"An den Patienten wird bis zum letzten Atemzug Geld verdient"
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Ricardo Lange ist zum Gesicht für die prekären Arbeitsbedingungen in der Pflege geworden. Doch der Intensivkrankenpfleger hat schon vor Corona auf den Pflegenotstand aufmerksam gemacht. Dank seiner Hartnäckigkeit hört ihm heute auch Jens Spahn zu.
Die Pflege sei ein toller Beruf, sagt Ricardo Lange. Trotz allem. Schon lange macht der Intensivkrankenpfleger auf die teilweise prekären Arbeitsbedingungen in seiner Branche aufmerksam. Doch erst seit er vergangenes Jahr bei Facebook einen Post verfasst hat, in dem er von geklauten oder mit Wasser aufgefüllten Desinfektionsmittelflaschen auf den Krankenhausstationen berichtete, findet der 40-Jährige auch bei einem breiteren Publikum Gehör. Tausendfach wurde sein Beitrag geteilt.
"Dieser Egoismus hat mich so auf die Palme gebracht", erzählt er. "Was bringt es mir, wenn die Leute heute oben auf dem Balkon klatschen und morgen die Desinfektionsflaschen tauschen."
"Gefühlt jeder Zweite hat es nicht geschafft"
Die Arbeit auf der Intensivstation sei schon vor dem Ausbruch der Coronapandemie stressig gewesen. Mit Covid-19 kamen völlig neue Herausforderungen auf das Pflegepersonal zu: "Gefühlt jeder Zweite hat es nicht geschafft", sagt der Intensivpfleger über die vergangenen Monate. "Da kann man sich nicht drauf vorbereiten."
Angehörige hätten sich nicht oder nur in voller Schutzmontur von den Sterbenden verabschieden können. "Man war nicht nur Krankenpfleger oder Krankenschwester, sondern auch Bindeglied zwischen Familie und Patient."
Wegen der Infektionsschutzmaßnahmen sei ein würdevoller Umgang mit den Verstorbenen kaum noch möglich gewesen. Üblicherweise würden die Toten aufgebettet, nun mussten ihre Körper in schwarze Plastiksäcke gesteckt werden. Es habe einen "Entsorgungscharakter" gehabt. Nicht nur die Angehörigen hätten nicht ordentlich Abschied nehmen können, auch die Pflegekräfte nicht.
Sinkende Fallzahlen bedeuten sinkendes Interesse
Regelmäßig berichtet Lange von der Situation auf der Intensivstation und dem Pflegenotstand im Allgemeinen. "Kliniken sind momentan wie Fabriken und die Patienten sind die Ware, die da hineingeschoben wird." An ihnen werde "Geld verdient bis zum letzten Atemzug."
Mittlerweile hat der Krankenpfleger eine Kolumne im "Tagesspiegel" und einen Podcast, er war bei Markus Lanz zu Gast und saß neben Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der Bundespressekonferenz. Monatelang hatte er versucht, den CDU-Politiker zu einem Gespräch zu bewegen. Zufrieden ist er nicht: "Viel versprechen, nichts machen, aber dann mit der Berufsgruppe Wahlkampf machen, die sie seit Monaten im Stich lassen."
In den letzten Wochen hat er sich für den "Tagesspiegel" mit dem Spitzenpersonal unterschiedlicher Parteien getroffen, etwa mit Olaf Scholz, Wolfgang Kubicki oder Katrin Göring-Eckardt. Wie groß ist seine Hoffnung, dass sein Engagement tatsächlich etwas verändert und die Politiker und Politikerinnen das Gespräch mit ihm nicht nur zu Wahlkampfzwecken suchen? "Ganz ehrlich? Nicht groß."
Training und Engagement neben der Arbeit
Sinkende Fallzahlen bedeuteten automatisch sinkendes Interesse – ob in der Politik oder in den Medien. Sozialpolitische und gesundheitspolitische Themen erschienen nur wichtig, wenn sie akut seien. "Damit wird zwar Wahlkampf gemacht, weil man damit Sympathiepunkte sammelt", sagt Lange, "aber Gesundheit, Klima und gerade Kinder haben in Deutschland leider nicht so eine Lobby, wie sie sie haben müssten".
Aufgewachsen ist der Berliner im Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Nachdem er als 13-Jähriger von einer Gruppe rechtsradikaler Jugendlicher verprügelt wurde, fing er erst mit Kampfsport an, dann mit Kraftsport. "Von dem Jungen, den man nicht ernstgenommen hat, wurde ich derjenige, den man in Ruhe ließ." Noch heute trainiert er fünfmal in der Woche.
Ursprünglich wollte Lange Polizist werden, seinen Berufswunsch musste er aber wegen einer leichten Schwerhörigkeit kurz vor dem Ende der Ausbildung aufgeben. Nach einer Zwischenstation als Fitnesstrainer absolvierte er schließlich eine Ausbildung zum Krankenpfleger.
Familienleben muss wieder möglich sein
Heute ist er über eine Leiharbeitsfirma angestellt und arbeitet in unterschiedlichen Berliner Krankenhäusern, sein Engagement für die Belange der Pflege findet in seiner Freizeit statt. Er versucht, die Aufmerksamkeit für das Thema zu nutzen, solange sie da ist. Es gehe ihm vor allem darum, die Rahmenbedingungen in seiner Branche zu ändern.
"Man redet immer von Bezahlung, aber es würde mehr bringen, wenn man das Sozialleben der Pflegekräfte fördert. Indem man nicht jedes Wochenende arbeiten muss, nicht dauernd einspringen muss. Es muss möglich sein, wieder ein Familienleben zu haben."
Außerdem dürfe nicht Geld der ausschlaggebende Faktor für eine Therapie sein, sondern der Mensch. "Das würde auch die Arbeit als Pflegekraft erleichtern"
(era)