Intellektuelle in der Coronakrise

Versagt das kritische Denken?

04:18 Minuten
Illustration: Verschiedene Männer gehen herum, einer steht auftrumpfend im Scheinwerferlicht.
Kennen Sie das auch, dass Sie intelligente Menschen um ihre große Sicherheit und ihre ehrliche Empörung plötzlich beneiden? © imago / Ikon Images / Oivind Hovland
Ein Kommentar von Michael Schikowski · 21.05.2021
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Gerade sich für intelligent haltende Menschen, vorrangig ältere Herren, sind in der Pandemie als Fundamentalkritiker aufgefallen. Eine bequeme Haltung, meint der Publizist Michael Schikowski. Denn sie würden vor allem um ihrer selbst willen kritisieren.
Begegnen Ihnen auch ständig sehr intelligente Menschen? Wessen Nähe sollte man in diesen Zeiten auch suchen, wenn nicht die der intelligenten Menschen? Und Sie sprechen mit denen nicht über das Wetter. Mit denen spricht man so sehr nicht über das Wetter, wie man mit anderen möglichst nur über das Wetter spricht. Sie kommen aus freien Berufen, sind um die 60 und Männer. Und dann sprechen Sie mit denen natürlich über Corona – und diese intelligenten Menschen meinen dann, die Berichterstattung über Corona sei unkritisch, sei affirmativ.
Und dann fragt man sich natürlich selbst: Warum ist die Berichterstattung so? Ist ja nicht zu leugnen, dass sie unter Umständen sogar aus Prinzip affirmativ ist, und immer nur im Detail kritisch – in mehr Details übrigens, als einem selbst lieb sein kann. Warum ist die Berichterstattung so?

Eine Antwort wäre vielleicht, dass die Corona-Krise mehr als eine Krise, nämlich eine Katastrophe ist. Katastrophe ist, wenn alle betroffen sind. Hier funktioniert eine kritische Berichterstattung, wie das in den bekannten Politikfeldern üblich ist, weniger gut. Felder entstehen vom Rand her. Bei Corona fehlt dieser Rand, von dem aus man das Geschehen kommentieren könnte. Corona ist ein Politikfeld mit unscharfen Umrissen. Corona ist überall und total.
Bei ruhiger Erläuterung bleibt es aber im Gespräch mit den intelligenten Menschen nicht, schnell geht es über in Geschimpfe. Mit Empörung hörte man diese Sendung, mit Entsetzen las man jenen Artikel. Schon werden Abonnements, Rundfunkgebühren, ja überhaupt Mitgliedschaften aller Art infrage gestellt. Und das mit wachsender Erregung und Begeisterung, ja auch Rührung über sich selbst, dass man nun endlich, endlich den Rubikon zu weniger Staatstreue überschreitet.

Das Kritisieren macht den Kritisierenden stark

Aber warum ist der kritische Kopf plötzlich so feuerrot, fragt man sich? Warum lebt der denn so auf? Er ist ja ganz in seinem Element, beneidenswert mit sich selbst identisch. Warum redet er plötzlich so fröhlich und beseelt auftrumpfend? Wir aber, die Zweifler und Dulder, die die Corona-Vorschriften brav und staatsfromm einhalten, bleiben so verzagt im Schlamassel der ganzen Widersprüche, verdruckst und abgeknickt beiseite. Dann hört man noch die Vorwürfe, man verharre in Routinen, denke in Schablonen, und glaubt es fast schon selbst.
Kennen Sie das auch, dass Sie diese intelligenten Menschen plötzlich beneiden? Um ihre große Sicherheit, ihre herrliche Begeisterung, ihre ehrliche Empörung? Wie angenehm wäre es, sich jetzt fallen zu lassen in die Klarheit präziser Frontverläufe, in die Deutlichkeit der eigenen Position. Wie verlockend, wieder den Feldrand zu erkennen, von dem aus man den Überblick behält. Fühlen Sie die enorme Entlastung, die davon ausginge?

Der "Verblendungszusammenhang" von Adorno ist wieder da

Der Totalitarismus von Corona lässt die alten Affekte von Notstandsgesetzgebung, Berufsverbot, NATO-Doppelbeschluss und Volkszählung wieder aufleben. Von Corona wird nur fern aller Globalisierung – die man nie akzeptiert hat! –, nur im Hinblick auf Deutschland und Drosten gesprochen. Die Diagnose des guten alten "Verblendungszusammenhangs" ist wieder da. Das Dogma von der "kulturindustriellen Manipulation" ist wieder da. Und endlich wird auch die Theorie wieder praktisch – und das bei vollen Altersbezügen!
Das Größtenselbst des Kritikers, vom Blitzschlag der Coronakrise getroffen, hat seinen letzten großen Auftritt als Frankenstein-Wiederkehr der 1970er-Jahre. Wir fragen uns leise, wer ist hier in der Verhaltensroutine? Wer denkt in Schablonen? Welche Institution versagt eigentlich genau? Ist es nicht vielleicht die mit dem Namen "kritischer Intellektueller"?

Michael Schikowski ist als freier Verlagsvertreter tätig, publiziert zu Büchern und Buchkultur. Zuletzt gründete er den Mülheimer Literaturclub in Köln. Auf www.immer-schoen-sachlich.de – ursprünglich ein Sachbuch-Blog –, veröffentlicht er regelmäßig Ansichten zur Literatur.

Publizist und Verlagsmanager Michael Schikowski 
© Privat
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