Mulham und der Wolf
29:12 Minuten
Die "Komische Oper" Berlin versucht, mit dem musikalischen Märchen "Peter und der Wolf" Kindern einer Willkommensklasse europäisches Kulturgut zu vermitteln. Gleichzeitig sollen sie lernen, über Freundschaft und Angst zu reden. Funktioniert das?
Ein Reisebus, der den Verkehr blockiert und einfach anhält, ist in Berlin ziemlich normal. Vor allem hier, am Eingang der "Komischen Oper". Eine junge Frau steigt zuerst aus, nach und nach folgen Kinder, die sie in Zweierreihen organisiert. Viele dunkle Haarschöpfe gibt es, die paarweise zusammenfinden, das alles klappt ungewöhnlich gut. Der Wind bläst Mitte März noch sehr frisch.
Schon die 20minütige Fahrt von der Feldmark Schule in Berlin-Hohenschönhausen nach Berlin-Mitte war ein Abenteuer. Die meisten, obwohl sie in der Stadt leben, haben noch nie den Fernsehturm und das Brandenburger Tor so nahe gesehen, noch nie den Prachtboulevard "Unter den Linden", noch nie eine Oper von außen oder innen.
"Komische Oper haben sie dann am Schild wieder nicht erkannt. Wir haben gestern extra noch geübt. Die hören das natürlich als Opa - der komische Opa - das ist der Witz des Jahrhunderts."
Peter und der Wolf auf Deutsch und Arabisch
Heute sind die Kinder hier mit Sarah verabredet, Sarah Görlitz, die kennen sie schon. Mit ihr erarbeiten sie seit gut zwei Monaten Prokofjews Konzert Peter und der Wolf. Bisher ist Sarah immer zu ihnen in die Schule gekommen. Heute kommen sie zum ersten Mal zur ihr in die Oper. Kurz vor den Sommerferien werden sie hier dann auch die Aufführung sehen - Peter und der Wolf, die Geschichte soll auf Deutsch und Arabisch gelesen werden.
Etwa 45 Kinder drängeln durch einen schmalen Eingang, wo die Kassenbox ist. Sarah Görlitz, hellblonder Bob, lustig und ziemlich fit, geht voran. Sie ist an der Oper für die musikpädagogischen Projekte zuständig. Ihre Chefin Ann-Katrin Ostrop, die die Idee hatte Schülern von Willkommensklassen Peter und der Wolf näher zu bringen, ist auch mitgekommen.
Die Vorstellungen der Oper, vor allem im Kinder- und Jugendbereich, sind so gut wie immer ausverkauft. Anne-Kathrin Ostrop geht es auch gar nicht darum, neue Hörer an die Oper zu binden. Beim letzten Mal hat sie für die Zusammenarbeit eine Schule in Adlershof ausgewählt, ein Bezirk, in dem viele die AfD gewählt haben:
"Das hat ja wie alles bei diesem Projekt eine viel größere Dimension, wie man auf den ersten Blick sieht. Das ist zum Beispiel ein Aspekt: Nach Mitte zu fahren, in die Mitte von Berlin. Das ist wichtig, da willkommen geheißen zu werden. Und das ultimative Ziel für mich ist heute Begegnungen auf allen Ebenen. Also persönlich - und das sind einerseits die Musiker, und deren Musikinstrumente. Also für mich geht es heute ganz einfach um Begegnungen."
Im Foyer mit seinem roten Teppich, den deckenhohen Spiegeln und vielen kugelrunden Lampen angekommen, fragt ein Mädchen mit langem Zopf, ob hier ein Prinz oder König wohnt.
Die Sprache als Hindernis
Bevor es in den Opernsaal geht, ist kurz ein Pipi-Stop und Brotzeit eingeplant. Es gibt Sitzhocker und Bänke, über die jetzt Anoraks verstreut werden. Die Jungen und Mädchen packen Brotboxen aus. Fragt man sie etwas, kichern Shazia und ihre Freundin Isra nur, ein Junge namens Valentino kaut einfach weiter Gummibärchen. Bei Kindern ist das ohnehin mal so, mal so: Manchmal sind sie offen, manchmal wortkarg, manchmal einfach schüchtern. Hier ist auf jeden Fall die Sprache ein Hindernis.
