Interdisziplinäre Passion
In seinem Buch über Bachs Johannespassion gibt Autor Meinrad Walter interdisziplinären Aus- und Einblicke sowohl in die Entstehungsgeschichte der Passionsmusik als auch in den Entwicklungsprozess der Johannespassion.
Sehr viel ist bereits über Bachs Johannespassion geschrieben worden, über Einzelaspekte wie auch gesamte Werkeinführungen. Die Möglichkeit, die verschiedenen Fassungen der Johannespassion jetzt wieder als eigenständige Kunstwerke aufzuführen und zu hören, ist für den katholischen Theologen und Musikwissenschaftler Meinrad Walter Anlass und Grundlage für sein neues Buch "Johannespassion", das er als "Versuch einer musikalisch-theologisch fundierten und zugleich ohne besondere Vorkenntnisse gut lesbaren Einführung" bezeichnet.
In einem einführenden Kapitel fasst er die Entstehungsgeschichte der Passionsmusik sowie den Entwicklungsprozess der Johannespassion und ihrer Fassungen zusammen. Bereits hier schaut Walter stets über das musikalische Kunstwerk Bachs hinaus, sei es durch Blicke zur bildenden Kunst von Lucas Cranach oder den Übermalungen Arnulf Rainers, sei es mittels literarischer Zitate von Robert Schumann bis Dorothee Sölle und Wolf Biermann oder indem er musikalische Verbindungen bis zur zeitgenössischen Musik in Pendereckis "Paradise lost" aufzeigt.
Diese klugen interdisziplinären Ausblicke werden durch viele Abbildungen, Notenbeispiele und 18 Farbtafeln ansprechend unterstützt. Walter unterstreicht in der Einleitung die besondere Bedeutung der Bachschen Passionen als Bindeglied zwischen oratorischer Passion und Passionsoratorium im Spiegel des sich ändernden Frömmigkeitsverständnisses des 18. Jahrhunderts:
"Abschließend bringen wir die Entwicklung nochmals auf die beiden Grundbegriffe 'Schauspiel' und 'Spiegel'. Das Schauspiel des Passionsoratoriums verlangt nach einem Publikum; die Oratorische Passion als Spiegel braucht Hörer, die mitbeten. Das Schauspiel fesselt die Aufmerksamkeit und richtet alles auf ein Ziel aus: wie es ausgehen wird. Der Spiegel setzt von Anfang an voraus, dass der Hörer den Ausgang kennt, und nur deshalb kann das Ziel in jedem einzelnen Punkt schon antizipiert werden. Die Oratorische Passion betrachtet die Passion von der Auferstehung her, was in der österlichen Rahmung der Bach'schen Johannespassion mit den Stichworten "Verherrlichung" und ewiger Lobpreis überaus deutlich wird: 'Her, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist ... ' - '... ich will dich preisen ewiglich.'"
Als Hilfe zur raschen Orientierung bespricht Walter im Hauptteil seines Buches jeden einzelnen Satz des Werkes, ganz im Sinne der lutherischen Passionspredigt, die besagt, dass in jedem Moment der Passion deren Gesamtsinn aufleuchte. In dieser Struktur liegt auch die Ursache für manche inhaltlichen Wiederholungen.
Besonders viel Raum widmet der Autor der Arie "Ich folge Dir gleichfalls". Nach Luther sei die Passion Christi geschehen erstens, damit wir erlöst und zweitens, damit wir in die Nachfolge Jesu eintreten. Walter zeigt, wie in Bachs Passion durch die Bedeutungs-Ebenen: Bibeltext, freie Dichtung des Arientextes, musikalische Umsetzung und Stellung der Arie im Gesamtablauf der Komposition die Nachfolge-Theologie künstlerisch nicht nur reflektiert, sondern in die Gegenwart des Zuhörers transferiert wird:
"Musik ist eine stärkere Erinnerung an die Nachfolge, weil sich in ihr das Folgen der Stimmen, von dem der Text handelt, unmittelbar vollzieht. Die Musik als 'Zeitkunst' führt die Bildhaftigkeit des Textes aus und setzt so seinen Affektgehalt in das Erklingen um. Bach verweist nicht nur auf Freude, sondern er komponiert freudige Musik - und bringt so das spirituelle Thema der gelingenden Nachfolge zu rationalem und emotionalem Verstehen. Theologischer gesagt: Der Akzent der Musik liegt auf dem Glaubensakt, also auf dem sich vollziehenden Geschehen des Glaubens, auf der 'fides qua creditur'."
