Erfolgreiches Experiment
Migranten als Zeitungsmacher und Zeitungsleser - diese Zielgruppe wurde von den großen Medienhäusern lange vergessen. Die Verlagsgruppe Rhein Main (VRM) hat das nun geändert und bringt zweimal im Monat das Gratisblatt "Mensch! Westend" heraus.
Ali Baba, Wiesbadens ältester Dönerimbiss, liegt im Westend, dem quirligen Migrantenviertel. Hinterm Tresen steht im weißen Kittel der Chef selbst. Alle nennen ihn Baki. Erdal Aslan, leitender Redakteur der neuen Stadtteilzeitung, muss sich nicht groß vorstellen. Der Mittdreißiger ist im Viertel aufgewachsen, hat hier Abitur gemacht und kennt die alt eingesessenen Geschäftsleute. Sein abendlicher Ausflug ins Westend: Kontaktpflege und Verteilaktion zugleich.
Erdal Aslan: "Kann ich hier mal ein paar Stück von der Zeitung auslegen? Ich hatte hier schon mal welche, die sind aber weg, glaub ich."
Baki: "Glaub ich weg, alles."
Beim Warten auf den Döner schauen sich seine Gäste gern Fotos im neuen Blatt an, lesen sich fest, beobachtet der Imbisswirt. Die erste Ausgabe berichtet darüber, wie ein Flüchtling aus Syrien im Westend Unterstützung beim Einleben bekommt. Italienische Eisdielen-Inhaber erzählen, wie sie sich hier in fast drei Jahrzehnten ein neues Zuhause aufgebaut haben. Dazu: ihr Lieblingsrezept für scharfe Penne Puttanesca. Von praktischem Gebrauchswert auch die Bewerbungstipps und Veranstaltungstermine. Am Ende vom Döner bleibt noch Lesestoff, beobachtet Baki, deshalb stecken seine Kunden das Blatt oft ein. Für ihn ist "Mensch! Westend" auch eine Art Vermittlungsinstanz:
"Ja, also das finde ich sehr, sehr gut. Kann man immer anrufen, und wenn man Schwierigkeiten hat, Probleme oder irgendwas, kann man immer Erdal Bescheid sagen, also die kommen auf jeden Fall vorbei."
Journalist in spezieller Mission
Wenn’s Aufregung um Sperrmüll an der Ecke gibt oder Streit mit der Polizei. Als "Befindlichkeitsmanager" ist Erdal Aslan dann gefragt. Der großgewachsene "Wiesbadener Bub" mit türkischen Wurzeln hat Politik, Wirtschaft und Islamkunde studiert. Nach dem Job bei einem Flugzeugpumpenhersteller volontierte er beim Wiesbadener Kurier.
Jetzt ist er als Journalist in spezieller Mission unterwegs:
"Natürlich bin ich irgendwo auch der Anwalt dieses Stadtteils, aber muss trotzdem versuchen, eine gewisse Distanz zu wahren. Es geht einfach darum, die Menschen fair zu behandeln."
Einerseits. Andererseits geht es dem Verlag darum, sich eine Kundschaft zu erschließen, an die bislang kein Anzeigen-Verkäufer herankam.
"Und, oh Wunder, wir haben eine ganze Menge Anzeigenkunden und Partner gefunden, die bisher nicht mit unserem Verlag kooperiert haben. Das hatte etwas mit den Preisen zu tun, aber das hat auch was mit dem Milieu zu tun, in dem sie Anzeigen schalten."
So Stefan Schröder, Chefredakteur von Wiesbadener Kurier und Tagblatt, deren Gratis-Ableger "Mensch! Westend" ist.
Imbisswirt Baki annonciert demnächst auch:
"Also, für mich gilt immer: Wenn einer ein Freund ist, dann kann man auch n bisschen handeln. Bei Fremden kannst du nicht handeln."
