Krieg im Namen Gottes?
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Ausgerechnet zum 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September versinkt Afghanistan im Chaos. Die Theologin Cornelia Füllkrug-Weitzel über die Rolle der Religionen im dortigen Konflikt und das weitere Engagement von religiös motivierten Hilfsorganisationen im Land.
Sandra Stalinski: In dem Chaos, das der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan hinterlässt, sind es unter anderem christliche Hilfsorganisationen, die versuchen, weiterhin vor Ort zu bleiben und zu helfen. Cornelia Füllkrug-Weitzel ist Evangelische Theologin, Pfarrerin und Politologin. Sie hat mehr als 20 Jahre lang die evangelischen Hilfswerke "Brot für die Welt" und "Diakonie Katastrophenhilfe" geleitet. Was wissen Sie über die aktuelle Situation der christlichen Hilfsorganisationen nach der Machtübernahme der Taliban, die nicht gerade als religiös tolerant gelten?
Zwangspause für Hilfsorganisationen in Afghanistan
Cornelia Füllkrug-Weitzel: Alle Hilfsorganisationen – das trifft christliche und nicht christliche – haben erst mal die Arbeit einstellen müssen, schon allein aufgrund der Tatsache, dass sich viele weibliche Mitarbeitende nicht mehr auf die Straße getraut haben und dass sie keinen Zugang zu den Menschen haben in dieser momentanen, doch noch immer gewaltschwangeren Situation.
Aber mindestens alle christlichen Organisationen, die im Land sind, haben kundgetan, dass sie auch gern im Land bleiben möchten und weiterhin helfen möchten, sobald sich das wieder als möglich erweist. Ich habe gehört, dass die Taliban auch schon einige Organisationen dezidiert angeschrieben, gebeten haben, sie möchten doch bitte weitermachen. Auf jeden Fall ist klar, die Taliban müssen die Voraussetzungen erfüllen, damit humanitäre Hilfe stattfinden kann.
Dazu gehört zum einen, dass man ungehinderten Zugang zu der jeweiligen Bevölkerung hat und zum anderen auch, dass man voraussetzungslos den Menschen helfen kann, also nicht so nach dem Motto: Jetzt helft ihr hier nur denen, die mit den Taliban fraternisieren, und den anderen dürft ihr nichts geben. Das widerspricht den humanitären Prinzipien, denen mindestens die großen christlichen Hilfsorganisationen wie Caritas, wie Diakonie Katastrophenhilfe und andere sich verpflichtet fühlen.
Taliban richten sich gegen "fremde Macht"
Stalinski: Könnten Sie noch ein bisschen genauer erklären, was denn das spezifisch Christliche an der Arbeit dieser Hilfsorganisationen ist? Also, was machen die anders als die anderen?
Füllkrug-Weitzel: In vielerlei Hinsicht machen wir genau das Gleiche, sofern die anderen auch qualitätsvolle Arbeit leisten: Wir fühlen uns dem Prinzip der Humanität und dem humanitären Völkerrecht verpflichtet. Dass es ein zutiefst christliches Motiv ist, sich der Humanität verpflichtet zu fühlen, glaube ich, brauche ich nicht begründen.
Stalinski: Andererseits war es ein Christ, und zwar ein streng gläubiger US-Präsident, George W. Bush, der damals nach 9/11 die Militärschläge in Afghanistan initiiert hat und mit US-Truppen einmarschiert ist. Das ist von vielen Muslimen als Besatzung empfunden worden. Bush sprach bei seiner ersten Rede sogar von einem Kreuzzug. Ist es vor diesem Hintergrund nicht auch problematisch, wenn Hilfe dort ausgerechnet unter christlicher Flagge stattfindet?
Füllkrug-Weitzel: Ich glaube, dass es für die Taliban im Wesentlichen nicht darum geht, ob es christlich oder nicht christlich ist, sondern dass es für die Taliban im Wesentlichen darum geht, dass es sozusagen eine fremde Macht ist, die andere Werte bringt, westliche Werte. Die haben jetzt erst mal zwingend mit dem Christentum nicht alle zu tun – indirekt schon –, aber wenn ich hier sage, zum Beispiel, Feminismus, der durch die US-Regierung mittransportiert wird, dann wissen Sie, dass es nicht ein genuin christliches Thema ist, um es mal etwas ironisch zu sagen.
