Die Integrationsexperten

Was man braucht, um anzukommen

30:03 Minuten
Zwei Schülerinnen in einem Integrationskurs des BAMF.
Integrationskurse sollen helfen, in Deutschland anzukommen. Letztlich kommt es aber auf die Menschen an, die die Geflüchteten in ihrem Alltag in Deutschland treffen. © picture alliance / dpa / Sophia Kembowski
Von Elin Hinrichsen · 14.05.2023
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Knapp zwei Millionen Geflüchtete leben in Deutschland, die meisten kommen aus Syrien. Sie nehmen an Programmen zur Eingliederung teil, nicht alle mit Erfolg. Was hilft wirklich beim Ankommen? Niemand weiß das besser, als die, die es geschafft haben. (Erstsendung am 1.1.22)
Fatemah ist 27 Jahre alt, sie kommt aus Syrien. Dort hat sie Bauzeichnerin gelernt. In Deutschland setzt sie die Ausbildung fort, sie ist inzwischen im zweiten Ausbildungsjahr. Für ihr berufsbegleitendes Praktikum verbringt sie viele Wochen im Bildungszentrum des Baugewerbes in Düsseldorf und lernt unter anderem das Mauern.

"Ich wollte mich nicht dumm fühlen"

Im dicken Pulli, Latzhose und schweren Arbeitsschuhe zeigt sie auf die zwei Meter hohe Mauer, die sie gebaut hat, so richtig mit Matsch und Mörtel. Die Klamotten und das Kopftuch sind voller Staub und Dreck. „Ich muss ja sagen, es macht mir so viel Spaß, hier zu sein", erzählt sie. "Ich habe so viele praktische Erfahrungen gemacht. Ich lerne viele Sachen, die ich nie vorher gemacht habe.“
Fathemah steht neben ihrer Chefin im Büro. Sie trägt Turnschuh und Kopftuch. Beide lächeln in die Kamera.
„Alle sind supernett." Fatemah mit ihrer Chefin Melanie Wachenfeld-Schöpp.© Deutschlandradio / Elin Hinrichsen
Fatemah strahlt, sie ist in ihrem Element. Dass sie ihre Ausbildung erfolgreich abschließen wird, daran zweifelt niemand. Am allerwenigsten der Ausbilder der Bauzeichnerklasse. Er hat Fatemah unterstützt auf eine Weise, die für ihn selbstverständlich war, für Fatemah aber nicht.
„Ich hatte gar keine Ahnung. Und als ich das erste Mal hierhergekommen bin, habe ich mich mit Herrn Schneider getroffen und er hat mir alle Ausbildungspläne ausführlich erklärt." Das habe ihr sehr geholfen. "Ich wollte mich nicht so dumm fühlen und die Einzige sein, die nichts versteht.“
Ausbildungsleiter Schneider ist Fatemahs „Integrationsengel“. Wie er zu der Ehre kommt? Er staunt darüber. Ich finde das ganz selbstverständlich, egal, aus welchem Herkunftsland meine Schüler kommen. Gerade Fachbegriffe sind auch für Deutsche nicht immer klar erkennbar, da erkläre ich eben, wie es funktioniert.“

Jeder Mensch braucht einen Engel

Ein Mensch, der das Naheliegende tut, nämlich empathisch und zielgerichtet diejenigen fördert, die seine Hilfe brauchen. Auch Ismael Fernandez konnte auf so einen Engel bauen, als er vor acht Jahren in Nordrhein-Westfalen neu angefangen hat.
„Du brauchst jemand, der dir sagt: Hey, Bruder, in Deutschland musst du das so und so machen, sonst geht nichts", sagt Ismael. Der 32-Jährige kommt aus Guinea, Westafrika. Anders als Fatemah, die aus Syrien und damit aus einem Kriegsgebiet kommt, hat Ismael nur eine sogenannte Duldung. Er kann also jederzeit abgeschoben werden. Dabei hat er bereits eine Ausbildung als Mechatroniker für Kältetechnik absolviert.
Ismael Fernandez steht vor einem Transporter der Firma ONI
Trotz Ausbildung nur eine Duldung: Ismael Fernandez bei der Firma ONI© Deutschlandradio / Elin Hinrichsen
Sein Kollege und Engel Attila Abasi hat ihn auf seinem Weg unterstützt. „Ich habe ihm halt gezeigt, wie man sich so verhält, wenn man vielleicht in Deutschland weiterleben will", erklärt er. "Dass man hier eine Ausbildung braucht, sonst kommt man nicht weiter. Ich habe ihm diese Wichtigkeit damals weitergegeben – und das hat er alles wunderbar gemacht.“

