Inszenierung des Alltäglichen

Von Carsten Probst |
Schon lange bevor die digitale Fotografie erfunden wurde, komponierte Jeff Wall seine Bilder mithilfe von Computertechnik und ließ sich dabei von der Malerei inspirieren. Wall fotografiert nicht, er inszeniert seine Bilder. Nun zeigt das Deutsche Guggenheim Berlin eine Auswahl seiner Fotografien.
Eine Gruppe Erwerbsloser wartet am Straßenrand einer heruntergekommenen Vorstadtsiedlung auf Arbeit. Eine Frau kehrt in ihre trostlose Mietskaserne zurück. Schwarze Kinder treiben auf einer Brache ein grausam-realistisches Kriegsspiel. Und das finstere Innere eines Kühlbunkers begegnet dem Betrachter wie eine nüchterne Arbeitshölle unserer Tage, die jeden, der sie betritt, mit lakonischer Lebensfeindlichkeit bedroht. Vier großformatige Schwarzweiß-Fotografien, alle auf rund 2,60 mal 4 Meter, bilden eine Serie, die Jeff Wall "Belichtung" getauft hat. Er tut darin das, was er seit den achtziger Jahren immer tut und was ihm einen Platz in der jüngsten Fotogeschichte längst gesichert hat – Wall inszeniert seine Bilder bis ins Detail, um dem realistischen Charakter der Fotografie eine über den Moment hinausgehende erzählerische Struktur zu geben. Eine Erzählung, die die sozialen Abgründe der westlichen Gesellschaft einfängt, die sich spontan so kaum festhalten liessen. Er manipuliert seine Bilder so sehr, dass selbst die nicht-inszenierten, wie der dunkle Kühlraum, manipuliert und erzählerisch wirken.

"Ich teile mein Werk seit einigen Jahren in zwei Kategorien ein, zurückgehend auf meine Ausstellung in Basel vor einigen Jahren, zu der ein Gesamtkatalog meines Werkes erschienen ist. Die eine Kategorie bezeichne ich seitdem als dokumentarische Fotografie, und sie ist auch ziemlich genau das, was man sich darunter vorstellt: Bilder, die ohne besondere Vorbereitungen entstehen, ohne Inszenierung oder Mitwirkung von Schauspielern. Die andere Kategorie würde ich kinematografische Fotografie nennen, weil da in der Tat Schauspieler und verschiedene Arten von Inszenierung eine Rolle spielen, um ein Bild herzustellen. Ein Dokumentarfoto braucht vielleicht 15 Minuten zur Entstehung, oder auch 15 Sekunden; kinematografische Bilder brauchen erheblich länger, von einigen Tagen, bis zu einigen Wochen und einigen Monaten."

Jeff Walls inzwischen berühmte Methode, Bilder im seinem Studio mithilfe langwieriger Aufnahmensessions zu hybriden Montagen zusammenzusetzen, hat nach Ansicht mancher Kunsthistoriker die digitale Fotografie vorweggenommen, obwohl Wall selbst zunächst kaum mit digitalen Kameras gearbeitet hat, wohl aber mit Bildkomposition am Computer. Eigentlich hat seine Art zu montieren und zu manipulieren herzlich wenig mit Technikbegeisterung zu tun, sondern mit einer Vorliebe für Erzählstrukturen klassischer Malerei. So begann auch die künstlerische Ausbildung des 1946 im kanadischen Vancouver geborenen Wall mit malerischem Schwerpunkt, woraufhin er dann ziemlich bald nach London umzog:

"Ich war Maler in dem Sinne, dass ich Malerei liebte, als ich 20 Jahre alt war, aber ich habe mich in der Tat ziemlich lang damit beschäftigt. Und ich habe eine Menge dadurch gelernt. Einerseits für die Art und Weise, wie ich in meinem eigenen Studio arbeite, und außerdem, wie ich Malerei aller Zeiten genießen und studieren kann, Malerei von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Ich lernte etwas für die Fotografie von der Malerei. Sehr vieles sogar. Es gibt aber keine direkte Beziehung von Malerei und Fotografie, außer dass beide Künste in der westlichen Tradition dazu dienen, Bilder herzustellen. Sie gehören zur selben Familie. Als ich merkte, dass mich die Fotografie mehr interessierte, entschied ich mich, Fotograf zu werden, und mein Werk hat keine direkten Beziehungen zur Malerei mehr, außer eben jener, dass ich persönlich viel von Malerei gelernt habe, Dinge durch die Malerei zu genießen und zu lieben."

Das freilich ist eine glatte Untertreibung. Denn Walls Fotografie ist offensichtlich durchdrungen von dem Verlangen, es mit der europäischen, aber auch asiatischen Malereitradition vergangener Zeiten aufzunehmen. Das beginnt schon mit den exorbitanten Bildgrößen, die den Historienbildern des 19. Jahrhunderts in nichts nachstehen. Schlachtenbilder, Panoramen, Portraits, Studiostillleben, Landschaften, die Wall in seiner Karriere geschaffen hat, spielen offen oder verdeckt mit berühmten Zitaten von Manet, Delacroix oder des japanischen Tuschemalers Hokusai. Hinzu kommen zahllose re-inszenierte Motive aus der frühen Fotogeschichte und die Beleuchtung von Farbaufnahmen durch grosse Leuchtkästen, die den Glanz und die Präsenz eines Bildes ebenso erhöhen wie die Distanz, die der Betrachter zu ihnen einnimmt. Diese Motivverdoppelungen machen einen gehörigen Anteil der "künstlichen" Wirkung jener Realität aus, die Wall festhält. Selbst die Arbeitslosen an der Straße wirken, als wären sie zu einer stillen Demonstration angetreten, einen vorgefassten Kunst-Plan zu erfüllen. Und Wall argumentiert nicht zuletzt selbst auch wie ein Maler, wenn er das Prozesshafte seiner Art, zu fotografieren, betont:

"Es ist unmöglich für mich, ein bestimmtes Resultat meiner Arbeit am Anfang vorauszusagen, etwas Vorgefasstes zu vollenden. Ein Bild zu machen hat immer etwas von einem Abenteuer. Immer gibt es unerwartete Hindernisse und Überraschungen. Ich kann nie versprechen, dass ich beenden kann, was ich beginne, und umgekehrt kann ich nie wissen, ob das Bild, dass ich am Ende des Prozesses habe, dem Vorhaben entspricht, mit dem ich begonnen habe. Das ist auch ein Grund dafür, dass ich keine Aufträge annehme."

Nun aber hat er doch einen angenommen, den der Guggenheim Foundation für diese Ausstellung in Berlin. Es hat dem Ergebnis nicht geschadet. Walls Werk ist immer noch das, was man exemplarisch für die heutige Zeit nennt, nicht nur wegen seiner sozialen Thematik, die er nach eigenen Angaben noch von den 68ern in London übernommen hat. Sondern auch durch die bewusste Verdoppelung der Realität durch Zitate. Und ohne Walls Werk wäre der Erfolg der heute auf dem Kunstmarkt gefeierten Protagonisten der Becher-Schule um Andreas Gursky oder Thomas Ruff kaum denkbar.