Integration fördern durch individuelle Lernpläne

Karin Babbe im Gespräch mit Katrin Heise |
In der Erika-Mann-Schule in Berlin-Wedding lernen 600 Kinder aus 23 Nationen zusammen, darunter auch behinderte Kinder. Um die Entfaltung der Kinder optimal zu fördern, arbeitet die Schule mit individuellen Lernplänen und mehreren Lehrern und Erziehern pro Klasse. Für ihr Integrationskonzept wird die Schule mit dem Jakob-Muth-Preis für inklusives Lernen ausgezeichnet.
Katrin Heise: Eine Schule, die seit Jahren ein solches Konzept hat und nun auch dafür mit dem Jakob-Muth-Preis ausgezeichnet wird, heute Nachmittag nämlich, ist die Erika-Mann-Schule in Berlin-Wedding, ein Bezirk, der immer als Problemkiez bezeichnet wird. In der Schule lernen fast 600 Kinder aus 23 Nationen, acht von zehn Familien beziehen Hartz IV oder Unterstützung als Asylbewerber. Jedes zehnte Kind an der Schule hat einen besonderen Förderbedarf. Da geht's von der Körperbehinderung über die geistige Behinderung zu Lernbehinderung oder aber auch zu sozial-emotionalen Störungen. An der Erika-Mann-Schule geht das alles zusammen. Über den Schulalltag berichtet uns jetzt Karin Babbe, die Schulleiterin. Frau Babbe, ich grüße Sie recht herzlich und gratuliere Ihnen ganz herzlich zu dem Preis!

Karin Babbe: Wir freuen uns sehr über diesen Preis, vielen Dank für die Gratulation. Wir empfinden es als besondere Ehre, dass wir mit diesem Preis beglückt worden sind und das am ersten Schultag. Wie kann ein Schuljahr besser starten?

Heise: Ja, genau.

Babbe: Das ist ein außergewöhnlich bombastischer Start.

Heise: Da geht man auch mit richtig Power rein?

Babbe: Genau.

Heise: Aber Power brauchen Sie natürlich auch an Ihrer Schule. Wie geht denn das tatsächlich zu? Viele Menschen können sich das überhaupt nicht vorstellen. In einer Klasse von wie viel Kindern, wie viel sind's da insgesamt?

Babbe: 21 bis 23 sind circa in einer Klasse.

Heise: 21 bis 23 Kinder, wie viele Lehrerinnen?

Babbe: In der Regel, wir versuchen möglichst oft, zwei Lehrerinnen in einer Klasse oder eine Lehrerin, eine Erzieherin oder eine Lehrerin, einen Ehrenamtlichen. Und in den unteren Jahrgängen versuchen wir das nahtlos in jeder Stunde, in den oberen wird es dann weniger.

Heise: Und da sitzen dann Kinder, die eben die verschiedensten Merkmale, Auffälligkeiten, Normalitäten haben?

Babbe: Ja. Und das kann man sich nicht vorstellen, aber wenn man davon ausgeht, so wie wir es jetzt schon wirklich über ein Jahrzehnt hinaus tun, dass jedes Kind einmalig ist, jedes Kind besonders ist und jedes Kind in dieser Einmaligkeit und Besonderheit das Recht darauf hat, so sich entwickeln zu können, dass es die bestmögliche Entfaltung erfährt. Dann ist es keine Zauberei. Denn wenn man diesen Grundansatz hat, dann impliziert es, dass man sich einer bestimmten Lerntheorie verschreibt. Wir haben binnendifferenzierte Konzepte ...

Heise: Das heißt, Sie schauen jedes Kind separat an?

Babbe: Genau. Das heißt, jedes Kind bekommt das zu lernen, was ihm möglich ist. Und jedes Kind hat einen individuellen Lernplan. Die Behinderten ganz genauso wie die Nichtbehinderten.

Heise: Das heißt, von einem Mädchen mit einer ganz starken Sehbehinderung wird anderes verlangt, was Lesen, Schreiben angeht, als von einem Kind, was diese Sehbehinderung nicht hat, oder sie bekommt andere Hilfsmittel?

Babbe: Genau, oder sie bekommt andere Hilfsmittel. Ganz genauso ist es. In der Regel heißt ja Sehbehinderung nicht, dass es lernbehindert ist, das heißt, dass die Sehorgane eine Unterstützung brauchen, oder die hörbehinderten Kinder brauchen akustische Dämmplatten in den Klassen und die Lehrerinnen müssen die Gebärdensprache können, um unterstützende Methoden diesen Kindern anbieten zu können. Aber zunächst einmal wird geguckt, dass in den individuellen Lernplänen der Kinder jedes Kind sich in seinem Können entfalten kann. Und diese Entfaltung des Könnens und die Erfahrung, ich kann etwas, das sind die Erfolgserlebnisse, die die Kinder brauchen. Und aufgrund dieser Erfolgserlebnisse sind sie dann motiviert, ihr Nichtkönnen weiter in Angriff zu nehmen.

Heise: Wie kann zum Beispiel ein Junge oder ein Mädchen mit Downsyndrom eine Position in einer Schulklasse gewinnen?

