Mit Paragrafen gegen himmelschreiendes Unrecht
Die internationale Gerichtsbarkeit hat es schwer - viele Staaten erkennen sie nur dann an, wenn die Urteile zu ihren Gunsten gefällt werden. Dennoch gewinnt das internationale Recht an Bedeutung, hat Annette Wilmes herausgefunden.
"Ich glaube das schon, dass man das sagen kann: Den Haag, the judicial capital of the world. Wenn es um die Gerichte geht, so hat Den Haag sicherlich kaum Konkurrenz."
Den Haag gilt als die juristische Welthauptstadt. Der Völkerrechtsprofessor Bruno Simma hat hier jahrelang als Richter am Internationalen Gerichtshof gearbeitet.
"Es gibt also den Internationalen Gerichtshof, dann gibt es den neuen International Criminal Court. Dann gibt es noch das Jugoslawien-Tribunal. Dann gibt es noch ad hoc-Strafgerichtshöfe, die den Libanon betreffen. Ich weiß gar nicht, ob ich alle zusammenbringe."
Der Friedenspalast in Den Haag ist das älteste der zahlreichen internationalen Gerichte in dieser Stadt. Im Stil der Neorenaissance erbaut, wurde er 1913 eröffnet, größtenteils von dem US-amerikanischen Unternehmer und Mäzen Andrew Carnegie finanziert.
Das imposante Gebäude aus Backstein hat eine einzigartige Einrichtung und Dekoration, wertvolle Wandteppiche und Holzvertäfelungen in den Gerichtssälen mit uralten Symbolen von Frieden und Recht.
Zunächst hatte hier der Ständige Schiedshof seinen Sitz. Er sollte Konflikte zwischen den Ländern lösen, ins Leben gerufen auf der ersten Haager Friedenskonferenz von 1899. Der Traum von einer friedlichen Zukunft währte jedoch nicht lange. Bereits ein Jahr nach der Eröffnung des Friedenspalastes brach 1914 der erste Weltkrieg aus.
Der Gerichtshof residiert im Friedenspalast
Im Friedenspalast residiert heute vor allem der Internationale Gerichtshof, der unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg 1945 von den Vereinten Nationen gegründet wurde. Bruno Simma, der bis zu seiner Emeritierung 2006 an der Münchener Universität einen Lehrstuhl für Völkerrecht inne hatte, war hier Richter:
"Der Gerichtshof hat es mit zwei Arten von Prozessen zu tun. Zum einen gibt's Streitverfahren, das heißt, das sind Klagen von Staaten gegen Staaten. Der zweite Typ ist die Erstattung von Rechtsgutachten. Das heißt, die Generalversammlung der UNO zum Beispiel fragt an: Was ist der völkerrechtliche Status der Grenzmauer, den Israel auf palästinensischem Gebiet erreichtet hat? Oder: Wie ist die Unabhängigkeitserklärung von Kosovo zu bewerten? Das sind Rechtsfragen, die man dann in Form von Gutachten erstattet. Aber der normale Betrieb ist eigentlich die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Staaten."
Bruno Simma wurde 2002 vom Sicherheitsrat und der Generalversammlung der UNO zum Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag gewählt, vorgeschlagen von der Bundesrepublik Deutschland. Er war bekannt, weil er die Nachwuchsdiplomaten im Völkerrecht unterrichtet hatte.
"Aber ich glaube, der entscheidende Punkt war, dass ich in dem Fall der Brüder La Grand, der 1998/99 gespielt hat, zum Prozessvertreter der Bundesrepublik ernannt worden bin. Das heißt, die Bundesrepublik hat sich nach einigem Zögern entschlossen, einen Prozess gegen die USA vor dem Internationalen Gerichtshof zu führen."
Die Brüder LaGrand, die in den USA lebten, aber die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, wurden in den achtziger Jahren wegen Mordes zum Tode verurteilt. Niemand hatte sie darüber informiert, dass sie als Ausländer Anspruch auf konsularischen Rechtsbeistand gehabt hätten. Die deutschen Behörden erfuhren erst 1992 von dem Fall.