Eine ähnlich intensive Auseinandersetzung mit der theologischen Bedeutung von kompositorischen Elementen wie der barocken Rhetorik und Figurenlehre sowie der Zahlensymbolik wünschte man sich auch bei anderen Arien und Chören. So handelt der Autor beispielsweise die komplizierte "Regenbogen-Arie", die im Zentrum des Stücks steht und mit gut acht Minuten Dauer höchste Ansprüche an Ausführende wie Zuhörer stellt, auf lediglich zwei Seiten inklusive Notenbeispiel ab.
Walter scheut sich nicht, auch unbequeme Fragestellungen aufzugreifen. Immer wieder diskutiert werden der antisemitische Zungenschlag sowohl des Johannes-Evangeliums wie auch der Bachschen Vertonung. Während Walter sonst die Predigt lutherischer Theologie durch Bachs Musik herausarbeitet, verschweigt er hier, eine allzu versöhnliche Position suchend, die diffamierende antisemitische Schärfe der späten Luther-Schriften.
In Bachs Bücherschrank befand sich der über 1200 Seiten dicke Wälzer des Hamburger Pastors Johannes Müller "Judaismus oder Jüdenthum. Das ist: Ausführlicher Bericht von des jüdischen Volcks Unglauben, Blindheit und Verstockung", welcher sich unter anderem auf Luthers Schrift "Vom Schem Ha Mphoras" von 1543 bezieht. Dort schreibt Luther wörtlich.
"Es ist hie zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen; da liegen junge Ferkel und Juden drunter, die saugen; hinter der Sau steht ein Rabbin, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zieht er den Pirzel über sich, bückt und guckt mit großem Fleiß der Sau unter dem Pirzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfs und Sonderlichs lesen und ersehen; ohne Zweifel haben sie ihren Schem Hamphoras von diesem Ort gewonnen."
Nicht umsonst gruppiert Bach symmetrisch die zugespitzten Judenchöre um den auch von Walter als "zentral" bezeichneten Choral "Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn". Damit polarisiert auch Bach zwischen den durch die Annahme der Gnade Gottes Erlösten und denen, die diesen Gnadenbeweis ablehnen: den Juden.
Dank des umfangreichen Anhangs mit einer aktuellen und detaillierten Bibliografie, einer Chronologie der Johannespassion seit 1750, CD-Tipps und einem guten Glossar zu musikwissenschaftlichen und theologischen Fachbegriffen öffnet Walters Buch den Weg zur eigenen Vertiefung.
Meinrad Walter: Johann Sebastian Bach - Johannespassion.
Eine musikalisch-theologische Einführung.
Philipp-Reclam jun. Verlag, Ditzingen, 2011.
280 Seiten, 29,90 Euro
In einem einführenden Kapitel fasst er die Entstehungsgeschichte der Passionsmusik sowie den Entwicklungsprozess der Johannespassion und ihrer Fassungen zusammen. Bereits hier schaut Walter stets über das musikalische Kunstwerk Bachs hinaus, sei es durch Blicke zur bildenden Kunst von Lucas Cranach oder den Übermalungen Arnulf Rainers, sei es mittels literarischer Zitate von Robert Schumann bis Dorothee Sölle und Wolf Biermann oder indem er musikalische Verbindungen bis zur zeitgenössischen Musik in Pendereckis "Paradise lost" aufzeigt.
Diese klugen interdisziplinären Ausblicke werden durch viele Abbildungen, Notenbeispiele und 18 Farbtafeln ansprechend unterstützt. Walter unterstreicht in der Einleitung die besondere Bedeutung der Bachschen Passionen als Bindeglied zwischen oratorischer Passion und Passionsoratorium im Spiegel des sich ändernden Frömmigkeitsverständnisses des 18. Jahrhunderts:
"Abschließend bringen wir die Entwicklung nochmals auf die beiden Grundbegriffe 'Schauspiel' und 'Spiegel'. Das Schauspiel des Passionsoratoriums verlangt nach einem Publikum; die Oratorische Passion als Spiegel braucht Hörer, die mitbeten. Das Schauspiel fesselt die Aufmerksamkeit und richtet alles auf ein Ziel aus: wie es ausgehen wird. Der Spiegel setzt von Anfang an voraus, dass der Hörer den Ausgang kennt, und nur deshalb kann das Ziel in jedem einzelnen Punkt schon antizipiert werden. Die Oratorische Passion betrachtet die Passion von der Auferstehung her, was in der österlichen Rahmung der Bach'schen Johannespassion mit den Stichworten "Verherrlichung" und ewiger Lobpreis überaus deutlich wird: 'Her, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist ... ' - '... ich will dich preisen ewiglich.'"
