fensterlosen Bühnen- und Probensaal arbeitet der dunkelhaarige Mitvierziger mit der eckigen Intellektuellenbrille und dem Dreitagebart derzeit an seiner jüngsten Tragikomödie.
In Anlehnung an eine international bekannte Erotikschmonzette hat der bekannteste Bühnenautor des Kosovo das Stück "55 Shades of Gay" betitelt und sich – wie immer – ein gesellschaftlich besonders brisantes Thema gesucht: Die weit verbreitete Homophobie der kosovo-albanischen Gesellschaft. Und wie immer verarbeitet Jeton Neziraj seine kritische Haltung auf Albanisch und mit der Schöpfung absurd-ironischer Szenen.
"Ironie hilft mir, in dieser Gesellschaft und dieser Realität zu überleben – als Mensch und Schriftsteller. Außerdem ist es eine Möglichkeit, über schwierige Themen zu schreiben. Würde man Dinge wie Homophobie, Sexismus, häusliche Gewalt oder auch Organhandel. direkt benennen, könnte es für das Publikum sehr schmerzhaft werden. Durch Ironie kann man vieles andeuten, die Leute lachen und sie verstehen trotzdem den Punkt, um den es geht."
Organhandel auf der Bühne
Ein Stück, in dem sich zahlreiche typisch kosovarische Konflikte wiederfinden, trägt den ungewöhnlichen Titel "Carla del Ponte trinkt in Pristina einen Vanilla Chai Latte". Inszeniert hat es der deutsche Choreograf Jochen Roller; nach der Premiere im Nationaltheater in Pristina wurde es auch an verschiedenen deutschen Theatern gezeigt.
In furiosen Textkaskaden wirbelt Jeton Neziraj verschiedene Streitthemen seines Landes durcheinander: ethnische Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Serben, hohe Arbeitslosigkeit, brutaler Organhandel und die paternalistische Dominanz internationaler Nichtregierungsorganisationen im Kosovo. Manche davon kennt der ruhige, trotzdem immer zu einem ironischen Wortwechsel aufgelegte Autor aus eigener, langjähriger Erfahrung.
"Im Kosovo hat jeder hat seine eigene Agenda. Die NGO’s haben ihre, wir haben unsere. Aber wenn man nicht die Agenda einer internationalen NGO bedient und sich z.B. dem Thema Menschenrechte annimmt, kann man jegliche Unterstützung durch sie vergessen. Es war ein langer Kampf, potenzielle Geldgeber davon zu überzeugen, uns zu unterstützen. Wir mussten, wie alle anderen, ständig blöde Bewerbungen schreiben, in denen wir versicherten, Frauen zu bevorzugen, einen Frauenanteil von mindestens 50 Prozent und all' diesen anderen formalen Quatsch zu garantieren – nur, um am Ende doch die Dinge zu tun, die wir für wichtig und richtig halten, weil die eine viel größere Wirkung zeigen als diese simple Propaganda, mit der sich die meisten NGOs öffentlich präsentieren wollen."
Und das heißt für Jeton Neziraj: statt sich politisch und pädagogisch korrekt den wichtigen Problemen des Landes zuzuwenden, produziert er mit dem "Qendra Multimedia" lieber absurdes Theater. Hier ein Ausschnitt aus den Proben:
"Wir müssen wissen, wem diese Niere gehört. Denn die Niere eines Weißen ist mehr wert als die Niere eines Schwarzen; die Niere eines Europäers ist mehr wert als die eines Inders und die eines Serben mehr als die eines Albaners."
Chefanklägerin als Persona Non Grata im Kosovo
Das Thema Organhandel, das Jeton Neziraj in seinem Stück "Carla del Ponte trinkt in Pristina einen Vanilla Chai Latte" aufnimmt, hat im Kosovo eine besondere Sprengkraft.
Der Hintergrund: In den 2000er Jahren, als nach Kriegsende die Vereinten Nationen mit ihren Organisationen das kleine Land fluteten, wurden ehemalige UCK-Kämpfer bezichtigt, serbischen Kriegsgefangen nach und nach Organe entnommen zu haben. Die damalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs Carla de Ponte hatte sich dieser Untersuchung persönlich angenommen.