"Kreuzzug"-Rhetorik als Signal an Evangelikale in den USA
Die Taliban sind eine nationale Bewegung mit einem Ziel, das sich auf Afghanistan richtet. Sie gehören der Mehrheitsbevölkerung der Paschtunen an und sie möchten sozusagen eine paschtunische Herrschaft errichten. Wie weit ihnen das gelingen wird oder wie weit sie sich auch noch mit anderen ethnischen Strömungen oder Gruppierungen in Afghanistan werden auseinandersetzen müssen, das werden wir sehen. Sie wehren sich gemeinsam gegen westliche Werte und gegen westliche Interventionen.
Dass Bush das religiös motiviert hat mit dem Kreuzzug, hatte meiner Meinung nach im Wesentlichen innenpolitische Gründe in den USA. Man muss Müttern und Vätern erst mal erklären können, warum man am Hindukusch die Verteidigung der Freiheit der USA stattfinden lassen muss, vielleicht auf Kosten des Lebens von jungen Soldatinnen und Soldaten.
In den USA gibt es eine starke evangelikale Strömung mit erheblichem Einfluss auf die Politik. Die sitzen im Wesentlichen im berühmten Bible Belt, auf die können sich die Republikaner eigentlich seit den 60er-Jahren stützen. Bush hat sich meiner Meinung nach der Sprache der Evangelikalen bedient, die fabulieren von einer großen "Endschlacht" zwischen Gut und Böse – Harmagedon –, und hat diese Sprache zur Legitimation auf den Konflikt zwischen Islam und Christentum bezogen.
Zusammenarbeit mit lokalen Partnern
Also, es war eine klare Instrumentalisierung. Er wollte damit diese Wählerkreise hinter sich bringen und die innenpolitische Unterstützung gewinnen. Ob er selbst daran geglaubt hat, das wage ich nicht zu sagen, er hat damit aber diese Interpretation gesellschaftsfähig gemacht. Das öffentliche Narrativ über den Kampf gegen muslimische Fundamentalisten lautet dann jedenfalls, dass es eine unausweichliche Notwendigkeit für eine christliche Nation ist, die zu bekämpfen.
Stalinski: Das heißt aber, er hat auch dieses Feindbild "christlicher Westen" geschürt. Jetzt noch mal zurück zu den Hilfsorganisationen: Hat das nicht Auswirkungen auf deren Arbeit vor Ort, wenn die einen christlichen Hintergrund haben? Oder wie offen geht man denn vor Ort mit diesem religiösen Hintergrund um? Fährt man da mit Fahrzeugen umher, die zum Beispiel ein Diakonie-Logo haben?
Füllkrug-Weitzel: Man geht da genauso wenig offen mit dem christlichen Hintergrund um, wie man es auch in anderen Ländern tut, denn wir sind da nicht, und auch Caritas zum Beispiel ist da nicht als Diakonie Katastrophenhilfe selbst operativ tätig, sondern es entspricht unserem Konzept von humanitärer Hilfe, dass diese zuallererst von den Menschen vor Ort selbst geleistet werden muss. Auch von lokalen humanitären Organisationen, die von uns unterstützt werden mit Finanzen, mit Beratung und mit allem, was sie jeweils brauchen.
Humanitäre Hilfe ohne missionarische Agenda
Für die Bevölkerung sind die lokalen Partnerorganisationen das Gesicht dieser Hilfe und nicht die Diakonie Katastrophenhilfe oder Caritas. Ob es ein Tracking gibt durch die Taliban, wer welche lokalen Hilfsorganisationen finanziert, weiß ich nicht exakt. Wir vermuten aber alle, dass es denen durchaus bekannt ist. Wie weit da eine Gefahr draus hervorgeht, ist völlig unbekannt.
Wir haben eine ähnliche Situation auch schon in Pakistan gehabt. Da gab es einen großen Pragmatismus nach dem Motto: Solange ihr tatsächlich gute humanitäre Hilfe leistet, euch den humanitären Prinzipien verpflichtet fühlt – was Caritas und die Diakonie Katastrophenhilfe tun –, nämlich euch neutral verhaltet, unabhängig seid, keine Nebenagenda habt, sondern eigentlich im Wesentlichen das tut, wozu ihr angetreten seid, nämlich humanitäre Hilfe zu leisten an die, die besonders bedürftig sind, solange könnt ihr das machen.