"Es sind schon ganz unterschiedliche Kinder dabei, aber alle total bemüht und freuen sich einfach. Selbst wenn sie nicht verstehen, freuen die sich. Da lächeln die einen einfach nur an und ja. Ich denke, dass sie trotzdem immer was mitnehmen. Auch wenn sie jetzt noch nicht so perfekt Deutsch sprechen."
Einige von ihnen sind erst ein paar Wochen hier, manche schon länger. Sie kommen aus dem Irak, aus Syrien, Afghanistan, Russland, Libanon, Bulgarien, Tschechien, Vietnam und Rumänien. Einige leben mit Eltern in einer kleinen Wohnung, andere noch in Notunterkünften. Gemeinsam haben sie eigentlich nur, dass sie zusammen eine der vier Willkommensklassen auf der Feldmarkschule besuchen. Man kann sich das wie eine Art temporäre Lerngruppe vorstellen, auf zwölf Monate angelegt, mit dem Ziel, dass die Kinder möglichst viel Deutsch lernen, um dann möglichst schnell in eine Regelklasse wechseln zu können.
Mulham dirigiert imaginäre Musiker
Etwas später, Rang II ganz oben rechts, blicken sie auf die Bühne, Stellprobe für ein neues Stück. Der Orchestergraben ist noch leer. Sarah Görlitz erklärt, was dort normalerweise passiert. Die Kinder beugen sich weit über die Brüstung. Der Hausfotograf knipst viel. Später fällt auf den Bildern vor allem ein Junge auf: Mulham, er trägt sein längeres Haar meist mit einem Stirnband nach hinten gebunden, er sieht aus wie ein kleiner Krieger. Kerzengerade steht er, mit erhobenen Armen, sein Blick ist auf den Orchestergraben fixiert, wo er imaginäre Musiker dirigiert.
Die echten Musiker haben auf Stuhlreihen auf der Probebühne Platz genommen. Auch sie treffen die Kinder zum ersten Mal. Diejenigen, die in wenigen Wochen das Konzert "Peter und der Wolf" für die Kinder und die ganze Schule spielen werden, sitzen in einem Halbkreis vor ihnen. Jeder von ihnen hat eine Handpuppe passend zur Geschichte und sein Instrument mitgebracht: Der mit Peter-Puppe hat die Geige dabei, der Großvater ein Fagott, der Wolf ein Horn, die Querflöte einen Vogel, die Ente eine Oboe und die Katze eine Klarinette.
Peter und der Wolf: Das ist die Geschichte, das musikalische Märchen, zu der der russische Komponist Sergei Prokofjew 1936 bis heute unvergessene musikalische Charaktere geschaffen hat. Der junge Peter, der - trotz Verbot des Großvaters - in den Wald geht und dort mit der Hilfe seines Freundes, dem kleinen Vogel, den Wolf fängt und ihn zurück in den Wald bringt.
Das Konzert und seine Geschichte haben sie hier an der Oper aus einem bestimmten Grund für die Kinder aus den Willkommensklassen ausgewählt: Zum einen sollen die Kinder das kennenlernen können, was zum europäischen Kulturgut gehört: klassische Musik. Zum anderen geht es darum, den Kindern einen Schlüssel zu geben - die Figur des Peter und seine Gefährten helfen ihnen vielleicht auch, über ihre eigenen Gefühle, ihre eigenen Erfahrungen zu reden: über Bedrohung, Angst, Stärke und Zusammenhalt. Aber dazu braucht man eine gemeinsame Sprache. Zuerst geht es ganz banal darum, neue Wörter zu lernen.
Die Geige. Das ist Peter: Der Held der Geschichte. Der Junge, der nicht auf das hört, wovor ihn der Großvater warnt: vor dem großen, hungrigen Wolf. Auch der Wolf sitzt auf der Probebühne: als Wolfs-Handpuppe mit aufgerissenem Maul.