Dass sie nicht nur serbische Kriegsverbrecher, sondern auch Mitglieder der Befreiungsarmee des Kosovo jagen ließ, hat sie bis heute in weiten Teilen der kosovarischen Gesellschaft zur Persona Non Grata werden lassen.
Jeton Neziraj dagegen macht ganz bewusst gerade diese ambivalente historische Persönlichkeit zur zentralen Figur seines anspielungsreichen Textes und lässt darüber hinaus die Zuschauer selbst entscheiden, ob sie Carla del Ponte als positiven oder negativen Charakter bewerten wollen.
Als junger Dichter hat Jeton Neziraj im Krieg zwischen Kosovaren und Serben Propagandatexte für die UCK geschrieben. Heute setzt er sich vehement für eine Annäherung beider Bevölkerungsgruppen ein.
"Ich werde häufig als ‚Ironiker’ bezeichnet; sogar in dem deutschen Theatermagazin ‚Theater der Zeit’ stand das letztens. Aber eigentlich habe ich eine ganze Weile gebraucht, um über dramatische Ereignisse in ironischer oder sogar zynischer Weise zu schreiben. Nach Kriegsende war ich erst einmal sehr pathetisch und es war mir unmöglich, die Vergangenheit aus verschiedenen Sichtweisen zu betrachten, so wie ich es heute tue. Aber auch in meinen aktuellen Stücken ist unter dem Humor das Drama stets präsent."
Z.B. in der Szene "Run Lola Run", in der der Autor einen Organspender sterben lässt, weil sein Krankenwagen trotz Blaulicht an einer Marathonabsperrung nicht weiterfahren kann. Erst müsse der Marathonlauf beendet werden, versichert der Polizist dem Krankenwagenfahrer. Und fügt hinzu: "Der Kosovo braucht heute auf jeden Fall einen Sieger!" Jeton Neziraj erzählt, wie er zu dieser Szene kam.
"Der Kosovo und ganz besonders Pristina haben sich in den letzten Jahren vollkommen verändert. Die Ambitionen und Erwartungen der Leute sind ungeheuer hoch: Erst hieß es, endlich sind wir frei, aber wir brauchen Unabhängigkeit. Jetzt sind wir unabhängig, aber wir wollen noch Teil der EU werden. Es gibt immer ein nächstes Ziel und einen weiteren Meilenstein, der überwunden werden muss. Und darüber vergessen wir vollkommen, uns um unsere inneren Dramen und Traumata zu kümmern. Wir sind immer am Rennen – z.B. um neue Dokumente auszufüllen oder die Bürokratie zu bedienen. Dieses Lebensgefühl wollte ich mit ‚Renn, Lola, renn’ zeigen."
90 Prozent Muslime, kaum eine Frau trägt Kopftuch
Auf den Straßen und Plätzen Pristinas macht sich dieses hohe Tempo auf den ersten Blick nicht gleich bemerkbar. Die Stadt mit der sparsamen alten Bausubstanz und den vielen wilden Neubauten ist noch nicht touristisch erschlossen, dafür aber zugleich dynamisch und entspannt.
Der Kosovo hat mit 26 Jahren den jüngsten Altersdurchschnitt Europas. Über die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25.
In der Innenstadt um den zentralen, nur für Fußgänger reservierten Mutter-Teresa-Boulevard flanieren unzählige Gruppen junger Frauen und Männer; viele sitzen stundenlang in den verrauchten Cafés und wechseln von einem öffentlichen Ort zum nächsten.
Die Arbeitslosigkeit unter den jungen Leuten ist groß, die Stimmung in der Stadt trotz allem ausgelassen. Und obwohl fast 90 Prozent der Bevölkerung muslimischen Glaubens sind, trägt kaum eine Frau ein Kopftuch.