Die Bundesregierung zog gegen die USA vor Gericht. Kurz vor dem Hinrichtungstermin erwirkte die Bundesregierung zwar eine Eilverfügung beim Internationalen Gerichtshof. Die USA ignorierten diese Entscheidung jedoch. 1999 wurden die Brüder hingerichtet. Der Prozess wurde weiter geführt. Prozessvertreter war Bruno Simma.
"Ich war dann der, der mit meinen Assistenten hier den Prozess praktisch, natürlich immer unter formeller Leitung des Auswärtigen Amtes, geführt und dann auch gewonnen hat. Dieses Urteil erging 2001, und das war präzise die Zeit, in der der damalige deutsche Richter am Internationalen Gerichtshof, Herr Fleischhauer, avisierte, dass er keine Lust mehr hätte weiterzumachen. Und ich würde mal so sagen: Da führte eigentlich an mir kein Weg vorbei. Ich war damals grad der strahlende Sieger gewesen."
Verstoß gegen das Völkerrecht
Das Urteil kam für die Brüder LaGrand zu spät. Aber nun stand es schwarz auf weiß - die USA hatten gegen Völkerrecht verstoßen. Die amerikanischen Behörden hätten die Brüder über ihre Rechte aufklären müssen. Ein Urteil, dass in späteren Fällen die Rechte von Verhafteten im Ausland stärkte.
Die Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag werden für neun Jahre gewählt. Bruno Simma bekleidete das Amt von 2003 bis 2012. Er nennt einige Fälle, mit denen er befasst war:
"Die prominentesten Beispiele waren sicher die Klage von Bosnien-Herzegowina gegen Serbien - der Vorwurf des Völkermordes; und für Deutschland vielleicht besonders interessant die Klage, die Deutschland geführt hat gegen Italien wegen italienischer Gerichtsentscheidungen, die Deutschland verantwortlich fanden für Menschenrechtsverletzungen, die im Zweiten Weltkrieg begangen worden waren und wo italienische Gerichte Deutschland die Immunität versagt haben."
Im Kern ging es um die Frage, ob Privatpersonen Klagen vor den Gerichten eines Staats gegen einen anderen Staat erheben dürfen. Der Gerichtshof verneinte diese Frage, das Urteil erging im Februar 2012. Kriegsreparationen werden zwischen Staaten vereinbart. Das hieß de facto, dass Deutschland keine Entschädigung an italienische Opfer des Nationalsozialismus zahlen musste.
Der damalige, inzwischen verstorbene, Außenminister Guido Westerwelle begrüßte das Urteil und betonte aber auch, dass es sich nicht gegen die Opfer richte. Die Bundesrepublik habe deren Leid in vollem Umfang anerkannt und werde weiterhin auch jenseits rechtlicher Verpflichtungen Wiedergutmachung leisten.
Eine völlig andere Aufgabe und einen anderen rechtlichen Hintergrund als der Internationale Gerichtshof hat der Internationale Strafgerichtshof, der International Criminal Court, kurz ICC. Hier wird über die Taten einzelner Menschen geurteilt. Vor diesem Gericht werden die Opfer von Menschenrechtsverbrechen auch entschädigt.
Der Strafgerichtshof wird von 121 Staaten finanziert
Der Internationale Strafgerichtshof wurde am 11. März 2003 eröffnet. Grundlage ist das so genannte Rom-Statut. Ratifiziert haben es 121 Staaten, die das Gericht auch mit ihren Beiträgen finanzieren, unterstützt von den Vereinten Nationen.
"Mr. President, honourable judges, this trial is about violence and misery that blighted the lives of millions of people living in northern Uganda. Ordinary citizens, civilians, who wanted no more than to be allowed to live their lives in peace, would no longer live in the villages in which they had been born and raised..."
"Es geht in diesem Prozess um Gewalt und Elend, die das Leben von Millionen von Menschen, die in Nord Uganda lebten, zerstörten."