Die Botschaft der Pädagogin
Der Wolf ist im europäischen Kulturraum ein Symbol für Einsamkeit, für Verschlagenheit. Und er wird als bedrohlich wahrgenommen. Auf dem Weg zur Probebühne hat Anne-Kathrin Ostrop erklärt, warum sie genau dieses Konzert für das Projekt ausgesucht hat:
"Na, einmal geht es um eine gewisse Weise um eine Bedrohung für alle. Für die Freunde des Kindes und das Kind schafft es, durch eigenes Tun und sehr menschliches Tun die Gefahr zu beherrschen. Es ist eine große Beziehungsfrage und die Frage: Wer kann was? Also, die Kinder müssen immer verstehen, dass zum Beispiel die Ente und die Katze. Da gibt es Unterschiede, was die können. Die Katze kann auf den Baum klettern, um den Vogel zu töten. Die Ente kann nicht auf den Baum klettern - also wer kann was. Und wer muss sich wie verhalten, damit das, was er kann, gut eingesetzt wird. Und das halte ich wirklich für die innere Botschaft. Ob alle die so wahrnehmen, das weiß ich nicht. Aber das ist meine Botschaft dieses Stückes für Kinder."
Ein paar Wochen zuvor, im Februar, an der Feldmarkschule in Berlin-Hohenschönhausen, ein paar hundert Meter weiter endet die Stadt Berlin und das Land Brandenburg beginnt. Die Hauptgebäude der Schule sind lichte Neubauten aus den 90er-Jahren, hell gestrichen, es gibt einen weitläufigen Schulhof, große Fenster und einen Spielplatz. Ein paar Minuten zu Fuß die Straße hinunter liegt ein bräunliches Gebäude, das lange nicht mehr gestrichen wurde. Hier sind die Willkommensklassen untergebracht. Nach dem Klingeln passiert eine Weile nichts, irgendwann kommt der Hausmeister und öffnet die Tür.
Jeden Donnerstagvormittag fährt Sarah Görlitz hierher. Heute ist sie zum vierten Mal da - insgesamt sind es derzeit 45 Schüler, die für das Projekt auf drei Gruppen verteilt sind: die kleineren Kinder im Grundschulalter, die mittleren Kinder zwischen neun und zwölf Jahren und die größeren Kinder, die Teenager. Zuerst arbeitet Sarah mit den Kleinsten.
Die Kinder malen Peter und den Wolf - als Freunde
Sie sollen heute Peter malen und den Wolf. Sarah Görtlitz hat den Kindern Fotos von Wölfen gezeigt. Eigentlich sollten sie es alleine malen, ohne Vorlage. Aber das klappt nicht so richtig. Die meisten wollen immer wieder die Fotos von den wilden Wölfen sehen. Und malen dann Peter und den Wolf als Freunde: Der Junge streichelt das Tier. Mit den Rollenzuschreibungen klappt das auch noch nicht so richtig.
Es ist kurz nach halb elf. Sarah Görlitz, die Musikpädagogin von der Komischen Oper wechselt den Raum, zu den mittleren Kindern von Nadia Raith. Raith, die Lehrerin, um die 30 Jahre alt, trägt Jeans und hat ihre Haare zu einem Zopf gebunden. Sie ruft die Kinder aus dem Pausenhof zusammen, der liegt hinter dem Gebäude - ein großer Garten mit alten Bäumen - vom Hauptgebäude und den Regelschülern sieht und hört man von hier nichts. Früher ist Nadia Raith mit den Willkommensschülern öfter mal in den Pausenhof der Regelschule rübergegangen:
"Wir sind da einfach reingestürmt ohne anderen Kontakt. Und das ist schwierig, wenn man sonst keine Begegnungspunkte hat, wird man nicht so warmherzig aufgenommen. Was ist aus kindlicher Perspektive auch verstehen kann."
Ein Ziel dieses Projekts, das Anfangs vielleicht nicht ganz klar war, ist es aber auch, die Schüler der Willkommensklassen und der Regelschule näher zusammenzubringen.
"Die Kinder bringen viele unterschiedliche Dinge mit. Sie kommen zum Teil aus muslimischen Ländern, zum Teil aus christlichen Ländern. Auch vom Alter her sind sie nicht homogen, sie sind, wie gesagt, zwischen neun und zwölf Jahre alt. Auch die vorhergehende Beschulung ist unterschiedlich. Manche waren noch gar nicht beschult, manche kommen im Irak aus einer Privatschule."
