Wie sich Juden in Berlin für muslimische Kinder engagieren
Englisch, Kunst oder Kung-Fu: Im Berlin-Neuköllner Integrationsprojekt "Shalom Rollberg" betreuen Israelis ehrenamtlich vorwiegend muslimische Kinder und Jugendliche. Neben der Förderung der Kids geht es auch darum, Vorurteile abzubauen.
Neun Mädchen und zwei Jungen singen Karaoke. Der Gesang ist dabei Mittel zum Zweck. Die Schüler und Schülerinnen sitzen zusammen und lernen spielerisch Englisch. Isra Mansour ist eine von ihnen, ein Kopftuch bedeckt ihre Haare. Sie ist 15 Jahre alt. Beim anschließenden Vokabelspiel meldet sie sich permanent, korrigiert sogar die anderen.
Sie ist die Beste im Kurs. Inzwischen, doch vor zwei Jahren war das ganz anders. Ihre Schulnoten in Englisch waren nicht die besten. Nachhilfe sollte das ändern. Doch als sie erfuhr, dass sie einen jüdischen Nachhilfelehrer bekommt, habe sie zunächst nicht gewusst, was sie erwarte, erzählt die Schülerin mit einem Lächeln:
"Ich habe erst mal gedacht 'Oh, Gott!' Ein bisschen schockiert, aber es wurde mir im Laufe der Zeit egal. Ganz ehrlich, es kommt nicht darauf an, welche Religion man hat. Dann habe ich gedacht, es interessiert doch keinen, was sie sind. Wenn ich sie jetzt auf der Straße sehen würde, würde ich niemals denken: 'Oh, mein Gott, das sind Juden!'."
Schlagzeilen durch kriminelle arabische Clans
Isra schüttelt den Kopf. Heute verstehe sie gar nicht mehr, warum sie so reagiert habe, sagt sie. Alle Teilnehmer sind wie Isra Muslime. Der Kurs findet einmal pro Woche statt. Der Raum sieht aus wie ein ganz normales Klassenzimmer: Tische, Stühle, eine Tafel, und er befindet sich im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses im Rollberg-Kiez in Neukölln.
Dieses Viertel gerät unter anderem durch kriminelle arabische Clans regelmäßig in die Schlagzeilen. Zwischen zwei Gebäudekomplexen sind auf einer Promenade Überwachungskameras installiert. Auch vor dem Eingang des Kursraums. Zwei Minuten von hier entfernt befindet sich der Verein Morus14. Hier hat Isra von dem kostenlosen Englischkurs erfahren.
"Ich habe letztes Jahr im Herbst in dieser Gruppe angefangen. Ich habe es empfohlen bekommen, weil mein Englisch nicht so gut war. Jetzt ist mein Englisch besser geworden. Letztes Jahr in der neunten Klasse hatte ich eine Vier. Wir haben letztens eine Klassenarbeit geschrieben. Da habe ich eine Zwei bekommen."
Isra hat vier Geschwister. Ihr Vater kann aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten, ihre Mutter hat einen Aushilfsjob in einem Kinderclub in der Nachbarschaft. Alle fünf Kinder bekamen oder bekommen noch Nachhilfe beim Verein Morus14. Dieser gemeinnützige Verein besteht seit 2003 und konzentriert seine Bildungs- und Integrationsarbeit ausschließlich auf die Rollberg-Siedlung.
Mehr als 200 Personen, darunter viele Rentner und Studenten, kümmern sich ehrenamtlich um nachbarschaftliche Begegnungen und vor allem um Kinder und Jugendliche. Sie helfen den Kindern bei den Hausaufgaben und betreuen Familien.
Eines ihrer Projekte setzt auf interkulturelle und interreligiöse Begegnungen, das Projekt "Shalom Rollberg", in dessen Rahmen auch Isras Englischkurs stattfindet. Das Besondere dabei: Alle Kursleiter sind Juden und die Teilnehmer fast ausschließlich muslimische Kinder.
Statt Betroffenheitsdebatten engagierte Menschen vor Ort
Der Geschäftsführer des Vereins Morus14, Gilles Duhem, wollte, dass die muslimischen Kinder des Viertels einen "Juden zum Anfassen" bekommen.