Mit diesen Worten begann die Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag am 6. Dezember 2016 ihre Anklagevorwürfe gegen Dominic Ongwen. Er soll als ein Anführer der ugandischen Terrorgruppe "Widerstandsarmee des Herrn" Kinder aus ihren Familien verschleppt, als Soldaten missbraucht und zum Töten gezwungen haben.
Mädchen und junge Frauen wurden entführt und als Sexsklavinnen gehalten, vergewaltigt und gefoltert. Erschossen, totgeschlagen mit Knüppeln oder Macheten. Die Taten, die Chefanklägerin Fatou Bensouda schilderte, sind unvorstellbar brutal. Als Brigade-General sei Omgen dafür verantwortlich. Zwei Verhandlungstage brauchte die Anklage, um die Vorwürfe in ihrem ganzen Ausmaß zu schildern.
"Wir sind zuständig für Genozid, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für Kriegsverbrechen. Aggression wird möglicherweise irgendwann dazu kommen."
... sagt Bertram Schmitt, früher Richter am Bundesgerichtshof, seit März 2015 am ICC. Insgesamt arbeiten hier 18 Richter aus 18 verschiedenen Ländern aus fünf Kontinenten.
Am besten ist, wenn es nichts zu tun gibt
"Wir sollen nur tätig sein, wenn praktisch nichts anderes hilft. Idealerweise haben wir gar keinen Fall, weil alles national geregelt wird. Das wird natürlich nie passieren. Aber die Idee dahinter ist, dass die Staaten gewissermaßen vor ihrer eigenen Tür erst mal kehren. Wir sind nur dann zuständig, wenn ein Staat, ein Vertragsstaat, unfähig ist, zum Beispiel weil kein ordnungsgemäßes Justizsystem existiert, ein Verfahren durchzuführen, oder sich als unwillig erweist, das zu tun."
Wer den Internationalen Strafgerichtshof betritt, muss strenge Eingangskontrollen über sich ergehen lassen. Wie am Flughafen werden Taschen, Mäntel und Jacken durchleuchtet. Das Gericht ist seit seinem Umzug im Mai 2016 in einem riesigen Glasbau untergebracht, neu errichtet im Nordosten Den Haags. Mehrere unterschiedlich große Würfel in der Dünenlandschaft Scheveningens, einen Steinwurf von der Nordsee entfernt.
Wer einen Prozess in einem der drei großen Gerichtssäle beobachten möchte, muss sich noch einmal kontrollieren lassen. Auf der Zuschauertribüne, die sich hoch über dem Saal hinter einer sehr hohen Glaswand befindet, sind nur Block und Stift erlaubt. Alle Prozessbeteiligten, also Richter, Ankläger, Verteidiger, Opfervertreter und der Angeklagte, haben mehrere Monitore vor sich stehen.
Zwei große Monitore sind auch auf der Zuschauertribüne. Die gesamte Verhandlung wird übertragen, zeitversetzt auch im Internet. So kann der Prozess weltweit verfolgt werden. Das ist vor allem für die Länder wichtig, in denen die Gräueltaten begangen wurden.
Der Internationale Strafgerichtshof hat einen Makel, denn einige große Länder wie China, Russland, Pakistan, Indien und vor allem die USA haben das Statut abgelehnt. Im Oktober 2016 haben einzelne afrikanische Staaten ihre Mitgliedschaft gekündigt. Und Russland zog seine Unterschrift zurück.
"Was den Rückzug der Unterschrift von Russland angeht, so hat der auch allenfalls symbolischen Wert, Russland hatte nie ratifiziert, war deshalb nie Mitglied. Was den Rückzug der afrikanischen Staaten angeht, so ist das natürlich etwas, was wir mit großem Bedauern registrieren müssen, denn gerade die afrikanischen Staaten haben zu denjenigen gehört, die am meisten zum Entstehen des Gerichtshofs beigetragen haben. Dennoch möchte ich sagen, ist da vielleicht das letzte Wort noch nicht gesprochen, die Sache ist im Fluss."
