Intelligent und natürlich
Dorothea Melis war einst die einflussreichste Moderedakteurin der DDR. Ihr Schönheitsideal gilt als intelligent und natürlich. Diesen Stil setzt sie bei der DDR-Luxusmarke Exquisit durch - und findet ihn heute bei einem Streifzug durch H&M wieder.
"Ach, guten Tag, kommen Sie rein."
"Also eigentlich, Mode ist dazu da, dass sie vergessen wird und dann kommt eine neue. Da muss nichts übrigbleiben. Ich bin der Meinung, es sollte übrig bleiben, wie redlich, wie engagiert wir gearbeitet und gedacht haben. Auf die Kleider können wir verzichten, aber nicht auf das, wie wir etwas gemacht haben."
Vergessene Gesichter: Die Modejournalistin Dorothea Melis. Eine Reportage von Tina Hüttl
"Wollen wir in die Küche gehen?"
Kehrbesen und Schaufel in einer Hand öffnet Dorothea Melis die Wohnungstür. Auffallend groß ist sie - und unkompliziert. Das ist das Erste, was einem durch den Kopf geht. 30 Jahre Modebranche, das klingt nach extravaganter Kleidung, Pumps oder zumindest Schminke im Gesicht. Aber da ist nichts. Schon entwischt sie wieder in die Küche, verstaut die Putzsachen hinter dem Mülleimer ...
"Ich hab gerade was weggefegt hier in der Küche."
... und setzt Teewasser auf.
"Ich trink sehr gerne den grünen Tee, man muss wissen, wie man ihn zubereitet. Na ja, also nicht so lange ziehen lassen. Ich gucke wirklich maximal zweieinhalb Minuten."
Die Küche in ihrer Altbauwohnung am Prenzlauer Berg in Berlin ist schmal, aber gemütlich. Aus der weißen Glasvitrine gegenüber der Kochzeile holt sie ein paar handbemalte Teetassen. Einfache Blumenmuster, bäuerlicher Stil.
"Es sind nur ein paar Tassen, aber ich finde die wunderschön, es ist das zarteste Porzellan, was ich jemals hatte. Meine Anlage ist, dass ich Sammler bin. Ich sammle alles, wenn ich in den Wald gehe, muss ich wenigstens einen schönen Stein finden oder Zweig. Ich sammle alles."
Die Gläser und das Teeservice in der Vitrine sind wirkungsvoll arrangiert, die meisten zeitlos, formschön. Sie selbst hat einen schlichten schwarzen Pullover übergezogen, dazu Bluejeans. Vielleicht, weil sie sich darin noch immer ein wenig rebellisch fühlt. Früher im Sozialismus gelten Jeansträger als verdächtig, heute, weil sie Jeans noch mit über 70 trägt.
"Ich war ja leitende Redakteurin, ich habe ja die Modeabteilung geleitet bei der Sibylle und da hatte ich Jeans. Und da hat meine Chefin gesagt: aber bitte nicht im Betrieb, mit diesen amerikanischen Hosen."
Das Wasser kocht. Melis gießt die Kanne auf, stellt sie auf den alten Holztisch und schiebt geschickt ein paar handbeschriebene Blätter zur Seite. Das Manuskript ihres Vortrages, den sie heute im Berliner Kunstgewerbemuseum hält. Wieder einmal wird sie über die Modefotografie in der DDR sprechen - und natürlich über ihre Zeit als Redakteurin bei der Sibylle, der "Vogue des Ostens" , wie Melis die Kultur- und Modezeitschrift der DDR ganz unbescheiden beschreibt.
"Also ich habe Vorlayout gemacht, ich habe Koffer geschleppt, ich habe Sachen ausgesucht, gebügelt, Mädchen geschminkt. Regie gemacht, habe Fotoassistenz gemacht und nachher die Texte geschrieben – also alles. Und das kann man nicht im kleinen Kleidchen. Also habe ich mir Markise gekauft, wo man Liegestühle bezieht und habe Hosen genäht, weil ich nicht mit Jeans auftreten durfte. Also wenn man sich das überlegt, das ist Sahre."
Bei Croissants und grünem Tee am Küchentisch stehen bei Melis die Sechzigerjahre wieder auf - die Zeit, als sie zur Sibylle geht. Noch teilt die Mauer Berlin nicht. In der jungen Deutschen Demokratischen Republik arbeiten die Frauen im Dreischichtsystem. Es gibt Lebensmittelkarten und kaum etwas zum Anziehen. Doch die 1956 ins Leben gerufene Modezeitschrift Sibylle zeigt Haute Couture aus Paris. Absurd findet Melis und rührt gedankenversunken in ihrem Tee.
"Und ich habe dann 1960 an meiner Diplomarbeit geschrieben und habe gedacht: Ok, nimm die Zeitung, es ist eine Chance, eine Zeitung für Mode und Kultur, die wird hier völlig vergurkt und verschenkt. Jetzt analysiere mal die Zeitung."
Mit dem Kopf deutet sie zu den Bildern über ihr an der Wand. Auf einem Foto: Eine junge, hübsche Modestudentin mit blassblauen Augen unterm schwarzen Pagenschnitt. Den trägt sie noch immer. In ihrer Abschlussarbeit in Modedesign an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee zerreißt sie die Sibylle in der Luft. Postwendend wird sie zur damaligen Chefredakteurin Margot Pfannstiel zitiert.
"Da hat sie gesagt: Ich habe Ihre Arbeit gelesen, ist ja interessant. Wenn Sie alles so genau wissen, dann fangen Sie mal hier an. Und machen das mal, und zwar besser."
Dorothea Melis lässt sich das nicht zweimal sagen. Seit ihrer Kindheit zeichnet und schneidert sie gern. Neben dem Foto hängt ein Wandkalender, den sie Jahr für Jahr für ihre Enkelin gestaltet. Jeder Monat ist eine aufwendig gearbeitete Zeitungscollage, mal Märchenmotive mit fliegenden Pferden, mal erdfarbene Silhouetten einer toskanischen Landschaft. Als junge Modejournalistin bei der Sibylle lebt sie sich aus.