Als Hilfe zur raschen Orientierung bespricht Walter im Hauptteil seines Buches jeden einzelnen Satz des Werkes, ganz im Sinne der lutherischen Passionspredigt, die besagt, dass in jedem Moment der Passion deren Gesamtsinn aufleuchte. In dieser Struktur liegt auch die Ursache für manche inhaltlichen Wiederholungen.
Besonders viel Raum widmet der Autor der Arie "Ich folge Dir gleichfalls". Nach Luther sei die Passion Christi geschehen erstens, damit wir erlöst und zweitens, damit wir in die Nachfolge Jesu eintreten. Walter zeigt, wie in Bachs Passion durch die Bedeutungs-Ebenen: Bibeltext, freie Dichtung des Arientextes, musikalische Umsetzung und Stellung der Arie im Gesamtablauf der Komposition die Nachfolge-Theologie künstlerisch nicht nur reflektiert, sondern in die Gegenwart des Zuhörers transferiert wird:
"Musik ist eine stärkere Erinnerung an die Nachfolge, weil sich in ihr das Folgen der Stimmen, von dem der Text handelt, unmittelbar vollzieht. Die Musik als 'Zeitkunst' führt die Bildhaftigkeit des Textes aus und setzt so seinen Affektgehalt in das Erklingen um. Bach verweist nicht nur auf Freude, sondern er komponiert freudige Musik - und bringt so das spirituelle Thema der gelingenden Nachfolge zu rationalem und emotionalem Verstehen. Theologischer gesagt: Der Akzent der Musik liegt auf dem Glaubensakt, also auf dem sich vollziehenden Geschehen des Glaubens, auf der 'fides qua creditur'."
Eine ähnlich intensive Auseinandersetzung mit der theologischen Bedeutung von kompositorischen Elementen wie der barocken Rhetorik und Figurenlehre sowie der Zahlensymbolik wünschte man sich auch bei anderen Arien und Chören. So handelt der Autor beispielsweise die komplizierte "Regenbogen-Arie", die im Zentrum des Stücks steht und mit gut acht Minuten Dauer höchste Ansprüche an Ausführende wie Zuhörer stellt, auf lediglich zwei Seiten inklusive Notenbeispiel ab.
Walter scheut sich nicht, auch unbequeme Fragestellungen aufzugreifen. Immer wieder diskutiert werden der antisemitische Zungenschlag sowohl des Johannes-Evangeliums wie auch der Bachschen Vertonung. Während Walter sonst die Predigt lutherischer Theologie durch Bachs Musik herausarbeitet, verschweigt er hier, eine allzu versöhnliche Position suchend, die diffamierende antisemitische Schärfe der späten Luther-Schriften.
In Bachs Bücherschrank befand sich der über 1200 Seiten dicke Wälzer des Hamburger Pastors Johannes Müller "Judaismus oder Jüdenthum. Das ist: Ausführlicher Bericht von des jüdischen Volcks Unglauben, Blindheit und Verstockung", welcher sich unter anderem auf Luthers Schrift "Vom Schem Ha Mphoras" von 1543 bezieht. Dort schreibt Luther wörtlich.
"Es ist hie zu Wittenberg an unserer Pfarrkirche eine Sau in Stein gehauen; da liegen junge Ferkel und Juden drunter, die saugen; hinter der Sau steht ein Rabbin, der hebt der Sau das rechte Bein empor, und mit seiner linken Hand zieht er den Pirzel über sich, bückt und guckt mit großem Fleiß der Sau unter dem Pirzel in den Talmud hinein, als wollt er etwas Scharfs und Sonderlichs lesen und ersehen; ohne Zweifel haben sie ihren Schem Hamphoras von diesem Ort gewonnen."
Nicht umsonst gruppiert Bach symmetrisch die zugespitzten Judenchöre um den auch von Walter als "zentral" bezeichneten Choral "Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn". Damit polarisiert auch Bach zwischen den durch die Annahme der Gnade Gottes Erlösten und denen, die diesen Gnadenbeweis ablehnen: den Juden.
Dank des umfangreichen Anhangs mit einer aktuellen und detaillierten Bibliografie, einer Chronologie der Johannespassion seit 1750, CD-Tipps und einem guten Glossar zu musikwissenschaftlichen und theologischen Fachbegriffen öffnet Walters Buch den Weg zur eigenen Vertiefung.
Meinrad Walter: Johann Sebastian Bach - Johannespassion.
Eine musikalisch-theologische Einführung.
Philipp-Reclam jun. Verlag, Ditzingen, 2011.
280 Seiten, 29,90 Euro