Inzwischen hat der gambische Präsident tatsächlich den Rückzug rückgängig gemacht. Burundi bleibt bei seiner Entscheidung auszutreten.
In Südafrika hat Ende Februar das Landgericht in Pretoria die eigenmächtige Entscheidung des Präsidenten für verfassungswidrig erklärt. Trotzdem will Südafrikas Regierung am Austritt festhalten.
Den Vorwurf lässt Richter Schmitt nicht gelten
Einer der Gründe für den Rückzug dürfte in dem Vorwurf liegen, das Gericht ermittle einseitig zu Lasten afrikanischer Staaten. Ein Vorwurf, den Richter Schmitt nicht gelten lässt.
"Sie werden kaum eine internationale weltweite Organisation finden, die mehr von afrikanischen Staaten geprägt ist als der Internationale Strafgerichtshof. 23 Prozent unserer Mitarbeiter sind aus Afrika in höchsten Positionen. Sie wissen sicher, dass wir vier Richter und Richterinnen vom afrikanischen Kontinent haben, dass unsere Chefanklägerin aus Afrika ist, der Präsident der Vertragsstaatenversammlung ist aus Afrika."
Als das Gericht 2003 seine Arbeit aufnahm, gab es nur 34 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Heute sind es weit mehr als 1.000, darunter Juristen, Sicherheitspersonal und vor allem Dolmetscher, denn in den Prozessen wird simultan übersetzt; aber auch Psychologen für die Betreuung der Opfer und Zeugen, die an diesem Gericht besonders ernst genommen wird. Die Opferperspektive am Internationalen Strafgerichtshof habe eine ganz andere Dimension als die, die er bislang als deutscher Strafrichter kannte, sagt Richter Bertram Schmitt.
"Sie müssen bedenken, dass eigentlich die Zeuginnen und Zeugen, die zu uns kommen, über viele Tausend Kilometer hier nach Den Haag gebracht werden müssen, oftmals noch nie ihr Dorf verlassen haben, ihre Umgebung, geschweige denn ihr Land verlassen haben und dann in einem völlig anderen kulturellen Umfeld in einer Umgebung, die ihnen vollkommen fremd ist, aussagen müssen."
Im Vergleich zu deutschen Gerichten hat der Gerichtshof noch nicht viele Fälle bearbeitet. Aber die Verfahren sind langwierig, auch weil die Beweisaufnahme schwierig ist. Ermittlungen werden inzwischen auch in nicht afrikanischen Staaten geführt: Georgien, Kolumbien, Afghanistan, Palästina, Westbank.
"Wir sehen uns natürlich auch immer wieder Vorwürfen ausgesetzt, wir seien ineffektiv und unnütz. Diese Kritik wird teilweise mit einer Vehemenz, mit einer Feindseligkeit und Aggressivität vorgetragen, dass ich gelegentlich den Eindruck habe, würde man das tun, wenn wir wirklich irrelevant wären, würde man so viel investieren, so viel an Propaganda investieren, wenn es wirklich so wäre?"
Zum ersten Mal wurde im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess nach dem zweiten Weltkrieg das Prinzip individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit durchgesetzt, indem Politiker, Generäle und andere Führungspersönlichkeiten des Nazi-Regimes wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurden. Bis dahin konnten sich ranghohe mutmaßliche Täter auf die Staatensouveränität berufen und hinter ihrer Immunität verstecken.
In der Tradition der Kriegsverbrecherprozesse
Serge Brammertz, Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag, sieht seine Arbeit in der Tradition von Nürnberg.
"Natürlich hat man dort nicht so gearbeitet, was heute als Standard betrachtet wird, sicherlich in Bezug auf die Rechte der Verteidigung, die Beweisführung, die Auswahl der einzelnen Verfahren. Also, man kann sicherlich nicht vollständig vergleichen, aber es ist sicherlich richtig, dass zum ersten Mal es keinerlei Immunitäten gegeben hat für hochrangige Politiker. Und da hat also eine sehr wichtige Tradition begonnen."
