Wenn der Wein schon vor der Segnung getrunken wird
Viele jüdische Gemeinden in Deutschland haben sich zunächst über die kräftige Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion gefreut. Denn sie brachte neue Mitglieder. Aber die kulturellen Unterschiede waren riesig. Die Gemeinden merken das bis heute.
Benzion Wieber: "Diese Vereinbarung, die damals getroffen wurde zwischen Bundeskanzler Kohl und Heinz Galinski halte ich für eine der größten Vereinbarungen, die in der deutschen jüdischen Nachkriegsgeschichte gemacht worden sind. Die Gemeinden waren biologisch unten, sie wären immer kleiner geworden. Und wir haben gehofft, dass mit der jüdischen Einwanderung aus der Sowjetunion/ Ex-Sowjetunion die Gemeinden sich wieder beleben könnten."
1.200 Mitglieder hatte die Kölner Synagogengemeinde als Benzion Wieber 1988 sein Amt als ihr Geschäftsführer antrat. Anfang 1991 kamen dann in einem zwischen Bund und Ländern verabredeten geregelten Verfahren Juden aus allen Regionen der damals noch existierenden UdSSR.
Vor knapp zwei Jahren, als sich Benzion Wieber offiziell in den Ruhestand verabschiedete, hatte sich die Mitgliederzahl der Synagogengemeinde zu Köln vervierfacht auf fast 5.000 Mitglieder. Viele der Neuen hatten studiert: unter ihnen waren Wissenschaftler, Ingenieure, Architekten, Ärzte, Künstler und Komponisten. Es war nicht die erste Gruppe von Flüchtlingen, die die Gemeinde in ihre Reihen aufgenommen hatte, aber diese war anders als alle anderen:
"Wir haben geglaubt, es kommen jetzt - so wie früher - die polnischen, die ungarischen, die rumänischen, die tschechischen, es kommen jüdische Leute mit jüdisch-religiösem Background. Und das kam nicht, sondern es kamen erst mal Leute, die jüdisch waren, die aber ganz andere Vorstellungen hatten. Die wollten nicht in den Heimen oder auf den Schiffen wohnen, die wollten eine richtige Wohnung haben, die wollten ein bisschen verdienen, die wollten für die Kinder eine gute Ausbildung haben. Und dann kam mal für die ganz am Ende die Religion."
"Wir haben geglaubt, es kommen jetzt - so wie früher - die polnischen, die ungarischen, die rumänischen, die tschechischen, es kommen jüdische Leute mit jüdisch-religiösem Background. Und das kam nicht, sondern es kamen erst mal Leute, die jüdisch waren, die aber ganz andere Vorstellungen hatten. Die wollten nicht in den Heimen oder auf den Schiffen wohnen, die wollten eine richtige Wohnung haben, die wollten ein bisschen verdienen, die wollten für die Kinder eine gute Ausbildung haben. Und dann kam mal für die ganz am Ende die Religion."
Zuwanderer kannten sich wenig mit jüdisch-religiösen Bräuchen aus
Tatsächlich konnten überall in Deutschland nur wenige ihre früheren Karrieren fortsetzen. Die beruflichen Abschlüsse wurden oft nicht anerkannt. Von den Älteren blieben viele arbeitslos und wurden von Sozialhilfe abhängig. Synagoge und Gemeindezentrum besuchten sie dann vor allem, um Abwechslung in ihr Leben zu bringen.
Im Vielvölkerstaat Sowjetunion stand "jüdisch" als Nationalität im Pass. Jüdische Gemeinden gab es nicht, Synagogen nur vereinzelt. Religion konnte zumeist nicht gelebt werden. Dafür gab es Literatur, Kunst und Musik. Mit jüdisch-religiösen Bräuchen kannten sich die Zuwanderer deshalb nicht gut aus, oft fehlte und fehlt auch das Verständnis dafür.
So kann es vorkommen, dass das Büffet für das gemeinsame Essen nach dem Schabbat-Gottesdienst bereits angebrochen ist, bevor der Segen über Wein und Brot gesprochen wurde. "Die Russen kommen nur zum Essen" ist ein typischer Kommentar von Alteingesessenen über die Gewohnheiten der gar nicht mehr so neuen Neuankömmlinge.
