Intellektuelle mit europäischer Vision gesucht

Von Axel Schröder |
Wo bleiben die Intellektuellen in der europäischen Krise? Das ist die Frage, der sich Daniel Cohn-Bendit, Michael Naumann, Gesine Schwan und andere im Hamburger Thalia Theater gestellt haben. Nach zwei Stunden Diskussion war klar: Eine Antwort zu finden, ist gar nicht so einfach.
Brücken bauen will Joachim Lux mit der neuen Reihe das Thalia-Theaters "Bridging the Gap". Anders formuliert: Die Gaps, also die Lücken, sollen gefüllt werden, Grenzen überwunden werden. Etwas konkreter fasst die Überschrift über der Auftaktdebatte das Thema: "Wo sind die Intellektuellen in der Krise?", war die Leitfrage. Gemeint war die Krise Europas. Vor allem die ökonomische Krise des Staatenbunds, aber auch die Schwierigkeiten auf kultureller und politischer Ebene.

Auf dem Podium sollten vier ausgewiesene Intellektuelle Europas dieses Frage diskutieren: die Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance, Gesine Schwan, der EU-Parlamentsabgeordnete Daniel Cohn-Bendit, der ehemalige Kulturstaatsminister Michael Naumann und der polnische Botschafter Janusz Reiter. Bei allem Einvernehmen darüber, wie wichtig ihnen die europäische Idee ist, war vor allem gleich zu Beginn klar, wie unterschiedlich die Blickwinkel auf Europa ausfallen. Daniel Cohn-Bendit kam aus dem Schwärmen über Europa kaum heraus:

"Der Traum: Der Rhein ist keine Grenze mehr, sondern ein Binnenfluss. Der zweite Traum war die Elbe: Die Elbe ist keine Grenze mehr, sondern ein Binnenfluss. Und jetzt können die Leute mit mir weiterträumen: der Bosporus! Von mir aus können wir bis zum Ostmittelmeer gehen. Das können wir alles politisch diskutieren. Aber erstmal ist Europa der Ort der Träume. Wo man solche Feindschaften überwinden kann."

Michael Naumann kennt diese Schwärmerei und teilt natürlich diese Friedensideale. Nur sein Blick auf Europa ist nüchtern, zieht Bilanz unter Jahrhunderte voller Leid und Krieg:

"Europa ist über 200 Jahre das Zentrum einer kulturellen und zivilisatorischen Welthybris gewesen. Europa - das geistige und intellektuelle, das industrielle, das übrigens auch christlich-missionarische - definierte sich aus einem tiefen Gefühl der Überlegenheit über alle anderen Zivilisationen hinweg."

Kritik am belehrenden Ton der Bundesregierung
Und diese Hybris wurde zwar durch die Europäische Integration gezügelt, kommt aber immer noch zum Ausdruck, wenn es um die derzeitige wirtschaftliche Krise auf dem Kontinent geht. Dann, und da waren sich alle Diskutanten einig, vergreife sich die deutsche Regierung schnell mal im Ton. Dann kehren, da waren sich Naumann und Gesine Schwan einig, die Kanzlerin und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble, sie zurück zu einem oberlehrerhaften Ton, einer Attitüde, die zum Beispiel die Griechen bevormundet. Und damit wird Vertrauen zerstört.

Gesine Schwan: "Das Problem ist ja, dass die ökonomische Krise gerade von der deutschen Seite sehr moralisierend interpretiert worden ist. In dem Sinne, dass die, denen es schlecht geht, auch selbst dran schuld waren. Und uns geht es gut, weil wir so fleißig sind. Das ist der Subtext, der aus all diesen Regierungsdeklarationen kommt."

Dabei sollte die deutsche Regierung nicht vergessen, welchen Anteil die Bundesrepublik an der griechischen Tragödie hat: Immerhin sei nur schwer erklärbar, warum die Lieferung von 1.400 Leopard-Panzern an Griechenland mit staatlicher Unterstützung vonstattenging.

Am Ende der Debatte war klar: Warum sich die europäischen Intellektuellen in der Krise nicht mit einer Stimme zu Wort melden, diese Frage ist in einer zweistündigen Veranstaltung nicht zu klären. Offenbar gibt es zwar immer wieder aufflackernde intellektuelle Debatten auf nationaler Ebene, aber jede dieser Intellektuellen-Gruppe sei mit den nationalen Diskursen beschäftigt, weniger europäischen. Janusz Reiter stellte ernüchtert fest: Die Stimmen der polnischen Intellektuellen hatten in Solidarnosc-Zeiten, also Ende der 80er-Jahre, noch Gewicht. Seitdem ist es still geworden, seitdem wird dort debattiert ob die ökonomische Öffnung des Landes hin zur freien kapitalistischen Marktwirtschaft tatsächlich eine so gute Idee war beziehungsweise wie diese Öffnung das Land - nicht nur zum Guten - verändert habe.

Zusammen mit Gesine Schwan wünscht sich Reiter ein europäisches Geschichtsbuch für die Schülerinnen und Schüler in Europa. Wenn das gelänge, wäre schon viel erreicht. Nicht jeder müsse jeden verstehen. Aber die einstigen Feinde sollten in der Lage sein, sich in den anderen hineinzuversetzen.

Janusz Reiter: "Im Grundes genommen kommt es immer auf die an, deren Verhältnisse in der Geschichte am schwierigsten waren, am kompliziertesten. Deutschland - Polen, Deutschland - Frankreich, Polen - Russland, und so weiter. Wenn man es dort schafft, dann schafft man es auch woanders."


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