Zunächst wurde 1993 das Jugoslawien-Tribunal vom UN-Sicherheitsrat gegründet. Ein Ad-hoc-Gericht, das nur so lange tätig sein soll, bis die Fälle aus der Region erledigt sind. Darin unterscheidet es sich vom Internationalen Strafgerichtshof, der ein Vertragsgericht ist und dauerhaft arbeitet. Das Jugoslawien-Tribunal steht jetzt kurz vor dem Abschluss, Ende des Jahres 2017 wird es seine Arbeit beenden.
"Es sollte eigentlich schon 2010 die Türen schließen. Aber dadurch, dass eine Reihe von Festnahmen sehr spät erfolgt sind, die Festnahme von Karadzic in 2008 und die Festnahme vom Mladic erst in 2011, und da beide doch die wichtigsten Beschuldigten überhaupt des Gerichts sind nach Milošević, war es selbstverständlich, dass das Gericht seine Existenzdauer verlängern musste. Wir werden also jetzt voraussichtlich Ende des Jahres die Türen schließen."
Slobódan Milošević, der ehemalige Präsident Serbiens, nach dem Bürgerkrieg Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien, bis er im Oktober 2000 entmachtet wurde, musste sich in Den Haag vor dem Tribunal verantworten. Noch während seiner Amtszeit hatte die Anklagebehörde in Den Haag gegen ihn eine ausführliche Anklageschrift verfasst, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Deportation, Massenvertreibung und Verstöße gegen die Genfer Konvention. 2001 wurde er in Serbien festgenommen und nach Den Haag ausgeliefert. Der Prozess gegen Milošević begann 2002. Bevor er verurteilt werden konnte, starb er am 11. März 2006 an einem Herzinfarkt.
Riesige Verfahren, unerschöpfliches Material
"Es sind riesige Verfahren, es ist ein unerschöpfliches Material, mit dem man es zu tun hat. Aber das schreckt einen nicht, wenn man erstens in einer Strafkammer zu dritt ist, mit zwei Kollegen oder Kolleginnen und man hat ein gutes Unterstützerteam. Das sind alles leistbare Aufgaben."
Christoph Flügge, früherer Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, ist seit acht Jahren Richter am Jugoslawien-Tribunal. Zur Zeit ist er - neben dem Vorsitzenden Richter Alphons Orie aus den Niederlanden und seinem südafrikanischen Kollegen Bakone Justice Moloto - Richter im letzten laufenden Verfahren, dem Prozess gegen Ratko Mladic, den ehemaligen Oberbefehlshaber der serbischen Armee. Eines der schlimmsten Verbrechen, für die sich Mladic verantworten muss, ereignete sich am 13. Juli 1995 in Srebrenica. Das serbisch-bosnische Militär hatte in den Tagen davor Tausende von muslimischen Jungen und Männern aus ihren Familien geholt, deportiert und gefangen gehalten. Dann wurden sie in Gruppen erschossen oder enthauptet, etwa 8000 Menschen fielen dem Massaker zum Opfer.
Der Prozess ist jetzt in der letzten Phase. Im Dezember 2016 wurden bereits die Schlussplädoyers der Anklage und der Verteidigung gehalten. Mit dem Urteil gegen Ratko Mladic wird das Ad hoc Tribunal seine Arbeit beenden. Chefankläger Serge Brammertz blickt zurück.
"Mein erster Besuch in Srebrenica, die Tausenden von Gräbern besucht zu haben und mit zahlreichen, mit Dutzenden von Überlebenden gesprochen zu haben, war sicherlich einer der schwersten Momente, würde ich sagen. Wenn eine Überlebende Ihnen erzählt, dass 25 männliche Mitglieder ihrer Familie brutal ermordet wurden, ihr Ehemann, ihr Vater, ihre Brüder, ihre Neffen, und dass von dem jüngsten Sohn man bis heute keine Spur hat, wo sich sein Leichnam befindet, dann sind das natürlich sehr, sehr beeindruckende Momente."