"Ich wollte jemanden aus Israel haben, um überhaupt dieses Thema Judentum in das Projekt Morus14 zu integrieren, ein bisschen nach demselben Prinzip, wie wir das Thema sexuelle Vielfalt - Schwule, Lesben - hier integriert haben, das heißt ganz profan, ohne irgendwie Workshops zu organisieren, Betroffenheitsdebatten zu führen, oder ich weiß nicht, was, sondern jemanden, der einfach ganz normal da ist und sagt: 'Guten Tag, ich komme aus Israel, und ich arbeite jetzt bei Morus14.' Einfach, um auch die Bevölkerung, die Kundschaft, die wir haben, die Kinder, die Jugendlichen und ihre Familien damit zu konfrontieren. Das war eine ganz einfache Idee."
Hinter dieser Idee stehen harte Fakten: Antisemitismus in Berlin nimmt zu. Laut der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin, kurz RIAS, gab es in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres 527 Vorfälle.
Das Projekt "Shalom Rollberg" scheint erfolgreich zu sein. Es läuft bereits im vierten Jahr. 13 Israelis betreuen ehrenamtlich Kinder und Jugendliche. Drei von ihnen bieten regelmäßige Gruppenarbeit in Kunst, Englisch und Kung-Fu an. Projektleiter Yonatan Weizman sagt, die Religion dürfe im Projekt keine vordergründige Rolle einnehmen.
"Ziel ist es, den Kindern bei den Hausaufgaben und Schularbeiten zu helfen. Meine Religion spielt eine Rolle in meinem Leben. Das gilt auch für die Kinder. Aber in unserer Beziehung miteinander ist unser Ziel: Unsere Religionen und Wurzeln bringen uns näher zueinander und nicht weiter weg voneinander."
"Die Kinder zieht das an wie das Licht"
Selbstverständlich ist das nicht in einem Viertel, das über Berlins Grenzen hinweg durch negative Schlagzeilen Berühmtheit erlangt hat. Manche bezeichnen das Viertel als No-Go-Area, in dem nicht einmal die Polizei gegen Kriminelle vorgehen könne.
Gilles Duhem spricht von tendenziöser Berichterstattung. Der 51-jährige gebürtige Franzose lebt seit drei Jahrzehnten in Berlin und arbeitet seit 15 Jahren im Rollberg-Kiez:
"Ich hatte noch nie einen Fall, was man für Journalisten plakativ so gerne hat: Eine Familie, die wutentbrannt gekommen wäre und gesagt hätte: Mit dem Juden? Mein Kind? Nie! Sowas gibt es nicht. Ganz im Gegenteil, es gibt Dankbarkeit. Und ich merke auch mit Yonatan Weizman, das ist der erste Mann, der diese Stelle innehat, das zieht die Kinder an wie das Licht. Plötzlich ist ein junger Mann da, der Zeit hat, der nett ist, der sich mit denen beschäftigt. Und das kennen die meisten dieser Kinder aus ihren Familien überhaupt nicht, dass Männer sich mit denen hinsetzen und malen, quatschen, etwas vorlesen, sie bei den Schulaufgaben unterstützen. Das ist für die Kinder extrem attraktiv."
Und auch für deren Eltern. Viele Familien haben mehrere Kinder. Die Arbeitslosigkeit im Kiez ist hoch. Teure private Nachhilfe können sie sich selten leisten. Das gilt auch für Isras Familie. Isras Mutter, Abir Mansour, ist 45 Jahre alt und lebt seit 20 Jahren in Berlin. Sie spricht nur wenig Deutsch. Die Bildung ihrer Kinder sei ihr sehr wichtig, sagt sie. Deswegen schickt sie Isra in den Englischkurs. Dass ihr Lehrer aus Israel kommt und Jude ist, sei völlig unerheblich:
"Wir sind alle hier in Deutschland. Religion ist etwas anderes, spielt keine Rolle. Mein Mann hat auch gesagt, kein Problem. Wir machen alles für unsere Kinder. Religion ist etwas anderes. Lernen ist Lernen."
"Es spielt keine Rolle, ob die Nachhilfelehrerin jüdisch, christlich oder muslimisch ist. Was meine Mutter versucht hat zu sagen, ist, denke ich, dass Bildung nichts mit Religion zu tun hat."
Daniel Mansour ist Isras Bruder. Er ist 18 und macht dieses Jahr sein Abitur:
"An dem Judentum an sich hat hier, denke ich, kein Mensch etwas. Ich denke eher, es ist der Konflikt an sich, der im Nahen Osten herrscht. Der Nahost-Konflikt hat auch nicht direkt etwas mit dem Judentum zu tun."
