Interaktives Denkmal

Berliner Charité vergegenwärtigt NS-Vergangenheit

Eine Frau mit einem Tablet an einer der Stationen des interaktiven Denkmals "Remember" der Berliner Charité
Eine Frau mit einem Tablet an einer der Stationen des interaktiven Denkmals "Remember" der Berliner Charité © Wiebke Peitz / Charité Universitätsmedizin Berlin
Von Alexander Moritz |
Tödliche Impfversuche, ermordete Patienten, Zwangssterilisationen: An diese während der NS-Diktatur begangenen Verbrechen erinnert nun die Charité in Berlin mit einem interaktiven Denkmal. Eine App leitet die Besucher über das Klinikgelände.
Kastanien säumen die Hauptstraße, die vom Eingang der Charité zu den Kliniken führt. Ansehnliche Klinkerbauten aus der Kaiserzeit, verziert mit Giebeln, schmuckvollen Säulen und Backsteinreliefs. Gleich links hinter der Toreinfahrt liegt die historische Kinderklinik.
Im Sommer 1943 geht hier der Obduktionsbericht des achtjährigen Dieter ein. Das Kind war kurz zuvor in der Klinik gestorben, am linken Bein eine zweieinhalb Liter große Eiterblase. Der Pathologe notiert:
"Elender Allgemeinzustand. Röhrenförmiger Abszess des linken Oberschenkels, vom Kniegelenk bis in die Leistenbeuge reichend. Bakteriologisch-mikroskopischer Nachweis Tuberkulosebakterien positiv. Zur Beurteilung ist der Zeitpunkt der Bessauimpfung zu berücksichtigen."
Eine Skulptur des Gedenkpfades "Remember" vor der Kinderklinik der Charité in Berlin
Skulptur des Gedenkpfades vor der Kinderklinik der Charité© Deutschlandradio / Alexander Moritz

Qualvolle Versuche mit Tuberkuloseerregern

Die "Bessauimpfungen" – das waren Impfversuche mit Tuberkuloseerregern, angeordnet vom damaligen Leiter der Kinderklinik, Georg Bessau. Er ließ geistig behinderten Kindern unerprobte Impfstoffe spritzen. Mindestens zehn Kinder starben infolge des Experiments, sagt Thomas Beddies.
Als Professor für Medizingeschichte und Ethik an der Charité wertet er historische Dokumente und Patientenakten aus, unter anderem die von Dieter:
"Dieser Junge ist über Wochen und Monate gequält worden und ist dann gestorben. Man steht dann ratlos und sprachlos vor dieser Quälerei. Dann ist man emotional auch überwältigt, ob dieses Verrats, der ja an diesen Patienten begangen wurde."
Die Impfversuche sind nur ein Kapitel in der Geschichte des Unrechts, das während des Nationalsozialismus an der Charité begangen wurde. Ärzte und Professoren der Hauptstadtklinik beteiligten sich willfährig am Aufbau einer NS-Medizin. Für die rassistische Wahnvorstellung vom "gesunden Volkskörper" wurde die Gesundheit Einzelner geopfert: vermeintlich Erbkranke wurden ermordet, Frauen unfruchtbar gemacht.
Thomas Beddies: "Wir haben an der Charité nur wenige eindeutige Täter. Wir haben aber sehr viele Professoren, Assistenzärzte oder überhaupt Institute, die sich in einem grauen Feld bewegen. Die Zwangssterilisation beispielsweise wurden auf Grundlage eines Gesetzes durchgeführt."

Sechs Gedenkstationen auf dem Klinikgelände

An dieses Unrecht soll nun ein Gedenkpfad erinnern. Sechs Gedenkstationen sind über das historische Klinikgelände verteilt. Vor dem Gebäude der alten Kinderklinik steht seit Kurzem eine Platte aus rostigem Stahl. Zwei Meter hoch ragt sie aus dem Boden. Am oberen Ende ist ein Wort eingestanzt: REMEMBER. Erinnere dich! Mehr Information gibt die Tafel zunächst nicht her.
Dieser Minimalismus ist gewollt, sagt Sharon Paz. Die Videokünstlerin hat den Gedenkpfad mit gestaltet:
"Wir haben uns entschieden, weniger auf Denken und Lesen zu setzen, sondern mehr auf das eigene Erleben und Fühlen. Wir wollen das Geschehene erfahrbar machen. Wenn man etwas selbst erlebt, erinnert man sich anders daran und kann auch Bezüge zum Heute herstellen."
Der eigentliche Gedenkpfad verbirgt sich im Virtuellen – in Form einer App, die man sich aufs Smartphone oder Tablet laden kann. Die App bietet Zugang zu interaktiven Videokunstwerken: 360-Grad-Videos und Animationen beleuchten, wie Ärzte zu Tätern wurden. Steht man vor einer der Stahlskulpturen, startet auf dem Smartphone ein Video.