 Ein Held für die Familie aus Afghanistan

Die vierköpfige Familie Hekmat aus Afghanistan hat es vor zwei Jahren nach Baden-Württemberg geschafft. Wie? Warum? Sie hatten von Anfang einen Engel an ihrer Seite: Hans Steimle. Er ist Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft evangelische Jugendsozialarbeit (BAG Ejsa). Er hat Hamid Hekmat 2016 auf einer Messe in Deutschland kennengelernt.
Hamid war damals Geschäftsführer bei einer gemeinnützigen Organisation, die sich für berufliche Bildung und Gesundheit für Frauen in Afghanistan eingesetzt hat. „Wir haben schöne Teppiche gemacht und in die USA geschickt und verkauft, teuer. Wir haben dieses Geld zurückgebracht nach Afghanistan, wir hatten Schulen und drei Kindergärten für über 500 Frauen“, erzählt Hamid stolz.
Aber damit ist 2016 Schluss, die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert sich und die Familie wird bedroht. Das große Haus, den Garten, das schnelle Auto: Die Familie lässt alles zurück, flüchtet zuerst in die Türkei und später nach Deutschland.
Hans Steimle setzt alle möglichen Hebel in Bewegung, um seinem Berufskollegen Hamid und dessen Familie nach Deutschland zu helfen. Er vermittelt Mariam – sie ist Ärztin – 2017 ein Praktikum in einem Göppinger Krankenhaus. Es ist seine Idee, dass sie als erste aus der Türkei nach Deutschland kommt: Als Frau hat sie die besten Chancen, den Antrag auf Asyl genehmigt zu bekommen.
Und am 30. Januar 2019 begleitet Hans Steimle Mariam Hekmat zum Flughafen, wo sie ihren Mann und die beiden Söhne nach mehr als einem Jahr wieder in die Arme schließen kann. Mariam und Hamid sind sich einig:
„Er ist einfach unser Held. Ohne ihn können wir uns unser Leben nicht vorstellen. Ohne ihn wäre es nicht möglich, die Herausforderungen zu bestehen. Es ist sehr schwer, sich in Deutschland ein Leben aufzubauen und ein normales Leben zu führen.“

Menschen sind hilfreicher als Kurse

Mariam hat inzwischen fast alle Hürden genommen und sucht eine Stelle als Ärztin. Hamid hat bereits eine Arbeit in einer Beratungsstelle gefunden. Die beiden Söhne gehen zur Schule und lernen. Hans Steimle grinst, als er das Kompliment der Hekmats hört. Es tut gut. Er hat schon vielen Menschen beim Ankommen geholfen.
„Ich habe ein christliches Grundverständnis, dass Sorge zu haben, sich zu kümmern zu meiner Vorstellung gehören. Von daher ist für mich bürgerliches Engagement eine Selbstverständlichkeit.“
Entscheidend ist es, jemanden an der Seite zu haben, der sich auskennt und hilft. So wie Hans Steimle. So wie Attila, der Ismael aus Guinea unter seine Fittiche nimmt oder wie Ausbilder Schneider, der die 27-jährige Fatemah aus Syrien dabei unterstützt, Bauzeichnerin zu werden.
Solche Menschen sind hilfreicher als die Sprachkurse, in denen Grammatik, aber nicht das Sprechen geübt wird. Oder als behördlich angeordnete Bewerbungstrainings, bei denen ein Lebenslauf nach deutschem Schema herauskommt, obwohl das Leben der Geflüchteten nicht in dieses Schema passt.

Sind Akten das Wichtigste in Deutschland?

Das größte Hindernis für eine erfolgreiche Integration aber ist die deutsche Bürokratie. Davon können alle erzählen: Fatemahs Bruder, der minderjährig aus Syrien nach Deutschland flieht, wird eine Beraterin vom Jugendamt zugeteilt, die sich nicht um ihn kümmert. Er darf nicht zur Schule gehen, bekommt keinen Sprachkurs.
Als die Mutter es schafft, sich nach Deutschland durchzuschlagen, kommt sie in einer anderen Stadt als ihre Kinder an. Die Behörden sehen sich außerstande, Fatemah, ihren Bruder und ihre Mutter als eine Familie zu behandeln. Die Message, die bei der Familie ankommt: Akten sind in Deutschland wichtiger als Menschen.
Zurzeit verzweifelt Fatemah daran, dass sie zwar verheiratet ist, die Heirat aber in Deutschland nicht anerkannt wird. „Ich muss alles mit Papieren beweisen. Aber die Papiere kann ich nicht bekommen!“ Es fehlen Urkunden aus Syrien. „Das war ein Schock für uns, was wir alles für Unterlagen brauchen: Geburtsurkunde, Führungszeugnis. Aber das zu bringen ist ein Problem!“
Viel mehr noch: Es ist faktisch unmöglich. Als politisch Verfolgte mit dreijährigem Aufenthaltstitel in Deutschland können Fatemah und ihr Mann Mezem nicht einfach in die syrische Botschaft hineinspazieren. Sie kämen womöglich nicht mehr heraus.

