Die Arme eines Tintenfischs sind partiell Teil seines Selbst, sie können also gelenkt und auch durch Sehen gesteuert werden. Aber aus der Perspektive des Zentralgehirns, das ja bei uns Wirbeltieren so wichtig ist, sind diese Arme zum Teil auch kein Selbst, weil sie eigenständige Akteure sind: Die können selbständig handeln.
Intelligente Kraken
Der Mensch staunt, der Oktopus schaut zurück: Der Gemeine Krake (Octopus vulgaris) erkundet seine Umgebung mit den Augen ebenso wie mit den äußerst feinfühligen Armen. © Getty Images / iStockphoto / tane-mahuta
Aliens mit neun Gehirnen
28:43 Minuten
Die Intelligenz der Kraken versetzt Menschen seit der Antike in Erstaunen. Auch der Publizist Gert Scobel ist fasziniert vom Oktopus: Das Verhalten der Tiere zeuge von einem Geist, der völlig anders aufgebaut sei als unserer.
Die Faszination für Kraken und die Frage nach der Eigenart ihrer Intelligenz durchzieht die europäische Geistesgeschichte seit der Antike. Im alten Griechenland galten sie als "Monster". Der französische Schriftsteller Victor Hugo nannte den Oktopus "etwas Wabbeliges, das einen Willen hat".
In jüngster Zeit aber sorgen Tintenfische in wissenschaftlichen Labors für Erstaunen, indem sie mit großem Geschick Marmeladengläser aufschrauben oder trickreich aus ihren Aquarien ausbrechen.
Auge in Auge mit dem Oktopus
Wer beim Schnorcheln im Meer einem Oktopus begegne, könne sich des Eindrucks kaum erwehren, ein intelligentes, zielstrebig handelndes Lebewesen vor sich zu haben, sagt der Wissenschaftsjournalist und Honorarprofessor für Philosophie an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Gert Scobel. Schon Aristoteles habe bemerkt, wer einen Kraken beobachte, werde von dem Tier seinerseits in den Blick genommen.
Auge in Auge mit dem Oktopus sehe der Mensch sich einem Wesen gegenüber, dessen Intelligenz sich völlig anders entwickelt habe als unsere, sagt Scobel. Seit ungefähr 600 Millionen Jahren sei die Evolution der Kopffüßler parallel zu der unserer Vorfahren auf eigenen Wegen verlaufen. Der Geist eines Kraken unterscheide sich in seiner Struktur und im Zusammenspiel mit dem Körper grundlegend von dem der Wirbeltiere.
Der australische Philosoph Peter Godfrey-Smith schrieb deshalb: "Wahrscheinlich werden wir der Erfahrung, einem intelligenten Alien zu begegnen, nie näher kommen."
Geist verteilt im ganzen Körper
Kraken und anderer Oktopoden besitzen nicht nur ein zentrales Nervensystem wie das Gehirn des Menschen, erklärt Scobel. Vielmehr seien die Nervenzellen eines Oktopusses derart über seinen gesamten Körper verteilt, dass neben dem Gehirn acht weitere Zentren in jedem seiner Arme existieren. Das verschaffe den Armen eine gewisse Unabhängigkeit von Informationen und Befehlen aus dem Zentralgehirn. Kraken verfügten quasi über neun Gehirne, "sie sind distribuierter Geist", sagt Scobel.
Philosophisch betrachtet eröffneten Oktopoden uns damit eine Chance, zu ganz anderen Vorstellungen von Intelligenz und Bewusstsein zu gelangen, betont Scobel, der sich als Wissenschaftsjournalist auch in Fernsehsendungen intensiv mit der Intelligenz der Kopffüßler befasst hat. Zwar stehe der Gemeine Krake, was die Anzahl seiner Nervenzellen betrifft, in etwa auf der Stufe eines Hundes und sei von den hochkomplexen geistigen Leistungen, zu denen Menschen in der Lage sind, weit entfernt. Doch gerade die völlig andere Organisationsform seines Nervensystems mache den Oktopus zum Beispiel als Modell für Robotik und künstliche Intelligenz sehr interessant.
Gegen das "Wirbeltier-Vorurteil"
In der Entwicklung von Computersystemen gingen wir womöglich viel zu sehr von den Bedingungen des menschlichen Denkens aus, sagt Scobel: "Ich fürchte, wir übertragen da ganz stark unser eigenes Wirbeltier-Vorurteil: dass man nämlich so eine zentrale Instanz braucht, um überhaupt kognitiv leistungsfähig zu sein."
Dabei hänge das allein von den Aufgaben ab, die ein solches System bewältigen solle. "Unter Umständen ist es viel besser, veteilte Rechner-Architekturen und auch Algorithmen zu haben." Von daher hält Scobel die Intelligenz des Oktopus sowohl philosophisch als auch technisch für sehr inspirierend. "Ich glaube, dass man in der KI-Forschung und der Robotik noch viel von Tintenfischen wird lernen können."
(fka)
Zum Weiterlesen
Peter Godfrey-Smith: "Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins"
Aus dem Englischen von Dirk Höfer
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2019
296 Seiten, 28 Euro
Sy Montgomery: "Rendezvous mit einem Oktopus. Extrem schlau und unglaublich empfindsam: Das erstaunliche Seelenleben der Kraken"
Aus dem Englischen von Heide Sommer
mare, Hamburg 2017
336 Seiten, 28 Euro