Das Spiel ist bunt
Migration und Integration im Fußball: Es ist kompliziert. Von Anfang an prägten Spieler mit migrantischen Erfahrungen den Fußball, oft wird die integrative Kraft des Sports betont. Doch in den Stadien und Gremien bleiben Deutsche unter sich.
Ein Vereinsheim in Kreuzberg. Die Wände voller Wimpel. Ein Regal biegt sich unter Pokalen. Nebenan klappern Stollenschuhe, es riecht nach Schweiß. Am Kopfende des Raumes sitzt Cacau. Aufgewachsen in Brasilien, Deutscher Meister mit dem VfB Stuttgart 2007, 23 Länderspiel-Einsätze für Deutschland. Um ihn herum lauschen Jugendliche, einige mit Fluchtbiografie, seinen Erzählungen. Cacau berichtet von seiner Ankunft in Deutschland vor zwanzig Jahren. Er machte etliche Probetrainings und landete zunächst in der Landesliga beim SV Türk Gücü in München.
"Es war wichtig, Menschen zu haben, die mir, erstens, gezeigt haben, wie wichtig zum Beispiel die Sprache ist in Deutschland. Dass es wichtig ist, dass ich auch auf die Menschen zugehe. Auf der anderen Seite war für mich auch ein Mitspieler wichtig, der ein bisschen Italienisch gesprochen hat und das klang ein bisschen wie Portugiesisch. Er war auch ein wichtiger Ansprechpartner für mich. Aber die Sicherheit zu haben, dass meine Mutter damals gesagt hat, wenn du es nicht packst, dann darfst du zurück nach Hause kommen. Das ist etwas, was mich sehr deutlich von den Flüchtlingen unterscheidet, die mir dann auch ein Stück weit diese Sicherheit gegeben hat."
"Das ist so komplex"
Nach dem Gespräch im Vereinsheim geht es raus auf den Platz. Cacau bittet alle Spieler zu sich. Cacau kam mit 18 nach Deutschland. Er etablierte sich in der Bundesliga, nahm 2009 die deutsche Staatsbürgerschaft an. Ein Jahr später zählte er zur multikulturellen Nationalmannschaft, die bei der WM in Südafrika den dritten Platz belegte. Der Deutsche Fußball-Bund ernannte ihn zu einem seiner Integrationsbotschafter. Nach Ende seiner aktiven Karriere 2016 stieg er im Verband auf, wurde Integrationsbeauftragter. Cacau ist seitdem viel unterwegs. Gibt Interviews, diskutiert auf Podien, besucht Konferenzen. Ist zu Gast in Hochschulen, bei Stiftungen und vor allem: bei Vereinen.
"Ich lese sehr viel über Integration, was in Zeitungen kommt und teilweise auch in Büchern. Und versuche dadurch, auch meine Meinung zu bilden. Das ist so komplex. Je mehr man sich da reinsteigert, je mehr man recherchiert, desto mehr weiß man, dass es dann auch mit anderen Dingen zusammenhängt. Ich bin jetzt noch mehr politisch interessiert. Weil: Es geht ja nicht nur um Vereine und Migranten und Flüchtlinge. Es geht um mehr: Warum dürfen manche Flüchtlinge bleiben und warum nicht? Das ist politisch. Und wenn sie bleiben dürfen: für wie lange? Das sind alles Dinge, die man recherchieren muss, sonst bleibt man oberflächlich."
Cacau hat als Integrationsbeauftragter des DFB bisher rund sechzig Termine wahrgenommen. Dass ein ehemaliger Nationalspieler mit Migrationshintergrund den Verband politisch repräsentiert, wäre vor einigen Jahren noch nicht vorstellbar gewesen.
Wie ist die Lage nach Özils Rücktritt?
Gerald Asamoah oder Hans Sarpei: Auch andere ehemalige Profis beteiligen sich an der Migrationsdebatte. Von aktuellen Profis war in den vergangenen Monaten wenig zu hören. Der Rücktritt des türkischstämmigen Spielers Mesut Özils aus dem deutschen Nationalteam hat alte Fragen neu aufgeworfen. Wie ernsthaft sind die Integrationsbemühungen im Fußball? Haben Persönlichkeiten wie Cacau tatsächlich Einfluss? Oder erhält er auch Anfragen, die sich als Showeinlagen herausstellen?