Eine stabile Klassengemeinschaft zu bilden, ist schwer.
"Ich kann nicht sagen, dass die Variante, die in Berlin gefahren wird, bei den Willkommensklassen das Ultimo ist, aber ich kann auch nicht sagen, dass die Integration direkt in die Regelklasse besser wäre."
Sinnstiftende Arbeit
Nadia Raith hat Ethnologie und Religionswissenschaften studiert. Als Lehrerin ist sie Quereinsteigerin.
"Das ist das Sinnvollste, was man machen kann. In unsere Gesellschaft zu integrieren. Ich erachte unsere Arbeit als sinnstiftend. Man sieht wahnsinnige Fortschritte. Und alle Kinder, die wir hier haben, sind sehr dankbar. Das macht meine Arbeit umso schöner."
Sie weiß wenig darüber, warum die Kinder nach Deutschland geflohen sind. Es geht ihr auch vielmehr darum, ihnen zu helfen, im Hier und Jetzt anzukommen. Shazia lächelt, schaut weg und wieder hin, als sie merkt, dass ihre Lehrerin über sie spricht. Sie ist seit Anfang an in der Klasse, ein großes, schmales Mädchen mit einem Zopf, der sich immer wieder löst.
Die Kinder selbst sprechen kaum darüber, was sie erlebt haben. Mulhams Heimat, die syrischen Stadt Homs, ist inzwischen komplett zerstört. Was Bedrohung bedeutet, haben er, Shazia und einige andere selbst erlebt: Es sind Kriegskinder, die mit ihren Familien fliehen konnten.
Mulham, elf Jahre alt, der beim Opernbesuch so versunken die Musiker dirigiert hat, lebt mit seinem Vater und seinen drei Geschwistern nicht weit von hier in einer Wohnung. Ein engagierter Vater, sagt die Lehrerin. Wenn man ihn fragt, wo die Mutter ist, antwortet Shazia für ihn. Sie sagt: Mulham habe keine Mutter. Später erzählt Nadia Raith, die Mutter habe Mulhams Familie verlassen.
Sarah Görlitz richtet sich auf.
"Ich möchte versuchen, mit den Kindern 'Peter und der Wolf' zu vertonen. Aber wir sind da noch ganz am Anfang. Erwarte noch nichts Großes. Jetzt will ich ihnen schon deutlich machen, zu welchem Tier welches Instrument gehört und wie es eingesetzt wird."
Die Jungs machen mit, die Mädchen kichern
Aber erstmal geht es darum, die Energie rauszulassen. Die Kinder kichern, bewegen sich von einem Bein aufs andere. Nur einer malt mit großem Ernst Linien in den Raum: Mulhams Augen sind halb geschlossen. Dann setzen sich die Kinder paarweise zusammen - zu "Instrumentengruppen". Sarah liest einen Teil der Geschichte von "Peter und der Wolf". Die Kinder sollen sie dabei musikalisch begleiten. Doch nicht mit echten Geigen, Oboen oder Hörnern, sondern mit selbstgebastelten Instrumenten - etwa einem Federmäppchen, einer Plastikflasche, einem Kehrbesen - mit dem sie rhythmische Geräusche machen.
Mulham dirigiert - hat Sarah Görlitz bestimmt. Er gibt sehr deutlich die jeweiligen Einsätze. Mehr und mehr entwickelt sich das Gefühl für Rhythmus. Sarah geht es auch darum, dass die Kinder bemerken, wie es klingt, wenn sie alle zusammenspielen, wenn alle ein gemeinsames Ziel haben. Peter, der mutige Held? Der Wolf, die Bedrohung? Kommt die innere Botschaft an: Dass man vieles schafft, wenn nur alle zusammenhalten?
"Ich glaube nicht, dass so eine Symbolik bei allen Kindern ankommt, die Symboliken. Ich weiß gar nicht, ob im arabischen Sprachraum der Wolf eine negative Konnotation hat. Ich glaube, dass die Kinder alles neu bewerten, was ihnen da begegnet."