Die Angehörigen der Getöteten oder überlebende Opfer haben in all den Jahren an den Prozessen teilgenommen, nicht nur als Zeuginnen, sondern auch als Prozessbeobachter. Eine von ihnen ist Munira Subašić, Mitbegründerin der Organisation "Mütter von Srebrenica und Žepa", der beiden Enklaven, in denen es zu den Massakern mit Tausenden von Toten, zu Vergewaltigungen und schwersten Misshandlungen kam.
"Wir haben mit dem Ziel begonnen, die Wahrheit über unsere Kinder herauszufinden, nachdem wir gezwungen waren, Srebrenica zu verlassen,"
... erzählt Munira Subašić in einer Prozesspause. Die Frauen erfuhren, dass ihre Ehemänner und Kinder tot sind. Um sie identifizieren zu können, wollten sie ihre Gebeine finden, die in Massengräbern verstreut waren. Die Mütter von Srebrenica und Žepa arbeiteten auch mit dem Jugoslawien-Tribunal zusammen. Viele ihrer Mitglieder waren Zeugen während der zahlreichen Prozesse vor dem Gerichtshof.
"Jede Mutter", sagt Munira Subasic, "ist in erster Linie Mutter, unabhängig davon, ob sie Bosniakin, Kroatin, Serbin oder Jüdin ist".
Mladic droht lebenslange Haft
Der Anklagevertreter plädierte am 6. Dezember 2016 auf lebenslange Freiheitsstrafe für Ratko Mladic. Einige Monate zuvor wurde bereits Radovan Karadzic, der Anführer der bosnischen Serben, zu 40 Jahren Haft verurteilt - wegen Völkermords an den Muslimen von Srebrenica und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit bei Massakern in anderen Teilen der ehemaligen Republik Jugoslawien.
Nach dem Urteil gegen Ratko Mladic wird das Gericht also geschlossen, voraussichtlich Ende dieses Jahres. Richter Christoph Flügge zieht Bilanz:
"Natürlich bewirken wir etwas, weil wir ein Strafgericht sind. Und ein Strafgericht hat die Aufgabe, Fälle zu klären und Schuldige strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. So gesehen ja, ein hundertprozentiger Erfolg unseres Jugoslawien-Tribunals, keiner ist mehr flüchtig, alle mussten sich den Verfahren stellen. Immerhin 161 Angeklagte."
Neben dem Jugoslawien-Tribunal wurde ebenfalls in den 90er Jahren ein weiterer Ad-hoc-Gerichtshof vom UN-Sicherheitsrat gegründet, das Ruanda-Tribunal mit Sitz in Arusha, Tansania. Es ist mit dem Völkermord von 1994 befasst, bei dem etwa 800.000 Menschen umkamen.
Es ging um einen Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen der Hutu und der Tutsi, die in Ruanda auf engem Raum zusammenleben. Als Täter wurden die Hutu identifiziert, sie standen auch als Angeklagte vor Gericht. Von 93 Angeklagten wurden 61 für schuldig befunden, 14 freigesprochen.
Rund vier Fünftel der mutmaßlichen Hauptverantwortlichen für den Genozid 1994 konnten festgenommen und vor Gericht gestellt werden, acht sind noch flüchtig. Das Ruanda-Tribunal hat seine Arbeit bereits beendet, die verbleibenden Aufgaben werden von einer Übergangsbehörde erledigt.
"Ein Punkt, der bis heute offiziell nicht zur Kenntnis genommen wird, ist, dass während des Völkermords, wo am Tag 10.000 und mehr Menschen in Ruanda umgebracht wurden, viele Hutu, die immer noch gemeinhin als Täter bezeichnet werden, den Tutsi geholfen haben, sie haben sie gerettet."
Gerd Hankel ist Völkerrechtler und Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Seit 15 Jahren bereist er Ruanda und die Nachbarregion, um zu untersuchen, wie sich das Land nach dem Völkermord entwickelt hat.