"Und ich habe dann angefangen und dann hat die mir wirklich freie Hand gelassen. Ich habe den Arno Fischer, – der war Oberassi für Fotografie in Weißensee - den habe ich zur Sibylle geholt, ich habe meinen ehemaligen Deutsch- und Geschichtslehrer von der Oberschule geholt für Texte, eine Kommilitonin hat fotografiert, ich hatte mein ganzes Team, alles meine Leute."
Sie schlürft den noch heißen Tee. Aus der biederen Zeitschrift für die feine Dame wird unter ihrer Regie ein Magazin für moderne, unabhängige Frauen, die im Alltag Beruf, Familie und Freunde ganz selbstverständlich vereinen.
"Ich wollte was Zeitgemäßes machen, was den Frauen entgegenkam, die unter diesen ökonomisch komplizierten und argen Verhältnissen leben und arbeiten mussten. Also konnte ich keine Cocktailkleider zeigen, sondern eine vernünftige Mode, die Berufstätigkeit in den Vordergrund stellte. Schön sollte sie sein, aber hauptsächlich vernünftig. Das war mein Credo."
Beim Sprechen hält sie sich sehr gerade, sie ist selbstbewusst, an Erfolge gewöhnt: Wie Anna Wintour die mächtige Modechefin der amerikanischen Vogue, beeinflusst sie den Stil - nur in der kleinen, engen DDR.
"Ich war ja hart, ich habe immer meinen Willen und Stil durchgesetzt, auch wenn es Tränen gegeben hat. Mich konnte kaum einer leiden, weil ich so rabiat war. Aber es tut mir heute immer noch nicht leid."
Mit einer Auflage von 200.000 Stück ist die Sibylle immer vergriffen, Kioskbesitzer werden bestochen, jedes Heft geht durch viele Hände. Melis und ihr Team zeigen den Frauen nicht nur, wie sie sich gut anziehen, sondern einen ganzen Lebenswurf. Vorbild sind sie selbst:
"Das Frauenbild war: berufstätig, gebildet, gesellschaftlich tätig und dabei auch noch Mutter - also alle Dinge unter einen Hut zu bringen. Und ich muss sagen, die meisten haben das auch noch geschafft."
Für das Modeheft interessiert sich die sozialistische Führung nur wenig, anfangs gibt es kaum Vorgaben, auch passt der neue Frauentyp in die Gesellschaftsphilosophie:
"Sie sollten schön und gepflegt aussehen, sie sollten nicht exaltiert und künstlich, nicht aufgedonnert sein - und das ist auch vollkommen richtig. Und da muss ich mich mit keinem streiten. Und nur wenn es mal ausbrach, mal wurde ein Mädchen mit Zigarette fotografiert – da gab es Diskussionen, nicht weil Rauchen ungesund ist, sondern: also so was Mondänes, das wollen wir nicht haben."
Ziemlich abrupt steht Melis auf und betritt über den kleinen Flur das verlassene Arbeitszimmer ihres Mannes. Die deckenhohen Regalwände im abgedunkelten Raum sind voll mit Büchern und Kunstbänden. In den untersten zwei Reihen stöbert sie nach Sibylle-Magazinen, auf der Suche nach einem bestimmten Foto:
"Wir haben hier die ganzen Belegexemplare, ist doch einiges zusammengekommen, in den letzten Jahrzehnten, (Klappern). Das sind alles Bücher von meinem Mann, ich habe ja nur die Zwei."
Roger Melis, ihr Mann, ist ein bekannter Fotograf. Er ist kürzlich verstorben, seine Fotoreportagen über den Alltag im Mauerland und Porträts von DDR-Künstlern wie Christa Wolf und Heiner Müller werden heute in Bildbänden neu aufgelegt. Sie schaut vom Regal auf - Augen, Mund, alles lächelt, als sie sich an den Auftrag ihrer Chefin erinnert, der zur ersten Begegnung führt.
"Da hat die Pfannstiel gesagt, ach wissen sie wat? Wir brauchen ein paar neue Fotografen, kümmern sie sich. Und na ja, das habe ich gemacht. Mehrere, und da war er dabei und da habe ich gesagt: Naja, ich wollte mir gerne mal von ihm Arbeiten angucken und ob ihn das interessieren würde. Ach, sagt er, Mode kann ich nicht. Und dann bin ich zu ihm gefahren und habe Fotos gesehen. Ich habe gedacht, das kann ja nicht wahr sein. Wahnsinnige Reportagen, die er in Russland gemacht hat, im Kaukasus, wunderschöne Porträts. Hach, sag ich, so muss man Mode fotografieren ..."
Sie verliebt sich in seine Bilder, dann in ihn. Drei Jahre später, 1970, heiraten sie.
".. .und dann sagte die Pfannstiel: So habe ich das nicht gemeint, sie sollten ja den Fotografen nicht gleich heiraten, aber wenn nun mal schon so ist."
40 Jahre arbeiten und leben sie zusammen, Dorothea Melis bekämpft ihren Schmerz, hält sich immerzu beschäftigt. Ihre schmalen Hände suchen weiter im Regal, als erstes zieht sie ihr Buch über "Modefotografie aus drei Jahrzehnten DDR" hervor, in dem sie die Geschichten und Fotos der Sibylle zusammenträgt.
"Ich wollte nicht, dass alles mit 89 vergessen ist, alles was wir gemacht und geleistet haben, nichts gewesen sein soll. Mir hat auch eine junge Journalistin vom Stern den berühmten Satz gesagt: Na ja, sie müssen erst mal arbeiten lernen. Heute hätte ich gewusst, was ich ihr sage. Aber damals war ich den Tränen nahe. So ein junges, dämliches Ding wagt mich so zu beleidigen."
Als sie das Buch zurückstellt, entdeckt sie endlich den Stapel Sibylle-Magazine.
"Ich habe hier gerade ein Bild, 1982 im Lustgarten. Zwei Mädchen von hinten fotografiert, fast unscharf. Und 6 Jahre später fand ich ein Foto von Peter Lindbergh, zwei Mädchen, von hinten, fast unscharf. Ja, hat der Lindbergh nun von der Bergemann abgekuckt, oder ist Zeitgeist auch nicht durch Mauern zu trennen. Aber es ist schon verrückt, wenn es umgekehrt wäre, würden alle sagen, Haha. Aber so, ich finde das ist ein sehr schönes Beispiel dafür, dass Modefotografie tatsächlich nicht nur Abbild von irgendwelchen Kleidern ist, sondern dass Modefotografie doch Zeitgeist zeigt."
