Instagram-Gallery in Berlin

Im Bällebad mit Selfie-Kindern

05:46 Minuten
Eine junge Frau macht von sich im Bällebad bei der Internetkonferenz re:publica ein Foto.
Selfie im Bällebad © Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa
Von Gerd Brendel · 04.03.2020
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Eine neue Geschäftsidee erobert die Welt: In Instagram-Studios können die Digital Natives vor poppigen Hintergründen für Selfies posieren. Dabei ist der neue Trend eigentlich schon fast so alt wie die Fotografie selbst.
Es war einmal ein magischer Ort – genannt Fotoatelier. Wer auf sich hielt, ließ sich hier ablichten: Im Sonntagsstaat, in Uniform, mit Zylinder und Frack oder in Abendrobe dokumentierten Bürger und Bürgerinnen auf griechische Säulen gestützt oder zumindest teuer aussehendem Mobiliar Status und Machtanspruch.
Ernst blickten die Menschen in die Kamera, ihrer Bedeutung und Würde bewusst. Aber irgendwann war es vorbei mit der Aura. Mit dem Fotoapparat für jedermann und jede Frau ersetzten Schnappschüsse und Urlaubsfotos die inszenierten Aufnahmen: reale Palmen, Ruinen und Berggipfel die gemalten Fantasielandschaften der Ateliers als Bildhintergründe.

Der Hintergrund im Mittelpunkt

Aber mittlerweile ist diese Welt nicht mehr fotogen genug: "Dadurch, dass eine ganze Generation mit Handys aufgewachsen ist, ist es jetzt so, dass man 'mehr' sucht", sagt Thorsten Künstler. Er heißt tatsächlich so und hat mit Kollegen aus der Filmbranche die WOW-Galerie in Berlin eröffnet.
Es gehe darum, in den digitalen Medien aufzufallen, sagt Künstler: "Man sucht nicht mehr das Meer im Hintergrund, sondern man sucht spezielle Hintergründe, um sich selbst besser zu präsentieren, sich selbst zu inszenieren."
Ein Mann mit Schnauzbart ist zu erkennen, wie sein Gesicht von gelben Bällen umgegeben ist.
Idealer Hintergrund zur Selbstdarstellung: Der Autor verschwindet im Bällebad und hat somit das passende Fotomotiv.© Gerd Brendel
Dieses "mehr" bietet Künstlers Wow-Galerie: In einem Raum hängen Discokugeln von der Decke, im nächsten Wattenwölkchen im übernächsten ein Lianenwald aus Bändern in Popfarben.

Hemmungslose Selbstdarstellung

Das Team heute besteht aus Dhaval, Student aus Indien, der Selfies mit dem immer gleichen selbstgewissen Grinsen im Stundentakt postet, und Stéphane. Er ist Kunsthistoriker und Grafikdesigner, ein gewissenhafter Interpret digitaler Bilderzeugnisse, besonders der Instagram-Accounts verflossener Liebschaften.
"Man schlüpft hier anhand der Ästhetik dieser Aufmachung in das Leben eines Popstars. Das erinnert mich an Studiosets. Ich hab eher das Gefühl, ein Sänger zu sein oder irgendwie in eine Sendung eingeladen zu werden", meint Stéphane.
Oder gefangen zu sein in der Kinderbetreuung eines schwedischen Möbelhauses. Spätestens im Bassin mit den bunten Plastikbällen kann man dem Wunsch nach Selbstdarstellung hemmungslos nachgehen.

Eine sozialistische Sonne

Selbst die Weltgeschichte und Berliner Kiezleben werden hier zur Spaßbildlandschaft. Im nächsten Stockwerk ist eine Mauerattrappe vor Brandenburger-Tor-Silhouette zu finden, hinter der die gute alte sozialistische Sonne aus dem FDJ-Emblem aufgeht. Die hat selbst Dhaval wiedererkannt.
Der Clou ist ein Trampolin hinter dem nachgebauten antifaschistischen Schutzwall. Nachgestellt werden kann der Sprung über die Mauer – ohne Uniform wie beim berühmten Foto des springenden Volksarmisten über den Stacheldraht von 1961.
Über der letzten Fotoecke blinkt eine Neonschrift: "We love Späti" – darunter ein Spielzeugkaufladen in knallrosa.

Hinaus in die reale Welt

Im Fotostudio von heute werden weder Status noch bürgerliches Selbstbewusstsein inszeniert. Das damit verbundene sichere Gefühl, in der realen Welt eine Rolle zu spielen, scheint so verblasst zu sein wie alte Familienfotos. Dann lieber für 29 Euro Eintritt zwei Stunden lang wie Peter Pan im Kinderstaruniversum vor der Handykamera herumspringen.
"Wenn statt befriedigender Arbeit Konsumgüter ins Zentrum unserer Kultur rücken, schaffen wir eine Kultur ewiger Heranwachsender", schrieb die Philosophin Susan Neiman vor ein paar Jahren. Draußen wartet ein ganz und gar nicht Selfie-tauglicher grauer Himmel und die triste Realität der Ein-Euro-Ramschmärkte.
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