"Es gibt schon Menschen, die mich dann einladen und denken, ach, da kommt der Promi, der Fußballspieler, und sind am Ende begeistert, dass doch auch Inhalte dabei waren. Das ist immer mein Ziel, dass ich nicht nur als Ex-Fußballer wahrgenommen werde, sondern als jemand, der wirklich etwas zu sagen hat. Diese ganze Diskussion, auch diese ganzen Begrifflichkeiten: Migrationshintergrund, Migranten, Flüchtlinge. Und so weiter, und so fort. Man braucht, das habe ich gelernt in Deutschland, man braucht Begriffe, um Dingen auch einen Stempel zu geben."
In den Gremien herrscht Nachholbedarf
Einige Jahre hat die Erzählung gut funktioniert: Der Fußball - als Spiegel der Gesellschaft, in der fast ein Viertel der Menschen einen Migrationshintergrund hat. Und es stimmt ja auch, teilweise: Die Bundesligaspieler stammen aus sechzig Nationen, in den Nachwuchszentren haben vierzig Prozent einen Migrationshintergrund. Doch wie sieht es ihn den Führungsgremien aus? In Vorständen, Aufsichtsräten oder Sportgerichten liegt dieser Anteil weit unter zehn Prozent. Zum Beispiel der Berliner Fußball-Verband: Dort haben von fünfzig Angestellten gerade einmal vier eine Einwanderbiografie. Einer von ihnen ist der Betriebswirt Karlos El-Khatib:
"Einerseits brauchen wir Vorbilder, die klar gezeigt werden. Das ist nur ein Schritt von vielen. Also sich einfach nur offen zu zeigen, hilft nicht, sondern man muss Personen mit Migrationshintergrund klar ansprechen. Dass auch sie damit gemeint sind, wenn wir Stellen besetzen wollen. Es braucht wirklich ein offensives Zugehen auf die Menschen."
Karlos El-Khatib ist in Berlin aufgewachsen, sein Vater war in den 80er-Jahren aus Palästina geflüchtet. El-Khatib kam über ein Praktikum zum Berliner Fußball-Verband. Seine Skepsis gegenüber einer vermeintlich homogenen Männerbürokratie verschwand schnell. Er durfte Projekte entwickeln, erhielt eine Festanstellung. Doch in den meisten Gremien kommt es nicht zu Begegnungen mit Menschen, die einen Migrationshintergrund haben. Und so kann kein Verständnis für andere Perspektiven entstehen, sagt Tina Nobis vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, das auch vom DFB gefördert wird.
"Wenn wir heute über Migrationsgesellschaften verhandeln, verhandeln wir ja zum Beispiel auch über Uneindeutigkeiten. Und über Möglichkeiten, zu Vielen dazugehören zu können. Ich denke, dass viele Vereine eben lange Zeit darauf gesetzt haben, auf so ein klassisches altes Ehrenamt. Es gibt diesen Vorstandsvorsitzenden. Und den gibt es halt und gibt es halt und gibt es halt und gibt es halt. So hat sich eine Fahrtabhängigkeit entwickelt von: "Es sind sowieso immer die gleichen.’"
Zögerliche Umsetzung der Ideen
Der DFB hat Ehrenamtliche mit Migrationshintergrund lange vernachlässigt. Und sich erst mit der Flüchtlingsdebatte für das Thema geöffnet: Bei Preisverleihungen, in Broschüren, zuletzt in mehreren großen Konferenzen. Doch nur zögerlich werden die Ideen an der Basis umgesetzt. Viele Vereine nehmen sie als akademische Bevormundung wahr.
Der Berliner Fußball-Verband stellt sich den Herausforderungen auf der Suche nach Ehrenamtlichen: Es gibt Begegnungsfeste und Sozialpreise. Gegnerische Teams können sich beim "Berliner Freunde-Frühstück" kennenlernen. Doch Informationen in anderen Sprachen gibt es nicht. In den Ausbildungen für Trainer, Schiedsrichter oder Sportrichter spielt Integration eine Nebenrolle. Praktika oder Mentorenprogramme für Einwanderer wie in den USA oder Großbritannien gibt es im deutschen Fußball nicht. Doch selbst wenn, eine bloße Beteiligung wäre kein Patentrezept, sagt Özgür Özvatan aus dem Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin.