Entwicklung des Kosovo ins Stocken geraten
Ein besonders beliebter Ort unter jungen Kosovaren, aber auch den sogenannten "Internationalen" ist das Soma, ein weitläufiges Café, in dem man zur Not ganze Tage und Abende verbringen kann. An großen Tischen sitzen bärtige Laptopnutzer aus Deutschland und Amerika neben aus dem Ausland heimgekehrten Kosovaren, die hier ihre Mittagspause verbringen.
Im Soma trifft man auch Vesa Sahatciu. Die Kunsthistorikerin hat lange in London gelebt, dort ihre Dissertation geschrieben und ist vor einigen Jahren nach Pristina zurückgekehrt. Im Gegensatz zu vielen ihrer Landleute hat sie keine Probleme, ein Visum für ein Land der EU zu erhalten und sich frei durch Europa zu bewegen. Was eine Selbstverständlichkeit sein sollte, ist im Kosovo derzeit ein Privileg, meint Vesa Sahatciu.
"Es gibt eine große Spaltung zwischen den Leuten, die reisen können und denen, die nicht reisen können. Besonders in der jüngeren Generation ist das ein Problem, das die Regierung sehr ernst nehmen sollte. Aus meiner Sicht ist die Entwicklung des Kosovo völlig ins Stocken geraten und ganz und gar nicht in die erhoffte Richtung gegangen. Korruption z.B. ist immer noch ein extremes Problem."
"Wie unzufrieden die Menschen sind, wurde ja bereits vor zwei Jahren deutlich, als es diese riesigen Flüchtlingsbewegungen Richtung Deutschland gab. Viele Leute sind gegangen, auch die, denen es eigentlich gar nicht so schlecht ging. 320.000 auf einen Schlag! Sie hatten einfach genug von den Lebensbedingungen hier. Es gibt keine Perspektiven und keine Jobs im Kosovo."
Performances in der Nationalgalerie
Auch für die Kultur sei es schwierig, fügt Vesa Sahatciu noch an. Der große Boom sei ausgeblieben und das Kulturministerium habe längst kein ausreichendes Budget. Eine Einschätzung, die durch einen Besuch in der Nationalgalerie bestätigt wird.
Die liegt am Rande des weitläufigen, Steppenartigen Universitätscampus – vis à vis zu der berühmten großen Universitätsbibliothek mit ihrer futuristischen Architektur. Während die Bibliothek mit ihren verschachtelten Bauelementen, der mächtigen Eisenfassung und den unzähligen, an weiße Schaumkrönchen erinnernden Kuppeln durch schaurige Schönheit begeistert, wirkt das flache, reizlose Gebäude der Nationalgalerie eher wie ein vergessener Verschlag.
Tatsächlich ist auch das Innere mehr als überschaubar und die meisten Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst bestehen nur aus wenigen Installationen.
Immerhin präsentiert die Nationalgalerie auch gelegentlich Dokumentationen der Arbeiten von Haveit – einer Performancegruppe, die durch öffentliche Aktionen auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam macht.
Zu den weiblichen Kunstaktivistinnen von Haveit gehört auch Alketa Sylaj. Die Schauspielerin steht regelmäßig für Jeton Neziraj auf der Bühne. Im vergangenen November hat sie sich mit ihren drei Kolleginnen von Haveit auf den Mutter-Teresa-Boulevard gesetzt und mit Rasierklingen und viel Schaum ihren nicht vorhandenen Bart rasiert.
"Der 28. November ist der albanische Flaggentag. Da wird nicht nur überall die Flagge aufgehängt, sondern viele Männer feiern auch ihre Männlichkeit. In einer immer noch sehr patriarchalen Gesellschaft wie unserer wollten wir mit dieser Performance ein Zeichen setzen: rasiert euch den Bart und damit euren Machismo ab – wenigstens für einen Tag! Im Kosovo gibt es immer noch zu viel Gewalt gegen Frauen und ein antiquiertes Ideal von machohafter Männlichkeit, das sich wiederum mit nationalistischen Vorstellungen verbindet. Ich glaube, das ist die Erbschaft des Kanun des Leke Dukagjini, ein Buch voller restriktiver Regeln, das in der kosovo-albanischen Gesellschaft immer noch eine große Bedeutung hat."
