Die unterschätzte Philosophie der Naturvölker
Immer mehr Natur wird durch Bergbau, Landwirtschaft und Tourismus zerstört. Dagegen wehren sich vor allem indigene Völker, etwa in Chile. Aber deren Sichtweise ist im akademischen Diskurs kaum präsent. Kann interkulturelle Philosophie helfen?
"Die interkulturelle Philosophie ist heute besonders wichtig, weil wir in einer extrem konfliktgeladenen Welt leben. Zum Teil entstehen diese Konflikte durch die weltweite Vorherrschaft einer technisch-wissenschaftlichen Kultur, die immer stärker andere Lebensweisen unterdrückt, andere Sprachen und Ausdrucksformen verdrängt und keinen gleichberechtigten Dialog zulässt.
Raúl Fornet-Betancourt ist einer der wichtigsten lateinamerikanischen Philosophen, die sich mit interkultureller Philosophie beschäftigen. Im Anschluss an die Theologie der Befreiung kritisiert er den einseitigen Eurozentrismus in der Philosophie und plädiert stattdessen dafür, außereuropäisches Denken als gleichberechtigt anzuerkennen. Zum Beispiel die Philosophien der indigenen Völker Lateinamerikas wie die der Mayas, der Andenvölker und der Mapuche. Anstatt uns auf Unterschiede zu konzentrieren, sollten wir Gemeinsamkeiten erkennen, sagt Fornet-Betancourt.
"Ich glaube, dass die scheinbare Diversität manchmal täuscht. Wenn wir einen intensiven Dialog eingehen, dann merken wir, dass es viele Übereinstimmungen gibt zwischen der französischen und deutschen Philosophie und dem, was wir hier in Lateinamerika durch andere Sprachen, Symbole und Rituale zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel die Suche nach Gleichgewicht, nach einer Beziehung zur Natur."
Die Suche nach dem Sinn als Bindeglied
Wo liegt also der Verbindungspunkt, von dem aus sich interkulturelle Philosophie denken lässt?
"Philosophisch betrachtet geht es um die Suche nach Sinn. Das ist eine Basis, die wir teilen. Ein Deutscher sucht genauso nach Sinn wie jemand in Lateinamerika. Diese Suche vereint uns. Und den Rest interpretieren wir. Wir suchen nach Gott, nach Erfüllung im Leben, nach dem 'guten Leben' oder nach Spiritualität."
Mit dem Zusammenhang zwischen interkultureller Philosophie und Naturschutz beschäftigt sich auch die Argentinierin Carla Narbaiza. Sie hat Umweltwissenschaften und Geographie studiert. Aber mit den naturwissenschaftlichen Fächern kam sie in ihrer Suche nach den Ursachen der Umweltprobleme nicht weiter. Deshalb hat sie sich dem Wissen der indigenen Völker Lateinamerikas zugewandt.
"Wir müssen verstärkt die Wertigkeit studieren, die diese Völker der Natur zuschreiben. Darin liegt eine Alternative zur dominanten westlichen Perspektive, die keine Antworten auf die ökologische Krise hat."
Denn die vorherrschende technisch-wissenschaftliche Vernunft der Moderne schreibe der Natur lediglich ökonomischen Wert zu und begreife sie als nutzbares menschliches Eigentum, sagt Narbaiza. Darin liege die Wurzel der heutigen Umweltkrise. Die indigenen Völker hingegen begreifen sich selbst auf Augenhöhe mit der Natur, als Teil von ihr. Deswegen sollten wir ihnen zuhören und dafür sorgen, dass sie auch in akademischen Räumen ihre Sicht auf die Welt ausdrücken können, um in einen Austausch mit der westlichen Wissenschaft zu treten.
"Dieses Mal muss die Annäherung anders sein. Wir müssen bereit und offen sein, unsere Unwissenheit anzuerkennen, um zu lernen, auf andere Weise zu sehen und zu fühlen."
Die Natur jenseits von ökonomischer Nutzbarmachung gelten lassen
Auch unter den indigenen Völkern selbst gibt es Bemühungen für eine solche Annäherung. Eine Verbündete in diesem Anliegen ist Luz Marina Huenchucoy.
Huenchucoy gehört zum Volk der Mapuche, dem größten indigenen Volk Chiles. Sie ist eine der wenigen Mapuche, die an der Universität studiert. Sie promoviert in interkulturellen Studien an der Katholischen Universität in Temuco in Chile. Interkulturelle Philosophie ist für sie nicht nur ein Diskurs, sondern alltägliche Erfahrung, denn sie lebt jeden Tag in zwei kulturellen Welten, sagt sie. In der westlich geprägten akademischen Welt – und in dem traditionellen Leben der Mapuche. Und sie erlebt, wie dieses Leben von Tag zu Tag stärker unter Druck gerät.
"In der Kultur der Mapuche steht der Mensch in direkter Verbindung zur Natur. Und nicht nur in der Theorie, sondern wir leben und spüren das. Und was passiert heute? Es geht uns schlecht. Und das hat mit den großen Unternehmen zu tun und dem neoliberalen System."
In den Gebieten, wo die Mapuche leben, wurde viel Natur zerstört. Wälder weichen Wasserkraftwerken, Eukalyptus- und Kieferplantagen für die Holzindustrie. Diese Naturzerstörung bedroht das, was die Mapuche unter dem 'guten Leben' verstehen:
"'Kyme' heißt gut und 'Mogen' ist das Leben. Das Leben steht in Verbindung mit dem Umfeld. In Verbindung mit dem Sinn des Winds, der Luft, der Sonne. So verstehe ich, wenn es anfängt zu regnen, ich verstehe die Energien. 'Che', die Person ist verbunden mit den Flüssen, mit den Vulkanen, mit ihrem Ursprung letztendlich."
Für Raúl Fornet-Betancourt, Carla Narbaiza und Luz Marina Huenchucoy ist es wichtig, dass der interkulturelle philosophische Dialog nicht nur in intellektuellen Debatten stattfindet, sondern auch in der Praxis. Das hieße zuallererst, die materielle Basis der indigenen Philosophie zu respektieren – und die Natur jenseits von ökonomischer Nutzbarmachung gelten zu lassen.