"Weil in einigen Fällen Personen mit Migrationshintergrund ins Schiedsgericht berufen wurden. Und die dann einen Riesendruck erhalten haben von Migrantenfußballvereinen. Dass sie dann in diesen Entscheidungen immer für 'ihre' Vereine entscheiden sollen. Und diese Dinge sind wir wahrscheinlich gerade dabei zu verhandeln. Das heißt: wirklich Migration und Einwanderung ernst nehmen. Wie gehen wir denn nun vor, wenn ich mich mit einem Vereinsvertreter von einem türkisch geprägten Migrantenfußballverein unterhalten möchte, wenn ich ihn einbinden möchte? Und er lädt mich ein in eine Moschee – wie gehe ich damit um?"
Der Fußball war immer von Migration abhängig
Es sind Fragen, die man schon vor langer, langer Zeit hätte stellen können. So wie Deutschland seit Jahrzehnten eine Einwanderungsgesellschaft ist, so ist der Fußball immer von Migration abhängig gewesen. Der Publizist Hardy Grüne hat diesem Thema eine Titelgeschichte in "Zeitspiel" gewidmet, einem Magazin für Fußball-Geschichte. Darin beschreibt er auch den ersten Fußballverein auf deutschem Boden, den "English Football Club", 1874 gegründet in Dresden.
"Das sind Briten, die in Dresden gelebt haben und da gearbeitet haben, studiert haben. Das sind also Befruchtungen, die von außen kommen. Das betrifft ja die gesamte Fußballgeschichte. Eigentlich geht ja alles von Großbritannien aus. Und wird dann in die einen oder anderen Länder transportiert, in die Schweiz nach Deutschland, später in die ganze Welt. Und so ist es eigentlich logisch. Das heißt: die Wurzeln des deutschen Fußballs kommen aus dem Ausland."
Ende des 19. Jahrhunderts kamen viele Industriearbeiter aus Polen ins Ruhrgebiet. Noch ihre Kinder und Enkel mussten sich als "Polacken" beschimpfen lassen, doch sie prägten ganze Fußballergenerationen. Beim FC Schalke 04 zum Beispiel hießen die prägenden Spieler dieser Zeit Szepan, Kuzorra oder Tibulski.
Hardy Grüne erklärt, "dass die Industrie auch im Ruhrpott sehr schnell erkannt hat, dass dieser Fußball ein sehr hohes Potential für die Menschen hat. Auch um die Menschen an den eigenen Stadtteil und den Arbeitsplatz zu binden. Das ist ja auch die Zeit, wo diese Arbeiterdörfer entstehen im Ruhrpott, direkt neben der Zeche. Und der Fußballverein als gemeinsames Verbindungsglied passt da perfekt."
Auch beim "Wunder von Bern" spielten Migranten
Auch unter den deutschen Weltmeistern von 1954 waren Migranten aus dem Osten Europas: Die Nationalspieler Jupp Posipal, Fritz Laband und Richard Herrmann. Eine der größten Migrationsbewegungen folgte in den 1960er und 1970er Jahren. Rund 14 Millionen sogenannte "Gastarbeiter" kamen in die Bundesrepublik, aus Italien, Spanien und insbesondere aus der Türkei. Die Politik glaubte, dass die Menschen nach getaner Arbeit in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Integrationskonzepte gab es kaum. Auch im Fußball nicht.
"Es gab in den Statuten halt die Absätze, dass keine Ausländer in den deutschen Mannschaften eingesetzt werden durften. Und dann gab es irgendwann ein Ausnahmestatut, dass man Mannschaften bilden konnte, in denen nur Ausländer spielten. Und man hat beim DFB eigentlich alles getan, damit diese Spieler ein bisschen isoliert werden. Und dass hat dann auch dazu geführt, dass sie in eigenen Mannschaften waren. Es gab eigene Meisterschaften. Und eigentlich ist der DFB dann erst so in den 70er-Jahren so langsam mal aufgewacht. Und da war es schon viel zu spät. Da sind schon viele Strukturen verankert gewesen."
Schotten sich migrantische Vereine ab?