Beinahe liebevoll streichen ihre langen Finger über die großformatigen Seiten. Wunderbare Fotos blättern sich vor ihr auf: Mannequins im Trenchcoat vor Industrielandschaften, Hand in Hand rennend am Spreeufer, mit Seidenkleid im verfallenen Hinterhof. Ein Mädchen in Pelzjacke, fotografiert von Günter Rössler, kniet am steinigen Strand von Hiddensee. Nichts, was nach DDR-Chic aussieht.
"Es ist eigentlich so ein landläufiges Vorurteil, dass es im sozialistischen Lager keine Mode gegeben hat, dass es da keine Ästhetik gab, dass es nicht schön ist, dass es da keine Kultur gab."
Viele der Kleider auf den Fotos sind so nicht zu kaufen. Die Konfektionsindustrie stellt wenig Brauchbares her. Doch aus der Not heraus nähen die Frauen. Besonders begehrt sind die Sibylle-Schnittmuster: Aus Leinen-Bettlaken werden Blazer, einfache Stoffe werden bestickt, gerafft und gefärbt.
"Mode wird auch auf der Straße gemacht. Mode wird nicht von irgendwelchen großen Schöpfern gemacht. Dass das die Leute, die es gelernt haben, steuern und lenken, das ist was anderes. Aber eine Mode, die nicht angenommen wird, wird keine Mode."
Melis zeigt auf einen Entwurf von ihr: ein Kleid aus Tweed, Wolle und Cord:
"Ich will jetzt nicht lügen, aber ein Schnitt hat sich 700.000 mal verkauft, das war ein Grundschnitt aus dem man alles machen konnte, - es war zufällig auch ein Entwurf von mir - und das hat das Bedürfnis der selbstschneidernden Frauen befriedigt."
Je populärer Sibylle wird, desto enger wird sie beobachtet. Die Stasi hört am Redaktionstelefon mit:
"Wir haben den, der uns abgehört hat, Gustav genannt. Und haben gesagt: Gustav, du kannst ruhig zuhören, man hat nur verschlüsselt gesprochen. Wir konnten das so, wir haben Texte auch zwischen den Zeilen - und die Leute konnten das entschlüsseln."
Im letzten Heft wird Melis endlich fündig: sie blickt auf die schwarz-weiß Aufnahme, eine Rückenansicht zweier Mädchen im langen Mantel, aufgenommen 1970 in Warschau - von Roger Melis. Die Chefredakteurin von Sibylle ist gerade ausgewechselt - gegen eine Parteitreue:
"Und ich lege das vor, und die Chefredakteurin kriegt fast einen Weinkrampf, was ich mir einbilde, so was zu machen. ‚Unsere Frauen von hinten, das ist ja menschenverachtend. Ihr habt doch ein Gesicht.’ Und da habe ich gesagt: ‚Ich finde das einfach zu dumm, ich möchte mit Ihnen nicht mehr weiterreden.’ Und da wusste ich: Jetzt ist Schluss, ich geh hier weg, egal wie."
Sie erhebt sich aus dem schweren Ledersessel, will an die frische Luft. Vom Garderobenhaken holt sie eine schwarze Jacke und während sie nach dem richtigen Schlüssel sucht, erzählt sie, dass ihr Mann 1970 das Angebot bekommt, das Land zu verlassen.
"Und da haben wir gesagt: ‚Nein. Wir haben uns was ganz Schönes aufgebaut. Und wir haben unsere sichere Arbeit. Wer weiß, wie das in diesem Land ist.’"
Mit sicheren Schritten nimmt Sie die Stufen vom zweiten Stock nach unten.
"Da kann ich nicht sagen, ach, ich habe eine verpasste Chance. Natürlich habe ich mir gewünscht, mehr machen zu dürfen, dass man uns braucht. Eigentlich waren wir immer lästig, weil wir wollten immer was verändern, was Neues schaffen und das hat Unruhe gemacht. Das haben wir uns gewünscht."
Die Luft ist kühl, draußen regnet es in Strömen. Melis nimmt es gelassen, spannt den schwarzen Knirps auf, zieht die Jacke etwas enger und geht zum Auto.
"Hier das sind die Croissants. Wir fahren also zur Friedrichstraße, schön."
Sie lässt sich zur Friedrichstraße fahren, dort wo bis 1990 die Redaktion der Sibylle ist.
Während der Autofahrt schaut sie aus dem Fenster, jammernde Ostdeutsche, die sich die Mauer zurückwünschen, versteht sie nicht:
"Ich liebe, dass diese alten, schönen Bürgerhäuser renoviert sind, es ist ja höchstens ein Haus hier, was es nötig hat. Man hat das gar nicht so empfunden, wie grau, wie desolat, wie entsetzlich diese Stadt aussah."
Vorbei am Alex, entlang des Boulevards Unter den Linden. Orte, die sie von den Modeshootings nur allzu gut kennt:
"Hier am Dom rechts, das war der Lustgarten unser oft strapaziertes Fotomotiv, jetzt ist er umgestaltet, hier haben wir oft fotografiert, also doch, hier unter den Linden haben wir sehr viel fotografiert."
Beim Einparken beginnt es noch heftiger zu regnen.
"Also mir ist jetzt als wäre ich in einer fremden Stadt. Ich habe gelesen, die Friedrichstraße ist wieder so schmal wie früher. Und wenn man hier lange nicht war, ist es fremd, aber schön, interessant."
Von ihrem schwarzen Pagenschnitt tropft Wasser. Sie geht weiter ohne sich daran zu stören. An der Ecke Friedrichstraße/Behrendstraße, zeigt sie auf das Erkerfenster eines Juweliers:
"Aus diesem Fenster haben wir desöfteren fotografiert, und zwar war das immer sehr angenehm für mich als Redakteurin und für den Fotografen. Wir haben das Mannequin angezogen, sie runtergeschickt, aus dem Fenster fotografiert. Und das war zauberhaft. Erstens diese verrückte Perspektive von oben, und dann hier die Friedrichstraße war immer lebendig und so war ganze Serie fertig."
Vorbei an den schon erleuchteten Schaufenstern von Galerie Lafayette und Hermes flüchtet sie vor dem Regen zu H&M.