Ruanda: Gacaca-Gerichte in den Dörfern
Gegenstand seiner intensiven Untersuchungen waren auch die internationalen, die nationalen und vor allem die halbtraditionellen Gacáca Gerichte, die an den Tatorten in den Dörfern tagen.
"Gacaca bedeutet Rasen, bezeichnet den Ort des Verfahrens, nämlich auf einer freien Dorffläche, in den Gacaca-Verfahren gibt es keine Ankläger und keine Verteidiger, das heißt, die Dorfbevölkerung übernimmt beide Rollen. Und die Richter sind Laienrichter. Und je nach Reaktion der Bevölkerung, für oder gegen den oder die Angeklagten, fällen dann die Laienrichter, das sind so genannte integre Männer und Frauen, die nicht am Völkermord beteiligt waren, fällen ein Urteil. Und dieses Urteil kann im Höchstfall auf lebenslange Freiheitsstrafe lauten."
Eine Konkurrenz zu dem Internationalen Ruanda-Tribunal, das von den Vereinten Nationen eingesetzt wurde, bestehe nicht, meint Hankel.
"Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha kümmerte sich um die Drahtzieher, die Organisatoren des Völkermords, also die hochrangigen Täter. Gacaca-Gerichte befassten sich mit den Tätern auf der unteren Stufe, mit den Mitläufern, mit den Helfershelfern, mit den ganz, ganz vielen, ohne die der Völkermord nicht möglich gewesen wäre."
Einen eklatanten Mangel sieht Gerd Hankel jedoch sowohl bei der Gacaca-Justiz als auch beim Ruanda-Tribunal: Darüber, dass es auch Täter unter den Tutsi gab, die heute die Macht im Lande haben, wurde und wird nicht gesprochen.
"Vergessen wir nicht, weit über 80 Prozent der Bevölkerung heute in Ruanda sind Hutu. Also die Gruppe, aus der die Täter stammten. Und sehr viele Hutu sind erstens im Völkermord umgebracht worden, sind bei der Befreiung des Landes umgebracht worden und nicht alle waren Täter. Und da gehen die Zahlen in die Hunderttausende. Und nachher auch noch auf der Flucht in den Kongo, und das waren auch Frauen und Kinder, die dorthin geflüchtet sind, und darüber spricht man nicht."
Internationale Gerichte gibt es nicht nur in Den Haag oder in Arusha. Der Internationale Seegerichtshof in Hamburg, der Internationale Sportgerichtshof mit Sitz in Lausanne, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica - jedes Gericht hat seine eigenen Aufgaben und Inhalte.
"Streitbeilegung ist natürlich die erste Funktion, an die man denkt, wenn man von Gerichten spricht. Zwei Leute haben Streit, und man geht zu einem dritten Unabhängigen, um diesen Streit beizulegen. Das ist eine wichtige Funktion, aber nicht die einzige Funktion."
Armin von Bogdandy ist Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.
Die internationale Gerichtsbarkeit gewinnt an Kraft
In den letzten zwei Jahrzehnten ist die internationale Gerichtsbarkeit sehr viel stärker geworden. Es gibt mehr Gerichte und ihre Entscheidungen prägen viel stärker die internationale und innerstaatliche Ordnung als früher. Das hat mit der Idee der Globalisierung, der Vernetzung und der freien Märkte zu tun.
"Und in diesem Kontext kommt internationalen Gerichten eine wichtige Rolle zu. Wenn man nämlich Internationalisierung und Globalisierung haben und gestalten möchte, dann braucht man Recht. Damit Recht aber funktioniert, braucht man Institutionen, die irgendwie darüber wachen. Und insofern ist also eine vernetzte, verrechtlichte Globalisierung ohne internationale Gerichte schlecht vorstellbar."
Problematisch werde es vor allem im Bereich der internationalen Investitionsschiedsgerichtsbarkeit, wenn Schiedsrichter nicht in der Lage sind, der Problematik gerecht zu werden, erläutert Armin von Bogdandy.