Antisemitismus gibt es trotzdem im Kiez
Die Projektbeteiligten beteuern zwar, dass das Projekt reibungslos und erfolgreich laufe, das muss aber nicht bedeuten, dass es keinen Antisemitismus im Kiez gibt. Wer keine jüdischen Nachhilfelehrer akzeptiert, wird seine Kinder nicht in die Kurse schicken. Weizman erzählt von einem Jungen, der nach der ersten Begegnung mit ihm nie wieder in den Verein kam.
"An meinem ersten Tag hier hat ein Kind mir gesagt: 'Ah, du kommst aus Israel? Deine Heimat existiert gar nicht.' Und ich habe gesagt: 'Das ist in Ordnung. Du darfst deine Meinung haben. Aber nächstes Mal meldest du dich, wenn du etwas sagen willst.' Ich glaube, wenn ich vor diesem Kind stehe und sage, ich komme aus Israel, kann das so eine Meinung ändern. Das sagt nicht, dass Palästina nicht existiert. Im Gegenteil, beide existieren. Und wenn ein Kind mir sagt: Ich bin Palästinenser, sage ich, wunderbar, ich bin Israeli. Freut mich."
Ortswechsel. In einer kleinen Turnhalle stehen neun Jungen und zwei Mädchen in schwarzen T-Shirts und Trainingshosen, alle barfuß in einer Reihe. Ihr Kung-Fu-Trainer zeigt ihnen verschiedene Faust- und Tritttechniken. Wie im Englischunterricht sind auch hier alle Teilnehmer Muslime und der Trainer Jude. Der Kung-Fu-Lehrer Shem Stoler ist vor drei Jahren nach Berlin gekommen. Als er von der Möglichkeit hörte, ehrenamtlich Kinder zu trainieren, überlegte er nicht lange. Denn auch in Tel Aviv hatte sich der 35-Jährige für Kinder engagiert:
"Kinder sind Kinder. Ich denke auch, es ist wichtig, dass sie andere Leute kennenlernen. Mindestens einmal im Jahr treffen sie sich alle, auch die israelischen Gruppen und die deutschen Gruppen von mir. Wir machen einen Tag zusammen. Und das ist auch schön."
Shem Stoler trainiert hauptamtlich an einer Sportschule verschiedene Gruppen - jüdische, christliche, muslimische Kinder und Erwachsene. Ein bis zwei Mal im Jahr treffen sich alle zum gemeinsamen Trainieren und Kennenlernen.
Spaß beim Training in der Turnhalle
Den Kindern in Neukölln macht das Training Spaß, auch wenn ihr Meister streng ist und jeden mit Liegestützen bestraft, der nicht konzentriert mitmacht. Die 11-jährige Ayat und der 12-jährige Görkem sind seit zwei Jahren in der Gruppe. Sie haben beide in den Vereinsräumen von Morus14 vom Kung-Fu-Training erfahren:
"Ich habe auf einer Tafel gesehen, da stand Kung-Fu. Dann bin ich einmal hierhergekommen und habe es probiert. Es hat mir Spaß gemacht. Und dann bin ich immer gekommen."
"Man macht Sport. Es ist kostenlos. Es macht Spaß. Man hat viele Freunde. Man lernt viele kennen. Wir sind alle Muslime hier. Meinen Eltern ist es egal, ob der Jude ist, ob der Christ ist, ob der keine Religion hat. Mir ist es auch egal."
Auch eine Mutter, die am Ende des Trainings ihren Sohn abholt, beteuert, die Religion des Trainers und der Nachhilfelehrer, sei für sie und ihren Mann völlig nebensächlich. Religion sei Privatsache. Der Trainer Shem Stoler ist nicht überrascht. Wer seine Kinder hierher schicke, sei ohnehin nicht intolerant oder antisemitisch.
Yonatan Weizman, der Leiter von "Shalom Rollberg", hat einen Sohn, der in Neukölln in seiner Kita mit Kindern aus verschiedenen Kulturen und Religionen aufwächst. Weizmans Frau stammt aus Polen. Interkulturelles Leben ist für ihn und seine Familie gelebte Realität. Und Religion sollte nicht im Zentrum dieser Realität stehen:
"Die meisten Menschen haben irgendetwas über Juden gehört, entweder gut oder schlecht, aber nichts Neutrales. Mein Traum – hoffentlich wird das erfüllt – ist, dass Juden irgendwann ganz normale Menschen werden wie alle anderen, dass eines Tages unsere Religion und unser Glaube keine wichtige Rolle mehr spielen."