"Ach, ich liebe ja dieses tiefe Lila. Da hat man übrigens eine sehr schöne Haut. Das ist die Komplementärfarbe, da wirkt die Haut bräunlich-gelblich, sehr schön, wunderbar."
Im H&M-Geschäft sind nur einige wenige Mütter mit Kindern und drei-vier junge Mädchen. Mit geübten Blick schaut Melis durch die übervollen Stangen. Tweed-Jäckchen im Military-Stil, Marlene-Dietrich-Hosen mit weißen Blusen.
"Ist auch sehr hübsch. Military. Dieser Military-Stil kann ich mich erinnern, das war in den Siebzigerjahren, habe ich auch so einen Entwurf gemacht. Ja, so kommt alles wieder."
1970, nach einem Streit mit der neuen Sibylle-Chefredakteurin, wird Melis von der gerade gegründeten Luxusmarke der DDR "Exquisit" abgeworben.
"Mode und sich wohl fühlen und den anderen gefallen - das ist ein menschliches Bedürfnis, das konnte nicht befriedigt werden. Und da hat sich Partei und Regierung ausgedacht, wir werden das Geld, das hier so sinnlos rumliegt, abschöpfen: Und da wurde dieser Handelsbetrieb Exquisit gegründet."
Exquisit importiert Stoffe und Accessoires aus dem Ausland. Es beschäftigt die besten Modegestalter des Landes. Melis fühlt den Stoff eines goldenen Strickjäckchen mit Blumenapplikationen.
"Mein Gott, es gibt ja wieder Lurex, da hatten wir auch unsere Zeit. Ist ganz hübsch."
Schnitt und Material erinnern sie an Exquisit, wo sie bis 1990 die Presse- und Öffentlichkeitsabteilung leitet. Melis baut auf Modenschauen und Messen den Markennamen auf und sorgt dafür, dass Exquisit-Mode regelmäßig in der Sibylle abgebildet ist. Die DDR-Bürger sind ganz verrückt danach - zur Jugendweihe, zum Opernbesuch - muss es Exquisit sein: Die 44 Geschäfte in der DDR machen einen jährlichen Umsatz von drei Milliarden Mark - fast 30 Prozent des gesamten Bekleidungsabsatzes.
"Früher in der DDR hat man bei Exquisit für irgendso ein Teil fast ein Monatsgehalt ausgeben oder fast ein halbes. Ein Blazer kostete soviel wie eine Verkäuferin im Monat verdiente. Also es ist nicht zu vergleichen, ich finde es ist spottbillig, für 30 Euro, aber dann eben in China."
Melis hängt das goldene Jäckchen made in China wieder zurück, sie findet es müßig, Gesellschaftskritik zu üben. Als sie jung ist, ist sie von der sozialistischen Idee angetan, davon, dass alle Menschen gleich sind:
"Diese Meinung habe ich dann 1968 revidiert. Und es haben ja auch deutsche Panzer in der Nähe von Prag gestanden. Ich habe ein freundliches sozialistisches Gesicht aufgesetzt und habe mich so durchlaviert. Natürlich ist das Heuchelei. Aber dazu bekenne ich mich!"
Als die Mauer fällt, ist sie vor allem schockiert, welche Mode da aus dem Westen herüberschwappt:
"Kurz nach der Wende, 1990, da ist mir aufgefallen, dass die Frauen auf einmal so schrecklich geschmacklos aussahen, weil nun war der Westen offen, nun konnten sie bei Woolworth das kaufen, was sie die ganze Zeit vermisst haben, Und da liefen 60-Jährige in Leggins rum, mit zu eng und - es sah so schrecklich aus. Ich habe gedacht, mein Gott ihr habt ja gar keinen Anstand mehr, wo ist denn das geblieben."
Natürlich ist auch Melis neugierig. So wie sie immer weiter durch das Sortiment von H&M streift, will sie auch den Westen kennenlernen - und muss ganz von unten anfangen.
"Auf einmal war ich nichts, gar nichts. Nicht nur namenlos, sondern ich war nichts, keiner wollte was von mir und keiner glaubte auch, dass ich was kann."
Das Arbeitsamt bezahlt eine Umschulung zur PR-Beraterin, eine Werbeagentur am Kudamm stellt sie mit 52 Jahren als Praktikantin ein:
"Als ich mich für dieses Praktikum beworben hatte, hat der Chef gesagt: ‚Also passen Sie mal auf: Wir haben hier keine Sekretärin. Sie schreiben zehn Finger blind, sonst brauchen sie gar nicht zu kommen.’ Habe ich gesagt: ‚Ich hatte immer eine Sekretärin, ich weiß noch nicht mal wie man telefoniert.’ Und als ich bei ihm anfing, konnte ich natürlich zehn Finger blind, ist doch toll! Man muss manchmal zu seinem Glück gezwungen werden."
Sie kann allen Veränderungen etwas Positives abgewinnen, selbst der Arbeitslosigkeit. Sie schreibt zwei Bücher, organisiert mit ihrem Mann Fotoausstellungen und doziert vor Modestudenten. Vor einem Kleiderständer bleibt sie stehen. Sie hat etwas Hübsches entdeckt, ideal für ihren Auftritt im Kunstgewerbemuseum, bei dem sie später noch über Modefotografie spricht.
"Ich werde mir nichts Besonderes kaufen, wobei ich jetzt gerade hier einen Hosenanzug sehe, der wäre es überhaupt - in diesem feinen Grau, sehr schön gemacht."
Sie hält ihn dicht an ihren noch immer schlanken Körper mit den langen Beinen. Mit der aktiven Modebranche hat sie seit dem Aus von Exquisit nichts mehr zu tun. Sie hängt den Anzug zurück, fast erleichtert, nicht mehr jeden Trend, jede Rock- und Kragenform mitmachen zu müssen.
"Mir hing es zum Halse raus. Denn das Getue das Eitle, Merkwürdige, was im Westen an der Mode hängt, dieser Modellkult, das hat mich eigentlich angewidert! Und ich hab gedacht: Jetzt musste keine Mode mehr machen!"
