Wo stehen wir beim "Wir schaffen das"?
Der Begriff Integration werde zu oft technisch gesehen, kritisiert Esra Küçük vom Berliner Maxim-Gorki-Theater. Er bedeute viel mehr, als nur die Sprache zu lernen, Wohnung und Arbeit zu finden. Es gehe auch darum, ein gewisses Heimatgefühl für das neue Land zu entwickeln.
Dieter Kassel: 65 Millionen Menschen sind laut UN-Flüchtlingsrat zurzeit weltweit auf der Flucht. Und dann muss man dann doch mal feststellen, dass nur ein sehr kleiner Teil davon nach Deutschland gekommen ist. Aber aus deutscher Sicht waren es doch sehr viele, die seit September 2015 zu uns gekommen sind. Wie viele genau, das kann man schon nachzählen, schwieriger zu beantworten ist allerdings die Frage: Wie viele von denen sind inzwischen wirklich angekommen, wie viele sind integriert?
Das ist deshalb heute und morgen Thema auf dem Integrationskongress der Friedrich-Ebert-Stiftung, an dem unter anderem auch Esra Kücük teilnimmt. Sie ist Mitglied des Direktoriums des Berliner Gorki Theaters und leitet seit einem Jahr auch das Gorki Forum, aber mit dem Thema Integration beschäftigt sie sich theoretisch und praktisch schon viel länger, auch schon länger als seit September 2015. Schönen guten Morgen, Frau Kücük!
Hamburger Integrationstagung: "Angekommen" - und was dann?
Esra Kücük: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Kassel: Dieser Kongress, ich habe das Wort "angekommen" nicht zufällig benutzt, dieser Kongress trägt den Titel "Angekommen". Aber was bedeutet das? Wenn Sie oder ich in einer fremden Stadt aus dem Zug steigen, schicken wir vielleicht eine SMS – "Bin gut angekommen!" –, aber was bedeutet es für einen Geflüchteten, für eine Geflüchtete, wirklich in Deutschland anzukommen?
Kücük: Ich glaube, "ankommen" ist natürlich ein großer Begriff. Ich glaube, ankommen heißt Teilhabe. Das heißt, an den gesellschaftlichen Prozessen mit teilzunehmen, das heißt, die Sprache zu sprechen, in den Arbeitsmarkt, in die Bildungsinstitutionen einen Zugang zu bekommen und vor allem eben auch auf dem Wohnungsmarkt et cetera.
Kassel: Das ist interessant, diese drei Punkte hätte ich auch genannt, daran denken wir alle sofort: Sprache lernen, Wohnung beziehen, Arbeit finden. Das ist ja gar nicht einfach, aber selbst wenn das gelingt: Ist das schon alles? Ist jemand, auf den diese drei Punkte zutreffen, tatsächlich schon automatisch integriert?
Kücük: Ja, ich glaube, wir benutzen den Begriff in der Wissenschaft noch ein bisschen anders. Da gibt es klare Indikatoren und da sind einige von denen, die wir gerade angesprochen haben, wichtig. Und hinzu kommen eben noch weichere Faktoren, die was mit Identifikation zu tun haben, also mit Gefühlen, mit der Frage von "Wie sehr fühle ich mich auch irgendwo beheimatet?"
Sie haben gerade die Menschen, die vor einem Jahr, ein bis zwei Jahren zu uns gekommen sind jetzt in den Jahren 2015 und 2016, angesprochen. Ich glaube, da messen wir jetzt erst mal die Integration noch auf einer Ebene von: Inwiefern passt es in die verschiedenen Bereiche. Weil, da stehen wir ja noch am Anfang. Wir sehen, dass Integration ein langer Prozess ist, und den können wir immer erst auf so Zeitachsen wie zehn Jahren messen.
Anfangseuphorie und pessimistische Bilder
Kassel: Aber langer Prozess, das ist ein wichtiges Stichwort, glaube ich, Frau Kücük … Haben wir alle dafür wirklich die Geduld? Und hier meine ich ausnahmsweise alle, das heißt die Geflüchteten, die, die sich mit ihnen beschäftigen, und die, die das alles nur beobachten. Ich habe so das Gefühl, diese Anfangseuphorie, die es im Herbst 2015 mal gab, die ist selbst bei vielen positiv eingestellten Menschen inzwischen verflogen?
Kücük: Sie haben recht, wenn wir uns an die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof erinnern von Menschen, die sich ganz viel engagiert haben, die Vereine, glaube ich, verzeichnen einen Anstieg von 70 Prozent in den letzten drei Jahren von Menschen, die gesagt haben, ich gehe hier direkt in die Erstversorgung mit rein -. dann haben wir viele sehr pessimistische Bilder, sehr viele angstbeladene Bilder gesehen. die rassistischen Übergriffe haben sich verdoppelt in den letzten zwei Jahren, wir erinnern uns alle an so Bilder wie Heidenau, Freital, Bautzen.