Babbe: Ja, ich komm noch mal auf das Einmalige und auf das Besondere zurück. Ein Unterricht, eine Unterrichts- und Erziehungsarbeit - wir sind ja eine offene Ganztagsschule, die Kinder können bis 16 oder gar 18 Uhr bei uns bleiben - muss etwas bieten, dass jedes Kind sich zeigen kann in dem, was in ihm steckt, sodass die anderen Kinder auch sehen, der kann das und ich kann etwas anderes. Und Kinder mit Downsyndrom zum Beispiel sind durch das Nachahmen der Mitschüler wunderbar in der Lage, in den allgemeinen Gruppenaktivitäten mitzumachen, teilzunehmen, und das Besondere, sie können ihre Freude so wunderbar ausdrücken. Und über diese Richtung emotionale Intelligenz zeigen sie den anderen Kindern zum Beispiel etwas sehr, sehr Wertvolles und Kostbares. Natürlich sind die Herausforderungen im Lesen, Schreiben, Rechnen grundsätzlich andere, das ist selbstverständlich.

Heise: Wie gemeinsamer Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern allen zugute kommt, das ist unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur mit der Schulleiterin Karin Babbe der Erika-Mann-Schule in Berlin-Wedding. Sie sind eine theaterbetonte Grundschule, das wirkt sich wahrscheinlich auch aus auf Ihr Konzept und dass jedes Kind da seine bestimmte Rolle spielen kann?

Babbe: Ja. Das ist das Wunderbarste, was wir in unserer Schulentwicklung entdeckt haben, nämlich das Theaterspiel in dem Ansatz, den wir uns von den Jesuiten abgeguckt haben, nämlich, wir kommen von der Improvisation zum Stück, von der Bewegung zum Spiel. Jede Klasse schreibt ihr Theaterstück selber. Wir haben ein Jahresthema, das das Schülerparlament uns in jedem Jahr vorgibt. In diesem Schuljahr ist es Traumzauberei, also ein ganz lyrisches, schönes Thema. Und dieses Erarbeiten eines Stückes braucht ein Schuljahr, und ein oberstes Prinzip bei uns ist: Alle Kinder sind auf der Bühne und jedes Kind ist wichtig für das Gelingen des Stückes, und es ist ganz egal, ob es das Blatt am Baum ist oder die Prinzessin. Und diese Erfahrung, ich bin wichtig für das Gelingen des Ganzen, das macht die Kinder groß.

Heise: Der integrative Unterricht ist ja eine besondere Herausforderung auch finanzieller Art. Wie finanzieren Sie das eigentlich, dass Sie im Schulunterricht zum Beispiel zwei Lehrer oder immer eine Betreuerin dabei haben?

Babbe: Wir werden nicht anders finanziert als alle anderen Schulen im Land Berlin, nur die Mittel, die wir haben, versuchen wir immer konzeptionell einzubringen, immer über die Inhalte und nie über die Form oder über Abrechnungen in Lehrerstunden. Wir arbeiten extrem integrativ, das bezieht sich nicht nur auf die Arbeit mit den Kindern, sondern auch auf die Kollegen. Wir arbeiten immer im Team und lernen dort voneinander, das Team als Lerngemeinschaft ist bei uns so ein Schlagwort, das wir entwickeln. Und es ist einfach so, dass man nur über diese integrative Bildungsarbeit so vorankommt, dass es den Kindern ein gutes Fundament gibt.

Heise: Oft wird aber anders argumentiert, dass gerade behinderte Kinder, Kinder mit Förderbedarf einen Schutzraum brauchen. Das unterstützen Sie nicht?

Babbe: Einen Schutzraum im Sinne von Oberarmstreicheln, nein, das unterstützen wir nicht. Also Oberarmstreicheln, damit meine ich Verhätscheln und Vertätscheln. Nein, wir müssen die Kinder fordern, wir müssen die Kinder herausfordern, natürlich müssen wir sie auch fördern, wir müssen sie begleiten in ihrer Lernentwicklung, und die Kinder brauchen, alle Kinder brauchen besondere Bedingungen. Wissen Sie, mir ist im Zusammenhang mit dem heutigen Gespräch ein Mädchen von vor vielen Jahren eingefallen, das hatte eine schwere geistige Behinderung und konnte sich sprachlich nicht gut artikulieren, aber dieses Mädchen hatte eine unglaublich große Sensitivität und sie konnte mitmenschliche Beziehungen sehr gut erspüren. Und sie hatte mitbekommen, Schulleiter sind irgendwie wichtig und irgendwie auch bieten die Halt. Und Felinas Klasse war im Erdgeschoss relativ in der Nähe meines Büros, und wann immer diesem Mädchen irgendetwas nicht gut bekam - was sie ja nicht ausdrücken konnte, sie konnte nicht sagen, du tust mir weh, mir geht es schlecht oder sonst irgendwie was, und es wurde nicht bemerkt -, dann lief sie aus der Klasse weg und kam zu mir ins Büro krabbelte auf meinen Schoß. Es war ganz egal, ob ich mit der Schulaufsicht telefonierte, ob ich eine Sitzung hatte, sie erkämpfte sich ihren Weg, sie suchte sich ihren Hort der Geborgenheit. Und das ist doch ein Glücksgefühl auch in meinem Leben. Und diese Art von Schonraum und Schutz, die müssen wir sehr wohl bieten, aber die müssen wir jedem Kind in der Schule bieten.

Heise: Die Erika-Mann-Schule im Berliner Wedding bekommt heute den Jakob-Muth-Preis für inklusive Schule, also für Integrationskonzepte, die gelebt werden. Schulleiterin Karin Babbe hat uns ein wenig am Schulalltag und an den Erfolgen teilhaben lassen. Frau Babbe, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch!

Babbe: Gern geschehen.
Mehr zum Thema