Nein, eitel ist sie wirklich nicht. Nicht die Mode, sondern das Leben selbst ist für sie spannend. Eine wie Dorothea Melis hat immer Pläne: das Fotoarchiv ihres Mannes ordnen, vielleicht noch ein Buch schreiben – alles, bloß keinen Stillstand.
"Also eigentlich, Mode ist dazu da, dass sie vergessen wird und dann kommt eine neue. Da muss nichts übrigbleiben. Ich bin der Meinung, es sollte übrig bleiben, wie redlich, wie engagiert wir gearbeitet und gedacht haben. Auf die Kleider können wir verzichten, aber nicht auf das, wie wir etwas gemacht haben."
Vergessene Gesichter: Die Modejournalistin Dorothea Melis. Eine Reportage von Tina Hüttl
"Wollen wir in die Küche gehen?"
Kehrbesen und Schaufel in einer Hand öffnet Dorothea Melis die Wohnungstür. Auffallend groß ist sie - und unkompliziert. Das ist das Erste, was einem durch den Kopf geht. 30 Jahre Modebranche, das klingt nach extravaganter Kleidung, Pumps oder zumindest Schminke im Gesicht. Aber da ist nichts. Schon entwischt sie wieder in die Küche, verstaut die Putzsachen hinter dem Mülleimer ...
"Ich hab gerade was weggefegt hier in der Küche."
... und setzt Teewasser auf.
"Ich trink sehr gerne den grünen Tee, man muss wissen, wie man ihn zubereitet. Na ja, also nicht so lange ziehen lassen. Ich gucke wirklich maximal zweieinhalb Minuten."
Die Küche in ihrer Altbauwohnung am Prenzlauer Berg in Berlin ist schmal, aber gemütlich. Aus der weißen Glasvitrine gegenüber der Kochzeile holt sie ein paar handbemalte Teetassen. Einfache Blumenmuster, bäuerlicher Stil.
"Es sind nur ein paar Tassen, aber ich finde die wunderschön, es ist das zarteste Porzellan, was ich jemals hatte. Meine Anlage ist, dass ich Sammler bin. Ich sammle alles, wenn ich in den Wald gehe, muss ich wenigstens einen schönen Stein finden oder Zweig. Ich sammle alles."
Die Gläser und das Teeservice in der Vitrine sind wirkungsvoll arrangiert, die meisten zeitlos, formschön. Sie selbst hat einen schlichten schwarzen Pullover übergezogen, dazu Bluejeans. Vielleicht, weil sie sich darin noch immer ein wenig rebellisch fühlt. Früher im Sozialismus gelten Jeansträger als verdächtig, heute, weil sie Jeans noch mit über 70 trägt.
"Ich war ja leitende Redakteurin, ich habe ja die Modeabteilung geleitet bei der Sibylle und da hatte ich Jeans. Und da hat meine Chefin gesagt: aber bitte nicht im Betrieb, mit diesen amerikanischen Hosen."
Das Wasser kocht. Melis gießt die Kanne auf, stellt sie auf den alten Holztisch und schiebt geschickt ein paar handbeschriebene Blätter zur Seite. Das Manuskript ihres Vortrages, den sie heute im Berliner Kunstgewerbemuseum hält. Wieder einmal wird sie über die Modefotografie in der DDR sprechen - und natürlich über ihre Zeit als Redakteurin bei der Sibylle, der "Vogue des Ostens" , wie Melis die Kultur- und Modezeitschrift der DDR ganz unbescheiden beschreibt.
"Also ich habe Vorlayout gemacht, ich habe Koffer geschleppt, ich habe Sachen ausgesucht, gebügelt, Mädchen geschminkt. Regie gemacht, habe Fotoassistenz gemacht und nachher die Texte geschrieben – also alles. Und das kann man nicht im kleinen Kleidchen. Also habe ich mir Markise gekauft, wo man Liegestühle bezieht und habe Hosen genäht, weil ich nicht mit Jeans auftreten durfte. Also wenn man sich das überlegt, das ist Sahre."
Bei Croissants und grünem Tee am Küchentisch stehen bei Melis die Sechzigerjahre wieder auf - die Zeit, als sie zur Sibylle geht. Noch teilt die Mauer Berlin nicht. In der jungen Deutschen Demokratischen Republik arbeiten die Frauen im Dreischichtsystem. Es gibt Lebensmittelkarten und kaum etwas zum Anziehen. Doch die 1956 ins Leben gerufene Modezeitschrift Sibylle zeigt Haute Couture aus Paris. Absurd findet Melis und rührt gedankenversunken in ihrem Tee.
"Und ich habe dann 1960 an meiner Diplomarbeit geschrieben und habe gedacht: Ok, nimm die Zeitung, es ist eine Chance, eine Zeitung für Mode und Kultur, die wird hier völlig vergurkt und verschenkt. Jetzt analysiere mal die Zeitung."
Mit dem Kopf deutet sie zu den Bildern über ihr an der Wand. Auf einem Foto: Eine junge, hübsche Modestudentin mit blassblauen Augen unterm schwarzen Pagenschnitt. Den trägt sie noch immer. In ihrer Abschlussarbeit in Modedesign an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee zerreißt sie die Sibylle in der Luft. Postwendend wird sie zur damaligen Chefredakteurin Margot Pfannstiel zitiert.
"Da hat sie gesagt: Ich habe Ihre Arbeit gelesen, ist ja interessant. Wenn Sie alles so genau wissen, dann fangen Sie mal hier an. Und machen das mal, und zwar besser."
Dorothea Melis lässt sich das nicht zweimal sagen. Seit ihrer Kindheit zeichnet und schneidert sie gern. Neben dem Foto hängt ein Wandkalender, den sie Jahr für Jahr für ihre Enkelin gestaltet. Jeder Monat ist eine aufwendig gearbeitete Zeitungscollage, mal Märchenmotive mit fliegenden Pferden, mal erdfarbene Silhouetten einer toskanischen Landschaft. Als junge Modejournalistin bei der Sibylle lebt sie sich aus.
"Und ich habe dann angefangen und dann hat die mir wirklich freie Hand gelassen. Ich habe den Arno Fischer, – der war Oberassi für Fotografie in Weißensee - den habe ich zur Sibylle geholt, ich habe meinen ehemaligen Deutsch- und Geschichtslehrer von der Oberschule geholt für Texte, eine Kommilitonin hat fotografiert, ich hatte mein ganzes Team, alles meine Leute."