Die Jungs hören auf Mulhams Einsätze, während die Mädchen viel kichern und oft auf den Boden schauen. Sarah Görlitz hat schon einige Projekte in Willkommensklassen durchgeführt, ihr ist aufgefallen: Je älter die Mädchen sind, desto stiller sind sie.
"Egal, in welcher Schule, war es so, dass die Mädchen sehr zurückhaltend sind, wenn sie gefragt werden, sofort auf den Boden gucken - so nach dem Motto: Die Jungs werden das eh machen. Ich weiß nicht, ob es auch mit kulturellen Dingen zu tun hat."
Kaum Kontakt zu Regelschülern
Den beiden Pädagoginnen ist klar: Am meisten lernen Kindern von anderen Kindern. Nicht nur sprachlich, hier werden auch Rollen einstudiert, etwa wie Jungs, wie Mädchen sich verhalten. Daher ist es auch so wichtig, dass die Kinder der Willkommensklassen möglichst viel mit den Regelschülern in Kontakt kommen, dass sie gemeinsame Erlebnisse haben. Bisher hat das überhaupt nicht funktioniert. Zum einen steht das Gebäude wie das Aschenputtel ganz allein da. Und zum Anderen scheint sich die Schulleitung nicht dafür zu interessieren, was in den Willkommensklassen los ist:
"Ich bekomme von Schulleitung hier gar nichts mit beziehungsweise vom Hauptgebäude an sich - ich bin nun im Austausch mit der Lehrerin. Ich frage mich, wo liegt das Problem. Ich habe mehrfach gesagt, dass ich Donnerstags immer in der Schule bin, wir uns freuen würden, wenn mal einer vorbeikommt. Ist bisher noch nicht passiert. Und das war an anderen Schulen anders."
Der Versuch die Schulleiterin zu sprechen, scheitert immer wieder. Keine Zeit, heißt es, trotz mehrfacher Anfragen. Die Hoffnungen liegen nun auf dem gemeinsamen Konzertbesuch zum Abschluss des Projekts, zu dem die Oper der ganzen Schule Freikarten spendiert hat. Erst kurz davor sagt die Schulleitung zu, dass auch Kinder aus den Regelklassen kommen.
Der Lärm im Foyer der Oper gleicht einer Pausenhalle. Die Einlasser blicken nur kurz auf die Packen von Eintrittskarten, die ihnen hingehalten werden, und winken freundlich durch. Für 10:30 Uhr ist ein großer Saal reserviert - damit sich nochmal alle für eine kurze Einführung versammeln - um elf Uhr beginnt das Konzert.
Um 10:40 Uhr ist vom Großteil der Feldmarkschule noch nichts zu sehen, auch nichts von den Schülern der Willkommensklassen: Sarah Görlitz wartet am Eingang, als sie das Mikro sieht, winkt sie ab, bedeutet: denkbar schlechtester Zeitpunkt.
"Ich platze nämlich gleich. Es kommen welche zu spät und wir sind jetzt gerade dabei zu gucken, wo wir die hinsetzen können. Und wir können das Konzert nicht später starten lassen. Und das sind echt so Sachen - da steht es mir bis da. Das ist ja wirklich nur die Spitze des Eisbergs, was sich das ganze Jahr über angestaut hat. Und es ist dann auch ganz wichtig, weil wir drei Kinder am Anfang des Konzerts auf der Bühne haben, dass wir mit denen direkt in den Saal gehen, damit die noch einmal ins Mirko sprechen können einmal vorher über können - dass man denen Lampenfieber nimmt."
Absage in letzter Minute
1200 Plätze fasst die komische Oper, über die Hälfte sind für die 650 Schüler sowie die Lehrer der Feldmarkschule freigehalten.
"Eigentlich ist es ausverkauft. Jetzt haben wir gestern die Info bekommen, dass zwei Klassen nicht mitkommen aufgrund Erkrankung von Lehrern."
Sarah Görlitz, sonst sehr diplomatisch, hat keine Lust mehr, ihren Ärger über die Feldmarkschule zu verstecken. Glücklicherweise vibriert nun ihr Handy. Immerhin: Die Willkommensklassen fahren gerade mit dem Bus vor.