"Das liegt daran, dass viele von den Personen, die dort tätig waren, eine sehr privatrechtliche Sicht auf die Dinge hatten und die öffentlichen Interessen, die dann in Frage standen - Wasserversorgung und Versorgung mit anderen öffentlichen Gütern -, nicht wirklich gut gesehen haben."
Dennoch gebe es Situationen, in denen die internationale Investitionsschiedsgerichtsbarkeit auch für den einzelnen Menschen von großer Bedeutung sein kann.
"Das sind auch kleine Unternehmen, die also nun nach Turkmenistan gehen und dort eine Firma aufbauen - ich hörte kürzlich den Fall eines kleinen Bäckereiunternehmens eines Türken in Deutschland, der aber dann in diese Länder gegangen ist, dort etwas aufgebaut hat, und dann dort auf eine sehr brutale Art und Weise enteignet worden ist. Dem hat eine solche Investitionsschiedsgerichtsbarkeit auch konkret geholfen."
Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP stehen im Kreuzfeuer der Kritik. Mühsam erreichte Regeln im Verbraucherschutz seien gefährdet, heißt es auf Protestveranstaltungen und Demonstrationen. Die Liberalisierung sei eine Gefahr für die Demokratie.
"CETA und TTIP wären ein Schritt nach vorn"
Armin von Bogdandy sieht diese Problematik, gibt aber zu bedenken, dass durch CETA ein öffentlicher Investitionsschiedsgerichtshof Streitfälle mit Konzernen lösen soll statt wie bisher private Schiedsgerichte.
"Deshalb ist CETA ja auch so ein großer Fortschritt gegenüber der bisherigen Schiedsgerichtsbarkeit im internationalen Investitionsschutz. Das muss man sich klar machen. CETA und auch TTIP wären hier ein sehr, sehr großer Schritt nach vorne. Niemand, der jetzt auf die Straße geht, kann von sich mit gutem Gewissen behaupten, dass er das im Sinne eines Kosmopolitismus oder allgemeiner Menschenfreude macht."
Der Völkerrechtler Bruno Simma, der frühere Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, ist seit einigen Jahren selbst an zahlreichen Investitionsschiedsverfahren als Richter beteiligt.
"Ich meine, die ganze Einrichtung ist natürlich investorenfreundlich. Es dient ja dem Schutz von Investoren. Es gibt schon Fälle, wo diese Einrichtung wirklich viel, viel Sinn macht. Man kann da keine Namen nennen, aber was da in manchen Staaten passiert an Rechtsverweigerung oder Korruption ist ziemlich ungeheuerlich."
Genau wegen dieser Korruption seien die Investitionsschiedsgerichte ja eingerichtet worden. Damit Firmen, die in Staaten investieren, in denen es keine funktionierende und unabhängige Justiz gibt, vor Korruption geschützt sind.
"Wenn es in allen Staaten, in denen ausländische Investoren tätig sind, eine ordentlich funktionierende Justiz gäbe, bräuchte man diese Sachen nicht."
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, der über Konflikte zwischen Staaten entscheidet, der Internationale Strafgerichtshof, die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit, die ad-hoc-Tribunale der Vereinten Nationen, all diese Gerichte unterscheiden sich in vielen Punkten. Dennoch, meint Armin von Bogdandy, könne man von der internationalen Gerichtsbarkeit reden.
"Auch in Deutschland: Wir haben das Amtsgericht Heidelberg und das Bundesverfassungsgericht. Zwischen denen sind Welten. Und trotzdem reden wir von der deutschen Gerichtsbarkeit. Auf der internationalen Ebene ist die Vielfalt nun noch mal höher. Aber es geht doch immer darum, dass im Kern ein konkreter Streitfall ist, der einem Gremium unterbreitet wird, welches aus unabhängigen Personen besteht, die unparteiisch darüber entscheiden sollen. Und diese Merkmale lassen es zu, dass man von der internationalen Gerichtsbarkeit spricht."