Sie schlürft den noch heißen Tee. Aus der biederen Zeitschrift für die feine Dame wird unter ihrer Regie ein Magazin für moderne, unabhängige Frauen, die im Alltag Beruf, Familie und Freunde ganz selbstverständlich vereinen.
"Ich wollte was Zeitgemäßes machen, was den Frauen entgegenkam, die unter diesen ökonomisch komplizierten und argen Verhältnissen leben und arbeiten mussten. Also konnte ich keine Cocktailkleider zeigen, sondern eine vernünftige Mode, die Berufstätigkeit in den Vordergrund stellte. Schön sollte sie sein, aber hauptsächlich vernünftig. Das war mein Credo."
Beim Sprechen hält sie sich sehr gerade, sie ist selbstbewusst, an Erfolge gewöhnt: Wie Anna Wintour die mächtige Modechefin der amerikanischen Vogue, beeinflusst sie den Stil - nur in der kleinen, engen DDR.
"Ich war ja hart, ich habe immer meinen Willen und Stil durchgesetzt, auch wenn es Tränen gegeben hat. Mich konnte kaum einer leiden, weil ich so rabiat war. Aber es tut mir heute immer noch nicht leid."
Mit einer Auflage von 200.000 Stück ist die Sibylle immer vergriffen, Kioskbesitzer werden bestochen, jedes Heft geht durch viele Hände. Melis und ihr Team zeigen den Frauen nicht nur, wie sie sich gut anziehen, sondern einen ganzen Lebenswurf. Vorbild sind sie selbst:
"Das Frauenbild war: berufstätig, gebildet, gesellschaftlich tätig und dabei auch noch Mutter - also alle Dinge unter einen Hut zu bringen. Und ich muss sagen, die meisten haben das auch noch geschafft."
Für das Modeheft interessiert sich die sozialistische Führung nur wenig, anfangs gibt es kaum Vorgaben, auch passt der neue Frauentyp in die Gesellschaftsphilosophie:
"Sie sollten schön und gepflegt aussehen, sie sollten nicht exaltiert und künstlich, nicht aufgedonnert sein - und das ist auch vollkommen richtig. Und da muss ich mich mit keinem streiten. Und nur wenn es mal ausbrach, mal wurde ein Mädchen mit Zigarette fotografiert – da gab es Diskussionen, nicht weil Rauchen ungesund ist, sondern: also so was Mondänes, das wollen wir nicht haben."
Ziemlich abrupt steht Melis auf und betritt über den kleinen Flur das verlassene Arbeitszimmer ihres Mannes. Die deckenhohen Regalwände im abgedunkelten Raum sind voll mit Büchern und Kunstbänden. In den untersten zwei Reihen stöbert sie nach Sibylle-Magazinen, auf der Suche nach einem bestimmten Foto:
"Wir haben hier die ganzen Belegexemplare, ist doch einiges zusammengekommen, in den letzten Jahrzehnten, (Klappern). Das sind alles Bücher von meinem Mann, ich habe ja nur die Zwei."
Roger Melis, ihr Mann, ist ein bekannter Fotograf. Er ist kürzlich verstorben, seine Fotoreportagen über den Alltag im Mauerland und Porträts von DDR-Künstlern wie Christa Wolf und Heiner Müller werden heute in Bildbänden neu aufgelegt. Sie schaut vom Regal auf - Augen, Mund, alles lächelt, als sie sich an den Auftrag ihrer Chefin erinnert, der zur ersten Begegnung führt.
"Da hat die Pfannstiel gesagt, ach wissen sie wat? Wir brauchen ein paar neue Fotografen, kümmern sie sich. Und na ja, das habe ich gemacht. Mehrere, und da war er dabei und da habe ich gesagt: Naja, ich wollte mir gerne mal von ihm Arbeiten angucken und ob ihn das interessieren würde. Ach, sagt er, Mode kann ich nicht. Und dann bin ich zu ihm gefahren und habe Fotos gesehen. Ich habe gedacht, das kann ja nicht wahr sein. Wahnsinnige Reportagen, die er in Russland gemacht hat, im Kaukasus, wunderschöne Porträts. Hach, sag ich, so muss man Mode fotografieren ..."
Sie verliebt sich in seine Bilder, dann in ihn. Drei Jahre später, 1970, heiraten sie.
".. .und dann sagte die Pfannstiel: So habe ich das nicht gemeint, sie sollten ja den Fotografen nicht gleich heiraten, aber wenn nun mal schon so ist."
40 Jahre arbeiten und leben sie zusammen, Dorothea Melis bekämpft ihren Schmerz, hält sich immerzu beschäftigt. Ihre schmalen Hände suchen weiter im Regal, als erstes zieht sie ihr Buch über "Modefotografie aus drei Jahrzehnten DDR" hervor, in dem sie die Geschichten und Fotos der Sibylle zusammenträgt.
"Ich wollte nicht, dass alles mit 89 vergessen ist, alles was wir gemacht und geleistet haben, nichts gewesen sein soll. Mir hat auch eine junge Journalistin vom Stern den berühmten Satz gesagt: Na ja, sie müssen erst mal arbeiten lernen. Heute hätte ich gewusst, was ich ihr sage. Aber damals war ich den Tränen nahe. So ein junges, dämliches Ding wagt mich so zu beleidigen."
Als sie das Buch zurückstellt, entdeckt sie endlich den Stapel Sibylle-Magazine.
"Ich habe hier gerade ein Bild, 1982 im Lustgarten. Zwei Mädchen von hinten fotografiert, fast unscharf. Und 6 Jahre später fand ich ein Foto von Peter Lindbergh, zwei Mädchen, von hinten, fast unscharf. Ja, hat der Lindbergh nun von der Bergemann abgekuckt, oder ist Zeitgeist auch nicht durch Mauern zu trennen. Aber es ist schon verrückt, wenn es umgekehrt wäre, würden alle sagen, Haha. Aber so, ich finde das ist ein sehr schönes Beispiel dafür, dass Modefotografie tatsächlich nicht nur Abbild von irgendwelchen Kleidern ist, sondern dass Modefotografie doch Zeitgeist zeigt."