Die Folgen der damals fehlenden Konzepte in Politik und Zivilgesellschaft werden noch lange spürbar sein: Ein Drittel der ehemaligen Gastarbeiter über 65 Jahren ist heute von Armut bedroht. Bei Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund liegt dieser Anteil bei zwölf Prozent. Im Sport stehen häufig die 500 Vereine im Fokus, die von Migranten gegründet wurden. Die bekannteren von ihnen: Früher der SC Lupo in Wolfsburg, heute Türkiyemspor in Berlin oder Türk Gücü in München. Oft sind diese – wie sie genannt werden - "ethnischen" Vereine Ziel von Kritik: Sie würden die gesellschaftliche Abschottung festigen, heißt es. Die Migrationsforscherin Tina Nobis plädiert jedoch für Gelassenheit.
"Wenn wir die einzige Linie für Gleichheit entlang des Migrationshintergrundes ziehen, dann verkennen wir, glaube ich, dass das Kategorien sind, mit denen wir auch ein Stück weit immer mehr zur Grenzziehung beitragen. Wenn Migrantensportvereine segregativ sind, dann sind aber auch Seniorensportvereine segregativ und dann sind auch Frauensportvereine segregativ. Und ich glaube, in diesen lokalen kleinen Räumen, da passiert eher Vergemeinschaftung. Und dass Identifikation vielleicht weniger ist: ,Ich fühle mich Deutsch’, sondern: ,Ich fühle mich als Berliner’. Oder: ,Ich fühle mich als Spandauer oder Kreuzberger’."
Migrantisch geprägte Spieler werden diskriminiert
Lokale Studien machen es deutlich: Spieler mit Einwandererbiografie sind überdurchschnittlich oft an Spielabbrüchen beteiligt. Sie werden aber auch häufiger provoziert und diskriminiert. Vor Sportgerichten werden sie manchmal härter bestraft als Spieler ohne Migrationshintergrund. In Verbänden hören sie immer wieder, dass sie sich eingliedern sollen, dabei ist Integration ein wechselseitiger Prozess. Die Konsequenzen: Etliche Migranten fühlen sich auf ihre Wurzeln reduziert. Sie ziehen sich zurück ins eigene Milieu oder ändern ihren Vereinsnamen. Aus Galatasaray Berlin wurde der Rixdorfer SV, aus Samsunspor der FC Kreuzberg. Silvester Stahl von der Fachhochschule für Sport und Management in Potsdam beschäftigt sich seit Jahren mit Migrantenvereinen.
"Man muss sie eben auch vergleichen mit anderen ethnischen Organisationen. Zum Beispiel mit Kulturvereinen, mit politischen Organisationen, mit Elternvereinen oder religiösen Gruppen wie den Moscheevereinen. Und in diesem Vergleich schneiden sie dann eben außerordentlich gut ab. Weil sie eben in aller Regel auf die Strukturen der Aufnahmegesellschaft, nämlich die Landesfußballverbände, bezogen sind. Weil sie so was wie eine Brückenfunktion ausüben. Weil sie am allgemeinen Spielbetrieb teilnehmen."
Keine Debatten über die Fankultur
Frankfurt am Main, Stuttgart oder Köln sind Städte, in denen mehr als ein Drittel der Einwohner einen Migrationshintergrund haben. Doch in den Fankurven ihrer Profivereine spiegelt sich diese Vielfalt nicht wieder. Repräsentative Studien gibt es nicht, doch lokale Forschungen legen nahe: Bei den Ultras, den besonders leidenschaftlichen Anhängern, haben maximal zwei Prozent eine Einwanderbiografie.
Die Vorliebe für einen Fußballverein wird vererbt, heißt es oft, durch Familien und Freundeskreise. Das gilt für junge Menschen, die fürs Studium aus Dortmund nach München ziehen, und weiter die Borussia unterstützen. Das betrifft auch Jugendliche, deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei stammen. Und die ihre Leidenschaft für Besiktas oder Galatasaray Istanbul über Generationen weitertragen. Viele von ihnen fühlen sich mit zwei Ländern verbunden. Doch eine solche Mehrfachzugehörigkeit ist im Fußball kaum möglich, sagt der Berliner Fanforscher Robert Claus. Denn dort herrsche Bekenntniszwang.
"Es gibt keinen Ultra, der Ultra von zwei Vereinen ist. Kann es gar nicht geben per Definition, weil man ja bis in den Tod laut Eigenverständnis mit einem Verein geht. Eine ähnliche Logik liegt eigentlich hinter Nationalismus. Das heißt, die Idee, dass ich entweder Deutscher oder Türke bin, und eigentlich irgendwas dazwischen laut nationalistischer Logik kaum sein kann, weist eine starke strukturelle Parallele zu Fan-Denken auf."