Julia Bernstein, Professorin an der Frankfurter Universität für angewandte Wissenschaften erklärt, warum manchmal auch das Erklären nicht fruchtet:
"Das ist tatsächlich so, dass viele Menschen wirklich jüdische Tradition nicht kennen, gleichzeitig aber sind sie als erwachsenen Menschen oft überhaupt nicht bereit als Kinder behandelt zu werden, dass sie entmündigt werden, selbst dann wenn sie das nicht kennen, und das ist der Fall. Aber man muss, glaube ich, den sensiblen Weg finden, dass Menschen anspricht, dass sie begreifen, was passiert und sich tatsächlich als Teil des Ganzen sehen."
"Das ist tatsächlich so, dass viele Menschen wirklich jüdische Tradition nicht kennen, gleichzeitig aber sind sie als erwachsenen Menschen oft überhaupt nicht bereit als Kinder behandelt zu werden, dass sie entmündigt werden, selbst dann wenn sie das nicht kennen, und das ist der Fall. Aber man muss, glaube ich, den sensiblen Weg finden, dass Menschen anspricht, dass sie begreifen, was passiert und sich tatsächlich als Teil des Ganzen sehen."
Mancherorts scheint es diese Sensibilität zu geben, in anderen Gemeinden wurde irgendwann die Machtfrage gestellt und entschieden. Dabei blieben dann in der Regel die sogenannten Alteingesessenen vor der Tür. Allerdings hauchten die Zuwanderer den Gemeinden im Laufe der Jahre ein neues, vielfältiges Leben ein. Sie trafen sich in Schach- und Literatur-Clubs, verabredeten sich zu Wissenschaftler-Zirkeln, gründeten Chöre und Musik-Ensembles, wurden künstlerisch aktiv und pflegten nicht zuletzt ihre mitgebrachte Kultur.
Die zweite Generation geht gelassener aufeinander zu
Aber sie begegneten auch jüdisch-religiösen Traditionen. Und für rund 20 Prozent von ihnen wurden die wichtig. Die 31-jährige Soziologin Olga Goldenberg aus Halle an der Saale, glaubt, dass die Dissonanzen weitgehend auf eine Altersgruppe beschränkt sind:
"Ich glaube, in vielen jüdischen Gemeinden hat sich relativ schnell eine Resignation eingestellt als man gemerkt hat, mit wem man es eigentlich zu tun hatte. Das hört man irgendwie bis heute, dass das Thema Alteingesessene und Neue nach wie vor so präsent ist, und dass man sich immer noch so als zwei verschiedene Gruppen sieht. Wenn ich mir die Jugend ansehe in den Gemeinden kann ich das nicht beobachten, aber bei der älteren Generation ist es noch ein ganz, ganz großes Thema."
In den Seminaren und Kollegs des Ernst-Ludwig-Ehrlich Studienwerks für jüdische Begabtenförderung - kurz ELES - kommen junge Leute zusammen mit ganz unterschiedlichen familiären Herkünften. Zwischen den rund 500 jüdischen Studierenden, die in Deutschland Hochschulen und Universitäten besuchen, scheinen die Unterschiede wesentlich kleiner zu sein: Europäer, Israelis, junge Juden aus Deutschland, sogenannte Alteingesessene und - die größte Gruppe von allen - Kinder von Zugewanderten aus der ehemaligen Sowjetunion. Dmitrij Belkin, Historiker und Referent bei ELES:
"Die kommen meistens aus Familien, die sehr wenig traditionell jüdisch gestimmt waren. Aber man merkt, dass diese Werte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - ob in der Sowjetunion, ob in Israel, in Amerika oder in Deutschland - im Prinzip sich in diesem jüdischen Milieu nicht wesentlich voneinander unterschieden haben. Und das ist ein gefährlicher Mythos zu sagen, die da hinter dem Eisernen Vorhang hatten keine Ahnung. Auch wenn das Judentum nicht religiös definiert war sind sie bewusst jüdisch, die meisten von ihnen. Sie suchen jüdischen Pluralismus, sie suchen jüdische Vielfalt. Aber gleichzeitig verstehen sie das als eine Basis ihres Lebens."
"Die kommen meistens aus Familien, die sehr wenig traditionell jüdisch gestimmt waren. Aber man merkt, dass diese Werte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - ob in der Sowjetunion, ob in Israel, in Amerika oder in Deutschland - im Prinzip sich in diesem jüdischen Milieu nicht wesentlich voneinander unterschieden haben. Und das ist ein gefährlicher Mythos zu sagen, die da hinter dem Eisernen Vorhang hatten keine Ahnung. Auch wenn das Judentum nicht religiös definiert war sind sie bewusst jüdisch, die meisten von ihnen. Sie suchen jüdischen Pluralismus, sie suchen jüdische Vielfalt. Aber gleichzeitig verstehen sie das als eine Basis ihres Lebens."