Beinahe liebevoll streichen ihre langen Finger über die großformatigen Seiten. Wunderbare Fotos blättern sich vor ihr auf: Mannequins im Trenchcoat vor Industrielandschaften, Hand in Hand rennend am Spreeufer, mit Seidenkleid im verfallenen Hinterhof. Ein Mädchen in Pelzjacke, fotografiert von Günter Rössler, kniet am steinigen Strand von Hiddensee. Nichts, was nach DDR-Chic aussieht.
"Es ist eigentlich so ein landläufiges Vorurteil, dass es im sozialistischen Lager keine Mode gegeben hat, dass es da keine Ästhetik gab, dass es nicht schön ist, dass es da keine Kultur gab."
Viele der Kleider auf den Fotos sind so nicht zu kaufen. Die Konfektionsindustrie stellt wenig Brauchbares her. Doch aus der Not heraus nähen die Frauen. Besonders begehrt sind die Sibylle-Schnittmuster: Aus Leinen-Bettlaken werden Blazer, einfache Stoffe werden bestickt, gerafft und gefärbt.
"Mode wird auch auf der Straße gemacht. Mode wird nicht von irgendwelchen großen Schöpfern gemacht. Dass das die Leute, die es gelernt haben, steuern und lenken, das ist was anderes. Aber eine Mode, die nicht angenommen wird, wird keine Mode."
Melis zeigt auf einen Entwurf von ihr: ein Kleid aus Tweed, Wolle und Cord:
"Ich will jetzt nicht lügen, aber ein Schnitt hat sich 700.000 mal verkauft, das war ein Grundschnitt aus dem man alles machen konnte, - es war zufällig auch ein Entwurf von mir - und das hat das Bedürfnis der selbstschneidernden Frauen befriedigt."
Je populärer Sibylle wird, desto enger wird sie beobachtet. Die Stasi hört am Redaktionstelefon mit:
"Wir haben den, der uns abgehört hat, Gustav genannt. Und haben gesagt: Gustav, du kannst ruhig zuhören, man hat nur verschlüsselt gesprochen. Wir konnten das so, wir haben Texte auch zwischen den Zeilen - und die Leute konnten das entschlüsseln."
Im letzten Heft wird Melis endlich fündig: sie blickt auf die schwarz-weiß Aufnahme, eine Rückenansicht zweier Mädchen im langen Mantel, aufgenommen 1970 in Warschau - von Roger Melis. Die Chefredakteurin von Sibylle ist gerade ausgewechselt - gegen eine Parteitreue:
"Und ich lege das vor, und die Chefredakteurin kriegt fast einen Weinkrampf, was ich mir einbilde, so was zu machen. ‚Unsere Frauen von hinten, das ist ja menschenverachtend. Ihr habt doch ein Gesicht.’ Und da habe ich gesagt: ‚Ich finde das einfach zu dumm, ich möchte mit Ihnen nicht mehr weiterreden.’ Und da wusste ich: Jetzt ist Schluss, ich geh hier weg, egal wie."
Sie erhebt sich aus dem schweren Ledersessel, will an die frische Luft. Vom Garderobenhaken holt sie eine schwarze Jacke und während sie nach dem richtigen Schlüssel sucht, erzählt sie, dass ihr Mann 1970 das Angebot bekommt, das Land zu verlassen.
"Und da haben wir gesagt: ‚Nein. Wir haben uns was ganz Schönes aufgebaut. Und wir haben unsere sichere Arbeit. Wer weiß, wie das in diesem Land ist.’"
Mit sicheren Schritten nimmt Sie die Stufen vom zweiten Stock nach unten.
"Da kann ich nicht sagen, ach, ich habe eine verpasste Chance. Natürlich habe ich mir gewünscht, mehr machen zu dürfen, dass man uns braucht. Eigentlich waren wir immer lästig, weil wir wollten immer was verändern, was Neues schaffen und das hat Unruhe gemacht. Das haben wir uns gewünscht."
Die Luft ist kühl, draußen regnet es in Strömen. Melis nimmt es gelassen, spannt den schwarzen Knirps auf, zieht die Jacke etwas enger und geht zum Auto.
"Hier das sind die Croissants. Wir fahren also zur Friedrichstraße, schön."
Sie lässt sich zur Friedrichstraße fahren, dort wo bis 1990 die Redaktion der Sibylle ist.
Während der Autofahrt schaut sie aus dem Fenster, jammernde Ostdeutsche, die sich die Mauer zurückwünschen, versteht sie nicht:
"Ich liebe, dass diese alten, schönen Bürgerhäuser renoviert sind, es ist ja höchstens ein Haus hier, was es nötig hat. Man hat das gar nicht so empfunden, wie grau, wie desolat, wie entsetzlich diese Stadt aussah."
Vorbei am Alex, entlang des Boulevards Unter den Linden. Orte, die sie von den Modeshootings nur allzu gut kennt:
"Hier am Dom rechts, das war der Lustgarten unser oft strapaziertes Fotomotiv, jetzt ist er umgestaltet, hier haben wir oft fotografiert, also doch, hier unter den Linden haben wir sehr viel fotografiert."
Beim Einparken beginnt es noch heftiger zu regnen.
"Also mir ist jetzt als wäre ich in einer fremden Stadt. Ich habe gelesen, die Friedrichstraße ist wieder so schmal wie früher. Und wenn man hier lange nicht war, ist es fremd, aber schön, interessant."
Von ihrem schwarzen Pagenschnitt tropft Wasser. Sie geht weiter ohne sich daran zu stören. An der Ecke Friedrichstraße/Behrendstraße, zeigt sie auf das Erkerfenster eines Juweliers:
"Aus diesem Fenster haben wir desöfteren fotografiert, und zwar war das immer sehr angenehm für mich als Redakteurin und für den Fotografen. Wir haben das Mannequin angezogen, sie runtergeschickt, aus dem Fenster fotografiert. Und das war zauberhaft. Erstens diese verrückte Perspektive von oben, und dann hier die Friedrichstraße war immer lebendig und so war ganze Serie fertig."
Vorbei an den schon erleuchteten Schaufenstern von Galerie Lafayette und Hermes flüchtet sie vor dem Regen zu H&M.