Ob es tatsächlich zu Verfolgung oder Schließung oder irgendwas kommen wird, ist offen. Wir erwarten eigentlich eher, dass die Taliban massiv interessiert daran sind und sein müssen, dass humanitäre Hilfe weitergeht und dass es darüber Verhandlungen geben wird, unter welchen Voraussetzungen und Prinzipien, und dass dabei die Frage, ob wir christlich sind oder nicht, solange wir keine Mission betreiben, für die irrelevant ist. Aber weder Diakonie Katastrophenhilfe noch Caritas haben je Mission betrieben. Wir haben einen diakonischen, keinen missionarischen Auftrag, das war schon immer so.
"Verehrer des Götzen Gewalt"
Stalinski: Wir haben schon davon gesprochen, dass Feindbilder durch die Instrumentalisierung von Religionen durch George W. Bush entstanden sind, aber andererseits natürlich auch durch Osama bin Laden und die Attentäter des 11. September 2001, die diesen terroristischen Anschlag religiös begründet haben und sich auf einen Gott berufen, in dessen Willen sie handeln. Wenn man sich das anschaut, was da im Namen von Religion passiert, kann man dann noch von Religionen als Friedensstiftern sprechen?
Füllkrug-Weitzel: Ich möchte noch erst mal was zu Osama bin Laden sagen, zu Al-Qaida oder zu dem IS, zu Boko Haram oder die sogenannte Lord's Resistance Army in Nord-Uganda, die jahrelang ein Gewaltregime ausgeübt hat, die sich christlich motiviert hat: Diese genannten Organisationen repräsentieren für mich einen eigenen Typus, der auch von den Taliban klar zu unterscheiden ist. Ich nenne sie Verehrer des Götzen Gewalt. Die haben überhaupt gar nichts mit dem Islam und dem Christentum zu tun, das sind reine Versatzstücke, derer sie sich bedienen, um ihr Gewaltregime aufzurichten.
Wenn Sie mit der Bevölkerung in Ländern sprechen, die unter Boko Haram oder eben Lord's Resistance Army oder jetzt Al-Qaida oder ISIS zu leiden haben, dann sagen die, das anerkennen wir gar nicht als islamisch, das ist nicht islamisch. Sie wollen ein monopolistisches Gewaltregime aufrichten; sie verehren und vergötzen die Gewalt, Brutalität, Hass, wie es in keiner einzigen Religion je einen winzigen Punkt findet als Aufhänger. Das hat mit Religion nichts zu tun.
Gemeinsam gegen politische Vereinnahmung
Wenn tatsächlich Religion missbraucht und instrumentalisiert wird als Argument zur politischen Machtausweitung, Machtstabilisierung, wie es weltweit geschieht, dann gibt es eigentlich nur ein starkes "Gegengift", nämlich: Die Religionen stehen zusammen auf und sagen, nicht mit uns, nicht in unserem Namen, wir haben damit nichts zu tun.
Damit haben wir zum Beispiel in Kenia oder in vielen anderen Ländern, wo es Auseinandersetzungen gibt zwischen Muslimen und Christen – übrigens massiv geschürt von fundamentalistischen Strömungen, einerseits zum Beispiel aus Saudi-Arabien, andererseits aus den USA, die US-Evangelikalen sind weltweit tätig, auch in Deutschland, zum Beispiel mit starken Verbindungen zur AfD, um es mal gesagt zu haben – da, wo dieser Hass geschürt wird, stehen weltweit in vielen Ländern die Religionsführer zusammen auf und sagen: Nicht in unserem Namen! Wir als Christen und als Muslime stehen zusammen, wir haben hier jahrzehntelang friedlich zusammengelebt, wir werden es auch weiterhin tun und wenn ihr hier Hass säen wollt, dann hat das mit uns nichts zu tun.
Das ist extrem wirkungsvoll. Da, wo sich Kirchen und muslimische geistliche Imame sofort zusammen öffentlich hinstellen, wenn es solche Clashes gab, und sagen, nicht in unserem Namen, nicht im Namen der Religion, betreibt euer dreckiges Politikgeschäft unter eurem eigenen Namen, das hat mit uns nichts zu tun, hat es sehr große Auswirkungen auf die Bevölkerung. Insofern, natürlich sind Religionen da Friedensstifter und müssen es sein, wo die Religion instrumentalisiert wird, um ökonomisch, politisch oder wie auch immer motivierte Macht zu legitimieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.