Aber ich glaube, jetzt – und da würde ich Ihnen sozusagen ein wenig widersprechen – hat sich so eine Art Pragmatismus eingestellt, dass wir von diesem "Wir schaffen das!" übergegangen sind, einfach, jetzt sind diese Menschen da und jetzt müssen wir auch was machen. Und ich glaube, das Integrationsgesetz, das wir verabschiedet haben, das gesagt hat, wir bieten direkt Sprachkurse und Integrationskurse an, war sehr sinnvoll, weil, wir starten ja nicht in Deutschland bei null. Dass wir sagen, wir lernen das jetzt zum ersten Mal, wie man Menschen in Integrationsprozesse bringt, sondern wir haben da ja eine lange Tradition und einen Erfahrungswert. Und haben verstanden, dass, je schneller wir uns für Integrationsmaßnahmen entscheiden und auch richtig investieren, umso mehr profitieren wir als Gesamtgesellschaft davon.
Was stellen sich Neuankömmlinge unter Integration vor?
Kassel: Jetzt reden wir, finde ich – und das tut man natürlich leicht, wenn man schon sehr lange in diesem Land lebt oder vielleicht schon immer –, jetzt reden wir eigentlich darüber, was wir, sozusagen die Aufnahmegesellschaft, was wir uns unter Integration vorstellen. Ist das immer exakt dasselbe wie das, was sich neue Menschen, die hier ankommen, Neuankömmlinge darunter vorstellen?
Kücük: Ich glaube, der Begriff Integration ist sehr technisch gesehen. Ich glaube, Menschen, die hier neu ankommen, da geht es ja vor allem, wenn sie traumatisiert sind, wenn sie aus Flucht, also aus Kriegsgebieten kommen, darum, erst mal einen Ort der Sicherheit zu finden, einen Ort zu finden, wo sie ihre Familienmitglieder in Sicherheit haben können.
Wir haben momentan das Problem, dass wir zwar auf der einen Seite bemerken, dass hier besonders viele alleinstehende Männer nach Deutschland gekommen sind, gleichzeitig verwehren wir ihnen den Familiennachzug. Das heißt, da ist ja was, was sozusagen ein Sicherheitsgefühl betrifft, nicht unbedingt alles gemacht, was wir hätten machen können.
Wir haben momentan das Problem, dass wir zwar auf der einen Seite bemerken, dass hier besonders viele alleinstehende Männer nach Deutschland gekommen sind, gleichzeitig verwehren wir ihnen den Familiennachzug. Das heißt, da ist ja was, was sozusagen ein Sicherheitsgefühl betrifft, nicht unbedingt alles gemacht, was wir hätten machen können.
Kassel: Gehört zu einem realistischen Integrationsprozess vielleicht auch mittelfristig oder spätestens langfristig, festzustellen, es sind nicht 100-prozentig alle Menschen integrierbar?
Kücük: Na ja, wenn wir uns jetzt gerade mal anschauen: Wir haben ja jetzt mittlerweile Wissen dazu. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat uns eine Hochrechnung in den letzten Monaten mal aufgezeichnet, wie sich die neu Angekommenen in den Arbeitsmarkt integrieren werden. Da sehen wir, dass diese Zahl höher ist, wenn wir jetzt mehr in den Spracherwerb und in die Bildungsabschlüsse investieren.Wir sehen, dass, wenn wir gar nichts machen, 70 Prozent auf dem Arbeitsmarkt sich integrieren werden dort, dass wir, wenn wir in fünf, sechs bis zehn Jahren uns das noch mal anschauen, die Erfolgsgeschichten erzählen können und Aufsteigerbiografien beobachten können.
Aber wir sehen auch, dass, wenn wir jetzt mehr investieren, diese Zahl viel mehr steigt und dass uns daran gelegen ist, genau das auch zu tun, nämlich diese Übergänge jetzt in den Bildungsbereich und in den Arbeitsbereich so gut wie möglich sicherzustellen.
Kassel: Frau Kücük, vielen Dank für das Gespräch! Schöne Grüße nach Hamburg, wo Sie im Moment ja noch sind!
Kücük: Okay.
Kassel: Esra Kücük war das, sie ist die Leiterin des Gorki Forums am Berliner Maxim Gorki Theater und sie ist eine von ziemlich vielen Teilnehmern und Teilnehmerinnen am heute und morgen Berlin stattfindenden Integrationsgipfel der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.