"Ach, ich liebe ja dieses tiefe Lila. Da hat man übrigens eine sehr schöne Haut. Das ist die Komplementärfarbe, da wirkt die Haut bräunlich-gelblich, sehr schön, wunderbar."
Im H&M-Geschäft sind nur einige wenige Mütter mit Kindern und drei-vier junge Mädchen. Mit geübten Blick schaut Melis durch die übervollen Stangen. Tweed-Jäckchen im Military-Stil, Marlene-Dietrich-Hosen mit weißen Blusen.
"Ist auch sehr hübsch. Military. Dieser Military-Stil kann ich mich erinnern, das war in den Siebzigerjahren, habe ich auch so einen Entwurf gemacht. Ja, so kommt alles wieder."
1970, nach einem Streit mit der neuen Sibylle-Chefredakteurin, wird Melis von der gerade gegründeten Luxusmarke der DDR "Exquisit" abgeworben.
"Mode und sich wohl fühlen und den anderen gefallen - das ist ein menschliches Bedürfnis, das konnte nicht befriedigt werden. Und da hat sich Partei und Regierung ausgedacht, wir werden das Geld, das hier so sinnlos rumliegt, abschöpfen: Und da wurde dieser Handelsbetrieb Exquisit gegründet."
Exquisit importiert Stoffe und Accessoires aus dem Ausland. Es beschäftigt die besten Modegestalter des Landes. Melis fühlt den Stoff eines goldenen Strickjäckchen mit Blumenapplikationen.
"Mein Gott, es gibt ja wieder Lurex, da hatten wir auch unsere Zeit. Ist ganz hübsch."
Schnitt und Material erinnern sie an Exquisit, wo sie bis 1990 die Presse- und Öffentlichkeitsabteilung leitet. Melis baut auf Modenschauen und Messen den Markennamen auf und sorgt dafür, dass Exquisit-Mode regelmäßig in der Sibylle abgebildet ist. Die DDR-Bürger sind ganz verrückt danach - zur Jugendweihe, zum Opernbesuch - muss es Exquisit sein: Die 44 Geschäfte in der DDR machen einen jährlichen Umsatz von drei Milliarden Mark - fast 30 Prozent des gesamten Bekleidungsabsatzes.
"Früher in der DDR hat man bei Exquisit für irgendso ein Teil fast ein Monatsgehalt ausgeben oder fast ein halbes. Ein Blazer kostete soviel wie eine Verkäuferin im Monat verdiente. Also es ist nicht zu vergleichen, ich finde es ist spottbillig, für 30 Euro, aber dann eben in China."
Melis hängt das goldene Jäckchen made in China wieder zurück, sie findet es müßig, Gesellschaftskritik zu üben. Als sie jung ist, ist sie von der sozialistischen Idee angetan, davon, dass alle Menschen gleich sind:
"Diese Meinung habe ich dann 1968 revidiert. Und es haben ja auch deutsche Panzer in der Nähe von Prag gestanden. Ich habe ein freundliches sozialistisches Gesicht aufgesetzt und habe mich so durchlaviert. Natürlich ist das Heuchelei. Aber dazu bekenne ich mich!"
Als die Mauer fällt, ist sie vor allem schockiert, welche Mode da aus dem Westen herüberschwappt:
"Kurz nach der Wende, 1990, da ist mir aufgefallen, dass die Frauen auf einmal so schrecklich geschmacklos aussahen, weil nun war der Westen offen, nun konnten sie bei Woolworth das kaufen, was sie die ganze Zeit vermisst haben, Und da liefen 60-Jährige in Leggins rum, mit zu eng und - es sah so schrecklich aus. Ich habe gedacht, mein Gott ihr habt ja gar keinen Anstand mehr, wo ist denn das geblieben."
Natürlich ist auch Melis neugierig. So wie sie immer weiter durch das Sortiment von H&M streift, will sie auch den Westen kennenlernen - und muss ganz von unten anfangen.
"Auf einmal war ich nichts, gar nichts. Nicht nur namenlos, sondern ich war nichts, keiner wollte was von mir und keiner glaubte auch, dass ich was kann."
Das Arbeitsamt bezahlt eine Umschulung zur PR-Beraterin, eine Werbeagentur am Kudamm stellt sie mit 52 Jahren als Praktikantin ein:
"Als ich mich für dieses Praktikum beworben hatte, hat der Chef gesagt: ‚Also passen Sie mal auf: Wir haben hier keine Sekretärin. Sie schreiben zehn Finger blind, sonst brauchen sie gar nicht zu kommen.’ Habe ich gesagt: ‚Ich hatte immer eine Sekretärin, ich weiß noch nicht mal wie man telefoniert.’ Und als ich bei ihm anfing, konnte ich natürlich zehn Finger blind, ist doch toll! Man muss manchmal zu seinem Glück gezwungen werden."
Sie kann allen Veränderungen etwas Positives abgewinnen, selbst der Arbeitslosigkeit. Sie schreibt zwei Bücher, organisiert mit ihrem Mann Fotoausstellungen und doziert vor Modestudenten. Vor einem Kleiderständer bleibt sie stehen. Sie hat etwas Hübsches entdeckt, ideal für ihren Auftritt im Kunstgewerbemuseum, bei dem sie später noch über Modefotografie spricht.
"Ich werde mir nichts Besonderes kaufen, wobei ich jetzt gerade hier einen Hosenanzug sehe, der wäre es überhaupt - in diesem feinen Grau, sehr schön gemacht."
Sie hält ihn dicht an ihren noch immer schlanken Körper mit den langen Beinen. Mit der aktiven Modebranche hat sie seit dem Aus von Exquisit nichts mehr zu tun. Sie hängt den Anzug zurück, fast erleichtert, nicht mehr jeden Trend, jede Rock- und Kragenform mitmachen zu müssen.
"Mir hing es zum Halse raus. Denn das Getue das Eitle, Merkwürdige, was im Westen an der Mode hängt, dieser Modellkult, das hat mich eigentlich angewidert! Und ich hab gedacht: Jetzt musste keine Mode mehr machen!"
Nein, eitel ist sie wirklich nicht. Nicht die Mode, sondern das Leben selbst ist für sie spannend. Eine wie Dorothea Melis hat immer Pläne: das Fotoarchiv ihres Mannes ordnen, vielleicht noch ein Buch schreiben – alles, bloß keinen Stillstand.