Es gibt keine Debatte über die eher homogenen Fankurven. Nicht in den Vereinen, nicht in der Wissenschaft, nicht mal in den pädagogischen Fanprojekten. Die ersten beiden Ligen vermelden regelmäßig Zuschauerrekorde, viele große Vereine sind nicht auf neue Kunden angewiesen. Doch Carsten Blecher, Mitarbeiter des Kölner Fanprojekts, möchte deutlich machen, wie wichtig eine gesellschaftliche Öffnung wäre. In Forschungen an der Universität Siegen zeigt er, dass die Klubs durchaus einen Querschnitt der Gesellschaft anziehen, was Altersspanne oder Bildungshintergrund angeht. Doch in kulturellen Fragen seien die Klubs ungewollt abschreckend.
"Es gibt dann so eine Fußballkultur, die ja lokal oder vielleicht auch national geprägt ist. So dieses ganze Kulinarische drum herum: Bier und Bratwurst, Gesänge oder auch Vereinshymnen, mit denen sich jetzt auch nicht jeder direkt identifizieren kann. Wie sehr man dann doch unter sich bleibt, dadurch, dass man alles so lässt, wie es ist und immer an bestimmten Traditionen festhält. Und möglicherweise gar nicht mitbekommt, dass sich die Gesellschaft verändert. Und man darauf gar nicht reagiert als Klub."
Im Stadion bleiben die Deutschen unter sich
Carsten Blecher hat bei Heimspielen des 1. FC Köln Fragebögen verteilt und später ausführlich mit Fans gesprochen. Eine junge Frau mit türkischen Wurzeln sagte ihm, dass sie sich in den Stadien nicht wohl fühle. Denn dort, "würden die Deutschen unter sich bleiben" wollen. Zudem spielt die Geschichte der Fankultur eine Rolle, zu der stets Provokation und Diskriminierung gehörten. Der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling sieht einige Ursachen für die Feindseligkeit gegenüber Migranten bereits in den 70er-Jahren.
"Wir setzten uns für ihre Belange ein, als es um ihre miserablen Wohnungen ging, aber wir kannten sie eigentlich gar nicht. Und was ich noch in Erinnerung habe aus dieser Zeit: Ausländer und Türken das war damals ein Synonym. Also, es ging nicht so um Italiener, nicht um Jugoslawen, nicht um Spanier, sondern es ging immer um die Türken. Das manifestierte sich auch im Stadion. Ich kann mich eigentlich an kein Spiel erinnern, ich bin ja damals viel auch mit Borussia Dortmund gefahren, auch bei Heimspielen gewesen, wo nicht irgendein Spruch gegen die Türken kam. Obwohl weder ein Türke auf dem Spielfeld war. Auf den Rängen gab es auch keine Türken, aber es gab ,Türken-Raus‘-Rufe. Rassismus war absolut präsent."
Vor allem in den 1990er Jahren machten rechte Hooligans dann regelmäßig Jagd auf Migranten. Vom "Ausländer-Klatschen" war die Rede. In den Stadien wurden gegnerische Spieler als "Asylanten" bezeichnet. Dietrich Schulze-Marmeling hat 2018 ein Buch über den "Fall Özil" veröffentlicht:
"Und ich glaube, dass in den 90er-Jahren solche Sachen wie Mölln und Solingen, Anschläge, die sich gegen die türkischstämmige Bevölkerung richteten. Die NSU-Geschichte dürfen wir auch nicht vergessen, acht der neun Opfer waren Türkischstämmige. Dann der Umgang des Staates mit der ganzen Sache. Und auch die mangelnde Sensibilität, die mangelnde Empathie von uns, der Mehrheitsgesellschaft, die hat, glaube ich, bei der türkischen Communty Dinge verändert, die sich uns komplett entzogen haben, die wir gar nicht realisiert haben."
Kaum eine andere Jugendkultur ist so beständig
Nun in Zeiten des erstarkenden Rechtspopulismus könnten Bundesligaklubs offensiv auf migrantisch geprägte Kieze zugehen, findet der Forscher Robert Claus, doch oft seien ihnen solche Projekte zu kleinteilig. Das Interesse der Klubs zielt eher auf Asien oder Amerika. Trotzdem gibt es Bildungsinitiativen wie "Lernort Stadion", die intensiver über Fußball und Migration diskutieren wollen. Im Umfeld von Hertha BSC kommt der Ethnologe Söhnke Vosgerau mit Jugendlichen ins Gespräch. Auch über Rituale der Fankultur.