"Man darf den Text keinesfalls ernst nehmen"
Der "Kanun des Leke Dukagjini" ist das schriftlich niedergelegte Gewohnheitsrecht der Albaner, das vor allem in den Bergen Nordalbaniens und des heutigen Kosovo über Jahrhunderte zwischenmenschliche Beziehungen regelte.
Das Gesetz der Blutrache, das Recht, die Ehefrau bei Untreue umzubringen, aber auch die Pflicht zu Gastfreundschaft, Sicherheit und Buße sind hier schriftlich festgehalten. Nicht einmal den Osmanen, einzig den Kommunisten unter Tito gelang es, die Akzeptanz des Kanun in Albanien und Kosovo zurückzudrängen.
Seit Beginn der neunziger Jahre aber gewinnen einige Regeln wieder stärker an Einfluss – zumindest auf die gesellschaftliche Diskussion, meint Alketa Sylaj.
"Ironischerweise schätzen selbst aufgeklärte Künstler und Intellektuelle diesen Kanun immer noch. Aus meiner Sicht kann man diesen Text allenfalls historisch betrachten, aber man darf ihn keinesfalls ernst nehmen."
Ob sie gegen Machismo und für Frauenrechte oder gegen die öffentliche Verschwendung von Wasser protestieren – die Performances von Haveit ändern zwar nicht die Gesellschaft von Grund auf, aber jede einzelne von ihnen löst heftige Diskussionen aus.
"Wir brauchen keinen Polizeischutz mehr"
Wie wirksam das Theater sein kann, hat auch Jeton Neziraj immer wieder erlebt. Das "Qendra Multimedia" ist nicht nur in der internationalen Theaterszene, sondern auch im Kosovo zu einer bekannten Marke für witziges, kritisches Theater geworden. Regelmäßig werden die Stücke, die das "Qendra" produziert, im Nationaltheater gezeigt – was den Zuschauerkreis erheblich vergrößert.
Heute tragen Jeton Neziraj und seine Mitstreiter die Früchte ihres jahrlangen gesellschaftspolitischen und künstlerischen Engagements.
"Wir haben uns immer auf das fokussiert, was uns am meisten interessiert - und deswegen können wir inzwischen jedes Jahr zwei, drei Stücke mit Unterstützung europäischer Institutionen rausbringen. Und das in einem Land in dem pro Jahr nicht mehr als 20 Theaterproduktionen entstehen! Denn – man muss sich nur umschauen – was gibt es denn im Kosovo? Ein Nationaltheater, ein paar Stadttheater und das war’s! Außer uns existieren hier keine unabhängigen Theater. Das ist tragisch, sehr tragisch!"
Dennoch nennt sich Jeton Neziraj einen unverbesserlichen Optimisten. Ob engagierter Zuspruch oder wilde Proteststürme, Bombendrohungen oder ständig ausverkaufte Vorstellungen – Theater, das sich politisch engagiert, zeigt im Kosovo stets diametral entgegengesetzte Wirkung, meint Jeton Neziraj.
"In den vergangenen Jahren hatten wir oft Polizeischutz bei unseren Vorstellungen. Leute sind auf die Bühne gesprungen und haben geschrien: "Das ist ein antinationales Stück!" Wir hatten einen alten Mann im Publikum, der die ganze Zeit weinen musste, weil er nicht verstehen konnte, wie weit man mit seiner Ironie und Kritik gehen kann."
"All’ diese Reaktionen motivieren mich, weiter zu machen. Denn sie bedeuten, dass Theater sinnvoll ist. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Dinge zum Guten ändern. Inzwischen kann ich endlich sagen, was ich will; ich kann arbeiten, ohne Angst vor der Zensur der Behörden zu haben und wir brauchen keinen Polizeischutz mehr, wenn wir in unserem Zentrum serbische Gedichte lesen lassen."
Im Oktober kommt Jeton Neziraj mit einem Stück auch nach Deutschland.