App mit interaktiven Kunstwerken

Durch einen Seiteneingang leitet das Video in das Gebäude der Psychiatrischen Klinik. Unter Leitung des NS-Arztes Max de Crinis fertigten Psychiater hier Gutachten an, die Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen zu sogenanntem "unwertem Leben" erklärten. Eine Diagnose wie ein Todesurteil. Viele Patienten wurden aus der Klinik abgeholt und umgebracht.

Mit dem Tablet in der Hand betritt man den Klinikflur. Im Video stapelt ein Pfleger die Koffer von Patienten auf einen Schiebewagen und bringt sie weg. Eine Schwester geht vorbei, vor sich ein Tablett mit einer bedrohlich großen Spritze, steigt sie hinab in den Keller. Auch wenn keine konkreten Szenen gezeigt werden, wird man so zum indirekten Zeugen der Patientenmorde.
Die Bilder vermitteln im Zusammenspiel mit Geräuschen und Musik eine beklemmende Atmosphäre – einen Eindruck davon, wie es damals gewesen sein könnte.

Der emotionale Aspekt des Erinnerns

Karl-Heinz Stenz, einer der beteiligten Videokünstler erklärt:
"Es gibt nicht nur ein kognitives sich Erinnern, sondern ein Erinnern das eben eher emotional abläuft. Diese Erinnerung ist mindestens so wichtig wie eine faktische Quellenerinnerung. Und da legitimiert sich auch der Einsatz von Kunst, der natürlich etwas freier oder abstrakter ist."
Dieser Logik folgend geben die Videos nur wenige konkrete Informationen. So etwa die Namen und Kurzbiografien von über 160, größtenteils jüdischen Ärztinnen und Ärzten der Charité, die seit 1933 entlassen und anschließend ins Exil gedrängt oder ermordet wurden.
"Rhoda Erdmann. Leitete das Institut für experimentelle Krebsforschung. 1933 wurde sie als 'jüdisch' denunziert. Da dies nicht stimmte, wurde sie schließlich aus 'prinzipiellen Gründen' entlassen."
Kann man da lesen, während auf dem Bildschirm die dunklen Silhouetten der verfolgten Klinikangestellten in den Himmel aufsteigen.
"Arthur Nicolaier. Professor der Inneren Medizin, Entdecker des Tetanus-Erregers. Nahm sich 1942 angesichts der drohenden Deportation das Leben."

Dauerausstellung mit detaillierteren Informationen

Mit diesen knappen Biografien vermittelt die App nur Bruchstücke aus der NS-Vergangenheit der Charité. Detailliertere Informationen liefert die Dauerausstellung, die sich ebenfalls in den Räumen der Psychiatrie befindet. Ausstellung und Video-Gedenkpfad gemeinsam sollen die Universitätsklinik zu einem Erinnerungsort machen. Erarbeitet wurde dieses Konzept von Historikern, Medizinern und Studierenden der Charité und der Berliner Universität der Künste.
Videokunst als Vehikel der Erinnerung – bei der Eröffnungsfeier des Gedenkwegs, findet diese Idee viel Anklang. Aber es zeigt sich auch: Die digitale Form des Erinnerns verfängt nicht bei allen.
"Ich bin kein Profi um mit so einem Smartphone oder Tablet umzugehen. Das ist ein gewisses Problem. / Ich würde vorschlagen, dass noch weitere Links hinterlegt werden, um diesen differenzierteren Blick für alle, die noch ein bisschen mehr Wissen haben wollen, schneller zugänglich zu machen."

Eine Mahnung an die Wissenschaft

Der künstlerische Ansatz soll ein vielseitiges Erinnern ermöglichen – und die Wissenschaft zur Verantwortung mahnen – so wünscht es sich der Leiter der Charité, Karl Einhäupl:
"Es geht nicht mehr nur darum, dass wir zurückschauen und gucken, was ist damals eigentlich passiert, sondern dass wir nach vorne gucken und sagen: Was müssen wir tun, vor allem in der Mitteilung an unsere jungen Studenten und jungen Ärztinnen und Ärzte, damit man nicht wieder Katastrophen auslöst?"
Der Vorstandsvorsitzende der Charité, Karl Max Einhäupl, am 21.03.2017 in Berlin bei der Jahres-Pressekonferenz der Charité.  
Der Vorstandsvorsitzende der Charité, Karl Einhäupl© picture alliance / dpa / Soeren Stache
Dabei wird der Gedenkpfad helfen, hofft auch Malte Schmieding. Der Medizinstudent hat am Gedenkprojekt mitgearbeitet. Er wünscht sich, dass dadurch auch aktuelle ethische Probleme mehr diskutiert werden:
"Wo forschen wir an der Charité gerade dran? Wo sind die Scheidewege, auf die wir uns begeben? Und eben halt aufzuzeigen, dass diese Wissenschaftsethik auch gelebt werden muss und dass es nicht selbstverständlich ist, dass in unserem heutigen System alles ethisch bedenkenlos ist."
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