"Es gibt kaum eine andere Jugendkultur, die so beständig ist. Und genauso beständig sind auch einige von den, sagen wir mal, Zugangsvoraussetzungen. Die stellen, glaube ich, für viele Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, eine große Hürde dar. Und sie sind auch vielleicht gar nicht attraktiv. Es wird eine sehr, sehr große Loyalität und ein sehr großer Einsatz gefordert. Das heißt, da wird einfach nicht jeder aufgenommen, da muss man sich irgendwie bewähren. Da muss man Leute kennen, die da schon dabei sind. Und das, glaube ich, führt alles schon dazu, dass diese Gruppen relativ geschlossen sind."
Wann steht der erste Nationalspieler mit Fluchterfahrung auf dem Platz?
Vieles ist seit der Weltmeisterschaft 2006 beim DFB umgesetzt worden: Konferenzen, Integrationspreise, Broschüren. Doch noch immer gibt es Fans, die sich beschweren, wenn Nationalspieler mit Migrationshintergrund die Hymne nicht mitsingen. Noch immer gibt es Vereinsvertreter, die Traditionen von Einwanderern zurückweisen, ihre Feiertage, Fastenzeiten oder Essgewohnheiten. Wissenschaftler wie Özgür Özvatan wünschen sich ein Forum für Migrantenorganisationen, organisiert durch den DFB. In dem man Erfahrungen austauschen und Ideen entwickeln kann.
"Deswegen ist Repräsentanz ein ganz zentraler Begriff. Ich glaube auch, in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren wird es den ersten Nationalspieler oder die erste Nationalspielerin mit Fluchterfahrung geben. Aus der Migrationsbewegung der letzten Jahre."
Nationalstaatliche Regeln und die Globalisierung
Seit 2015 sind mehr als 70.000 Flüchtlinge in deutschen Vereinen angekommen. Manchmal haben sie dort schrumpfende Jugendabteilungen am Leben gehalten. Aber reicht das? Laut den Vereinten Nationen leben weltweit fast 260 Millionen Menschen nicht mehr in ihrem Geburtsland, ein Anstieg von fünfzig Prozent gegenüber dem Jahr 2000. Knapp siebzig Millionen Menschen sind auf der Flucht. Wirtschaft und Kommunikation sind ohnehin längst globalisiert. Macht es da noch Sinn, wenn im Fußball Nationen gegeneinander antreten? Getrennt durch Flaggen, Hymnen und patriotische Gesänge? Warum können Spieler, die sich mehreren Ländern verbunden fühlen, nicht für mehrere Nationen spielen?
"Momentan ist es undenkbar", sagt Özgür Özvatan. "Aber es könnte ja auch sein, dass ein Spieler bei einer EM für Frankreich spielt und bei der nächsten WM für Spanien. Natürlich muss das alles reguliert werden in irgendeiner gewissen Form. Aber die nationalstaatliche Regel momentan ist ja auch eine Regulierung, die zu gewissen Zeit vielleicht auch undenkbar gewesen ist. Und wir sind, glaube ich, an einem historischen Moment, wo wir damit brechen. Es wird wahrscheinlich zäh sein. Und es wird wahrscheinlich völkische Bewegungen geben, die sich die ethnisch zusammengesetzten Nationalmannschaften sich wünschen, aber es ist tatsächlich nicht zeitgemäß."
Eine Chance für mehr Miteinander
Ob Cacau oder Gerald Asamoah, ob Mesut Özil oder Jérôme Boateng, Sami Khedira oder Leroy Sané: Immer wieder wurden Nationalspieler diskriminiert, auf den Tribünen oder in sozialen Medien. Wenn das Nationalteam erfolgreich spielte, wurde der Rassismus in den großen Medien kaum diskutiert. Seit dem frühen Scheitern bei der WM in Russland ist das anders.
Darin liegt eine Chance, auch mit Blick auf die Europameisterschaft 2024 in Deutschland. Eine Chance für mehr Miteinander. Im Fußball, in der Gesellschaft.