Am letzten Donnerstag haben sie alle vereinbart: Shazia, das schüchterne Mädchen mit dem widerspenstigen Zopf, Mulham, der so konzentriert dirigiert hat, und Mahdi, ein Junge aus Afghanistan, der erst später zum Projekt dazugekommen ist, sollen zu Beginn erst sich und dann die Instrumente vorstellen. Auf der Bühne. Vor dem ganzen Zuschauersaal. Sarah Görlitz rennt jetzt fast, die drei Kinder hinterher, zum Seiteneingang auf die Bühne.
Shazia, Mulham und Mahdi betreten zögerlich die große Bühne, die über dem noch leeren Zuschauerraum thront: Mikrofonprobe. Die Musiker spielen sich ein. Mulham geht voran, aufs Stirnband hat er heute verzichtet, Shazia hat glitzernde Sandalen angezogen und Mahdi sein Lieblings-Tshirt. Anne-Kathrin Ostrop sagt, sie sollen das Mikro so nah wie ein Eis halten. Die Kinder tauen langsam auf, als Hussein der Übersetzer kommt, wechselt Mulham ein paar Worte auf Arabisch mit ihm, weil auch er aus Syrien stammt. Das Konzert wird zweisprachig aufgeführt. Der Schauspieler Max Hopp erzählt zuerst auf Deutsch, dann folgt die arabische Übersetzung, die die "Komische Oper" extra für das Projekt angefertigt hat.
Shazias, Mulhams und Mahdis großer Moment
Etwas später, als es dann wirklich losgeht - machen die drei ihre Vorstellung sehr gut. Gestern haben sie mit der Lehrerin noch geübt, in ganzen Sätzen zu antworten. Jetzt gilt ihnen der Applaus und sie strahlen.
Bis auf die zwei Klassen, die nicht mitdurften, und die Kinder, die noch irgendwo im Bus im Stau stehen, sind fast alle Plätze besetzt. Von zwei, drei Schülern sind die Eltern mitgekommen. Und selbst die Schulleiterin, die keine Zeit gefunden hatte das Projekt einmal Donnerstag an der Schule zu besuchen, sitzt nun neben den Willkommensklassen - in der vordersten Reihe. Als der bekannte Text kommt, murmeln ihn einige Kinder mit.
Nadia Raith und ihre Lehrerkolleginnen müssen nur ganz selten streng gucken, die Kinder der Willkommensklassen sind bis zum Ende ziemlich konzentriert. Der Applaus ist lang und laut. Auch die stellvertretende Schulleiterin Kathrin Schwandt ist begeistert.
"Ganz toll, also ich habe immer noch Gänsehaut, ich fand das sehr beeindruckend, gerade als unsere Willkommenskinder vorne auf der Bühne standen, da krieg ich Pipi in den Augen."
"Haben Sie das Projekt in ihrer Schule eigentlich jemals besucht?"
"Das ging nicht, das war zeitlich nicht zu schaffen. Eine große Schule zu verplanen - hätte ich fast gesagt - braucht auch Zeit. Also, es sind viele Kinder von vielen Sozialhilfeempfängern. Es ist schon ein sehr herausforderndes Einzugsgebiet. Aber ich muss jetzt los."
Ein Bild für Sarah
Die regulären Schüler haben sich schon wieder auf dem Weg zum Bus gemacht, zurück bleiben die Schüler der Willkommensklassen sowie Nadia Raith und ihre Kolleginnen. Im Foyer spendiert die Oper ihnen Säfte und belegte Brötchen, Anne-Kathrin Ostrop moderiert die Abschlussrunde. Die Kinder übergeben Sarah Görlitz ein Bild, das sie gemalt haben.
"Ich bin immer bei Nachgespräch traurig. Man kriegt ja auch nicht mit, wie die Kinder sich weiterentwickeln, ob sie in Regelklassen übergehen oder erstmal in der Willkommensklasse bleiben. Dann startet man in der neuen Schule, das ist komisch, weil man die anderen noch im Kopf hat, aber über das Jahr entwickelt sich das."
Ihre Chefin Ostrop hat schon die neue Schule eingeladen, an der das Projekt im nächsten Jahr stattfinden wird. Diesmal geht die Oper nicht mehr an den Stadtrand sondern mitten rein - nach Neukölln.