Bürokratie als Integrationshindernis

Die deutsche Bürokratie. Wenn man tiefer einsteigt, kann man vom Glauben abfallen, dass Integration wirklich gewünscht wird. Da sollen politisch Verfolgte zur Botschaft des Landes gehen, das sie verfolgt.
Da werden Urkunden verlangt, die es in den Herkunftsländern gar nicht gibt. Da werden sehenden Auges Schmiergelder bezahlt, damit korrupte Beamte in den Heimatländern die Papiere finden, die der deutsche Staat haben will. In deutschen Amtsstuben gibt es keine Engel.
Der Mechatroniker für Kältetechnik, Ismael Fernandez aus Guinea, ist besonders hart betroffen. Er hat eine abgeschlossene, anerkannte Ausbildung in Deutschland. Einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Zertifizierte Deutschkenntnisse, Niveau B1. Und er hat fünf Jahre lang ununterbrochen eingezahlt in die deutschen Sozialkassen, inklusive Rentenversicherungsbeiträge.

Voll integriert, aber ausreisepflichtig

Eigentlich müsste alles bestens sein. Aber bei seinem letzten Besuch bei der Ausländerbehörde hat er wieder nur eine dreimonatige Duldung bekommen. Das heißt, er ist grundsätzlich ausreisepflichtig. Ismael ist mit den Nerven am Ende. „Das tut mir weh. Ich darf keine Kreditkarte in Deutschland haben, obwohl ich seit 2014 Kunde bei der Sparkasse bin. Für jeden Stempel muss ich 62 Euro bezahlen.“
62 Euro für ein Papier, das ihn zur Ausreise auffordert. Viel Geld für eine Demütigung. Denn so erlebt Ismael die Tatsache, dass er qua Amt eigentlich gehen soll. Immerhin wird er momentan nicht abgeschoben. Das aber könnte ihm blühen, denn Guinea gilt als sicherer Herkunftsstaat. Ismael hat seine Mutter seit acht Jahren nicht mehr gesehen. Er würde so gerne reisen und sie in die Arme schließen. Warum er hier nicht erwünscht ist, versteht er nicht.
„Wir sind wollen doch nur eine gute und sichere Zukunft. Wir wollen von Deutschland kein Geld. Ich verdiene doch mein Geld und ich habe Pflichten, aber eigentlich auch Rechte. Und diese Situation, die macht mich so traurig.“

Engel dringend gesucht

Die afghanische Familie Hekmat musste kämpfen wie Löwen, um anzukommen. Lernen, lernen, lernen – niemand gönnt sich eine Pause. Um die Approbation als Ärztin zu bekommen, musste Miriam Unterlagen geradezu herbeizaubern. Aber sie hat es geschafft. Für sie ist auch Angela Merkel ein Engel, denn sie hat 2015 ein Herz für die Geflüchtete aus Syrien gezeigt. Jetzt sieht sie sich selbst in der Pflicht: „Ich will etwas zurückgeben.“
Fatemah hält ein Werkstück in der Hand, auf dem Blumen gezeichnet sind
Fatemah zeigt ein Werkstück, das sie im Trockenbaukurs im BZB gefertigt hat.© Deutschlandradio / Elin Hinrichsen
Fatemah musste lernen einzustecken. Sie hat auf alle Bewerbungen zunächst Ablehnungen bekommen. Dann hat sie gemerkt, dass es an ihrem Foto mit dem Kopftuch lag. Sie wäre auch bereit gewesen, es während der Arbeitszeit abzulegen.
Aber dann hat es doch geklappt, bei der Stadt Solingen, wo sie jetzt Bauzeichnerin lernt. Die Kollegen hier: Alle Engel! Fatemah kann jetzt lachen: „Alle sind supernett zu mir!“
Fatemah könnte ihre Ausbildung längst abgeschlossen haben. Die Familie Hekmat in Stuttgart hätte längst durchstarten und Ismael hätte schon dreimal in die Heimat geflogen sein können, um seine Mutter wiederzusehen. Aber das steht alles im Konjunktiv. Die Wirklichkeit für Geflüchtete in Deutschland ist voller Hindernisse. Und um die zu überwinden, braucht es noch viele Engel.
Redaktioneller Hinweis: Wir haben Ungenauigkeiten in den Bildunterschriften korrigiert.

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