Erdal Aslan trifft den Ton der Geschäftsleute im Westend. Unaufdringlich, aber verbindlich. Seinen Job als Manager der inzwischen bundesweit beachteten Multikulti-Zeitung schafft er sich sozusagen selbst. Freie Reporter darf er zur Unterstützung suchen, gerne Migranten. Das erschließt seinem Verlag ein bislang vernachlässigtes Personalreservoir. Auf dem Weg durch die Wellritzstraße mit bunt gemischtem Sortiment von Fisch bis Mobiltelefon deutet Aslan auf die bodentiefen Fenster des bekanntesten türkischen Restaurants in Wiesbaden. Da trifft man alle: den Banker von außerhalb und den türkischen Gemüsehändler von nebenan.
Genau so gemischt will Aslan seine Leserschaft haben:
"Ich bin primär als Journalist unterwegs, ganz klar, ich bin ja auch für den redaktionellen Inhalt verantwortlich. Aber nebenbei bin ich hier auch als Medienberater unterwegs. Das heißt: Das Restaurant, das wir eben gesehen haben, da war ich drin und habe die Anzeige akquiriert."
Erfolgsrezept Integration
Wirtschaftlichen Profit für den Verlag mit Integration als gesellschaftlichem Anliegen koppeln, das ist die Philosophie von Chefredakteur Stefan Schröder. Seinen Nachwuchsredakteur schätzt er. Auf zwei Seiten fasst Aslan in "Mensch! Westend" die Kurier- und Tagblatt-Beiträge übers Viertel zusammen:
"Für Menschen, die normalerweise nicht die Zeitung lesen."
Wie Harrou Driss, den Aslan als Nächstes besucht. Samstags kauft der marokkanische Kleiderhändler den Wiesbadener Kurier. Zeitungen zu abonnieren ist aber völlig unüblich in den meisten der hundert Nationen, aus denen die Westend-Bewohner stammen. Vielen fehlt es für die klassische Zeitung an Sprachkenntnissen.
Alsan sieht darin kein Hindernis:
"Zusammenzufassen heißt auch: zu verkürzen, zu vereinfachen und natürlich mit vielen Bildern auch."
"Das ist schön",
lacht Harrou Driss und beugt sich über einen Artikel mit großem Foto: die Geschichte einer Straßenecke in dem Gründerzeit-Viertel, früher Sitz einer Bäckerei, heute eines türkischen Gemüseladens.
Ein paar Meter weiter betreut Christopher Tepel afrikanischstämmige Schüler bei den Hausaufgaben. Interessiert schaut der Student auf die politische Titelstory. Es geht um die umstrittene Pflicht für junge Nicht-EU-Ausländer, sich für einen Pass zu entscheiden. Porträtiert wird Ümit, ein Fachabiturient mit deutschem und türkischem Pass. Beide Kulturen liebt der 17-Jährige und wünscht sich, den Doppelpass mit 18 behalten zu dürfen.
Ümit und die große Bundespolitik - das kann Christopher Tepel als Lesestoff für seine Siebtklässler in der Hausaufgabenbetreuung durchaus einsetzen:
"Das ist tastsächlich mal ne gute Idee, das können wir echt mal machen."
Erdal Aslan: "Also, ich muss auch sagen, wir hatten im Pressehaus mal so Jugendliche, 17-, 18-jährige, die haben gesagt: Also das interessiert mich auf jeden Fall, auch weil ich den da kenne."
Bleibt nur ein Einwand:
Christopher Tepel "Bei so nem Titel würd von den Kindern schon wieder kommen: Öh, warum ist da n Türke drauf? Warum ist da kein Marokkaner drauf oder n Somalier oder ..."
Erdal Aslan: "Beim nächsten Mal dann!"
Am 16. Dezember erscheint die nächste Ausgabe. Vielleicht mit einem Marokkaner oder einer Somalierin auf dem Titel. Ganz sicher aber mit einem Menschen aus dem Wiesbadener Westend.