Intellektuelle und persönliche Unterschiede

Rezensiert von Tilman Krause |
Die beiden Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt waren nicht nur intellektuell unterschiedlich, sondern auch persönlich. Während Alexander keine Frau heiraten wollte, führte Wilhelm eine enge und zugleich freie Ehe mit seiner Gattin Caroline. Das wird in der Biographie von Hazel Rosenstrauch deutlich.
Wilhelm von Humboldt ging regelrecht in die Geschichte ein als Reformator Preußens. Zusammen mit Hardenberg und Stein zog er die Konsequenzen aus Preußens verheerender Niederlage im Kampf gegen Napoleon von 1806 und leitete jene Neujustierung in Verwaltung, Militär und auf dem Bildungssektor mit ein, die Preußens Siegeszug im 19. Jahrhundert möglich machte. Dabei stand Wilhelm nur kurz an der Spitze.

Sein politisches Hauptwerk, die Reorganisation des gesamten Bildungssystems in Preußen – von den Elementarschulen über das von nun an humanistisch genannte Gymnasium bis hin zur Gründung der Berliner Universität – nahm ganze 14 Monate (von Ende Februar 1809 bis April 1810) in Anspruch. Danach sank sein Stern.

Zwar wurde er noch mit diversen diplomatischen Missionen betraut – er selbst hielt sich besonders viel darauf zugute, dass es ihm gelang, Österreich 1813 in jene Koalition mit einzubeziehen, die dann in der Völkerschlacht bei Leipzig Napoleon besiegte – doch die ganz große politische Karriere blieb ihm verwehrt. 1819 zog sich der enttäuschte Liberale endgültig aus dem Staatsdienst zurück und widmete sich von nun an wieder seinen Studien.

Dieses lange Privatisieren bei gleichzeitiger hoher wissenschaftlicher, diplomatischer und administrativer Begabung hat von Anfang an die Biographen irritiert. Viele von ihnen gingen wenig schonungsvoll mit ihrem Helden um. Hazel Rosenstrauch dagegen zeigt viel Verständnis in ihrer fesselnden Doppelbiographie, die endlich auch die große Bedeutung von Wilhelms Frau Caroline zur Kenntnis nimmt, und beschreibt ihren schwer einzuordnenden Probanden so:

"Der Privatgelehrte lässt sich nicht nur keiner Disziplin zuordnen, er steht zwischen dem, was Empfindsamkeit, Klassik, Idealismus und Romantik genannt wird, zwischen Wissenschaft und Dilettantismus, Politik und Geist sowie zwischen Adel und Bürgertum und damit zwischen den Freiheiten und Freuden der Aristokratie und dem Sinn für bürgerliche Tugend und Maß. Er beschäftigte sich intensiv mit Ästhetik, suchte aber nicht die blaue Blume, sondern die Griechen sind ihm das Ideal."

Wilhelm selbst gibt uns in einer seiner vielen Selbstanalysen einen weiteren Fingerzeig:

"Die hervorstechenden Seiten an mir sind: vollkommene Herrschaft des Willens über mich selbst; innerhalb gewisser Schranken und in einer bestimmten Art sehr bedeutende und nimmermüdende Denkkraft bei gar keiner Neigung auf das Äußere als solches, leidenschaftliches Verlangen nach innerer, auf ganz eigentümliche Weise idealischer Beschäftigung mit und in mir selbst. Aus diesen drei Stücken folgt unmittelbar, dass ich ein durchaus innerlicher Mensch bin."

Innerlicher Mensch – das ist wohl das Schlüsselwort zum Verständnis dieses Charakters. Man darf darunter nicht verstehen, betont Hazel Rosenstrauch, dass Humboldt besonders introvertiert oder gar schüchtern gewesen sei. Ganz im Gegenteil. Er kannte seinen Wert genau. Und gerade dieses Selbstbewusstsein hinderte ihn daran, aus Gründen der Karriere Kompromisse zu machen.

Hier waltete durchaus noch herrschaftliches Standesbewusstsein. Man war schon wer, man brauchte nicht die Bestätigung durch andere, auch nicht die durch Macht und Einfluss. Humboldt war aber auch durch die Schule Goethes gegangen. Als sein Lebensmotto kann die Losung von Goethes Wilhelm Meister gelten, der da sagte, ganz, wie er da sei, wolle er sich ausbilden, also: alle seine Talente, Begabungen, Interessen, Lüste ernst nehmen und auch ausleben, wie wir heute sagen würden.

Dieses sowie der Austausch mit den bedeutendsten Geistern seiner Epoche, die er sich zu Freunden machte - allen voran Goethe und Schiller - und nicht zu vergessen die Pflege seiner intellektuellen Hobbys: das wurde Humboldt im Laufe seines Lebens wichtiger als alles andere. Und Caroline unterstützte ihn dabei, war ihm eine Gefährtin, die auch intellektuell auf seiner Höhe war, wie wir einer Beschreibung von Carolines Freundin, der Schriftstellerin Friederike Brun, entnehmen können:

"Sie ist eine jener seltenen Frauen, auf deren Art Deutschland unter allen bekannten Nationen vielleicht einzig das Recht hat, stolz zu sein. Kenntnisreich in einem Grade, dass sie nur für eine Gelehrte gehalten zu werden wollen durfte; einen Verstand besitzend, der die Region männlichen Ernstes und männlicher Umfassungskraft so erreicht, dass nur liebenswürdige Weiblichkeit es uns verbirgt, wie bedeutend die Eroberungen auf diesem streng von den Herren der Welt bestrittenen Boden seien."

Kurzum, in dieser Doppelbiografie werden zwei Unangepasste auf der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert lebendig, deren kompromisslose Selbstverwirklichung in vielen Punkten sehr nachahmenswert erscheint.


Hazel Rosenstrauch: Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt
Eichborn Verlag