Internationale Korrespondenten in Leuna

"Die Überbrückung der Zeit spüren"

Erdölraffinerie in Leuna
Blick über die Erdölraffinerie in Leuna © picture alliance/dpa/Foto: Waltraud Grubitzsch
Von Stefan May |
Seit 100 Jahren ist das Chemiedreieck Leuna-Buna-Bitterfeld ein Industriestandort. Nach der Wende blieb vom DDR-Chemiekombinat Walter Ulbricht nicht viel übrig. Heute produzieren hier wieder viele Firmen - und manchmal schauen auch ausländische Korrespondenten vorbei.
Es ist wohl eine der längsten Straßenbahnlinien in Deutschland, in der die kleine Gruppe ausländischer Journalisten von Halle zur Station Leuna Haupttor schaukelt. Zwischen ihren beiden Endpunkten benötigt sie mehr als eineinhalb Stunden und passiert dabei Merseburg und einen weiteren Chemiestandort: Buna-Schkopau. Es gäbe die Linie, die teilweise einsam über die Felder führt, wohl nicht, hätten sich nicht hier einst so viele Betriebe der ostdeutschen Industrie konzentriert. Einer der Teilnehmer an der Exkursion, Masao Fukumoto aus Japan, kennt sich besonders gut aus in der Gegend: Er hat zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1991 für einen japanischen Anlagenbauer in Leuna den Einkauf betreut.
"Als ich mal zum ersten Mal in Leuna war, habe ich gedacht: Wow, wo bin ich? Das war einfach eine Industrieruine. Rohrbrücken waren so verrostet. Wenn man dann auf dem Gelände ist, dann spürt man, dass der Rost auf die Gesicht oder auf die Augen dann stoßt. Und wenn mein Auto an einem Tag am Werk ist, dann habe ich bemerkt auf der Oberfläche so viel Staub. So schmutzig war es. Aber sowieso fühle ich mich irgendwie verpflichtet, die weitere Entwicklung zu verfolgen, weil ich dort gearbeitet habe."
Zornitsa Ivanova hat russische Wurzeln und schreibt für russische, bulgarische und Schweizer Medien. Deshalb ist für sie besonders die Verbindung zum Osten ein Thema.
"Mich interessiert natürlich immer noch die Geschichte, dass mit russische Gas und russische Öl funktioniert Leuna. Wie genau sind immer noch Beziehungen natürlich? Ich erwarte, das zu verspüren und so. Ich will einfach diese Überbrückung der Zeit spüren."
Wenn Journalisten lange Zeit in einem anderen Land arbeiten, drängt es sie, ihre dort gemachten Erfahrungen zu Papier zu bringen. So hat es Zornits Ivanova vor. Und auch ihr Kollege Yu-li Lin aus Taiwan plant ein Buch zu schreiben, über den Wandel in Deutschland.
"Ich glaube, dass Leuna an sich ein gutes Beispiel für Wandel ist. Ich erwarte, dass viel erzählt wird, über zum Beispiel, was nach der Wende passiert ist. Leuna steht auch für das Auf und Ab in der deutschen Geschichte, also das heißt, ich würde mich dafür interessieren, was hier gemacht wurde während des Krieges, ob da noch etwas zu sehen ist und wie man da mit der Geschichte umgeht."

Industriebauten so weit das Auge reicht

Im schneeweißen mächtigen Empfangsgebäude aus der Zeit des Beginns vor hundert Jahren wird der Gruppe zuerst ein Film über den Standort vorgeführt. Es folgt eine Fahrt über das weitläufige Gelände: Industriebauten so weit das Auge reicht: Dazwischen grüne Wiesen. Die mit Buchstaben und Zahlen bezeichneten Straßen werden von silbrig in der Sonne glänzenden Rohrbrücken begleitet. Nur ab und zu hat man den süßlichen Geruch der Chemie in der Nase. Als wir zum Mittagessen in die Kantine der Ölfirma Total gehen, ist Zeit für eine erste Zwischenbilanz. Vom alten Chemiekombinat Walter Ulbricht ist nicht mehr viel übrig. Masao Fukumotos Arbeitsplatz von einst in einer Baracke gibt es nicht mehr. Damals seien die Anlagen viel dichter aneinander gestanden, sagt er.
"Wenn man sieht, hat man noch freie Flächen hier. Aber ich war vor sechs Jahren, aber damals gab es nicht so viele Anlagen, eigentlich. Auf dem Leuna-Gelände war es relativ leer. Nur einige Anlagen waren da. Deshalb während der Jahre hat sich so viel entwickelt, glaube ich. Das hat mich sehr überrascht."
Auch Yu-li Lin zeigt sich sehr angetan von dem, was er bisher gesehen hat.
"Mein Eindruck ist: sehr aufgeräumt. Ich sehe einzelne Anlagen, die gehören zu einzelnen Firmen. Und die verbreitet sich auf einem großen Gelände. Es gibt viel Platz, daneben sind die Gleise und Straßen, und man sieht, dass die Logistik auch sehr gut ausgebaut ist. Und Frühling, frische Luft – und hat man nicht den Eindruck, dass das ein Chemieproduktionsort ist. Ich bin überrascht, wie groß das aber ist. Wir sind eine halbe Stunde durch das Gelände gefahren und noch kein Ende, und man sieht überall, dass es sehr weit und breit, mit zwei Bahnhöfen zum Beispiel, also schon beeindruckend."

"Keine einzige russische Firma ist hier"

Zornitsa Ivanova hingegen hat es sich nach eigenen Worten genauso vorgestellt, aber:
"Viele, viele Gleise, aber ich war überrascht, keine einzige russische Firma ist hier. Also, alles kommt von Russland, nicht alles, aber fast. Dieses Erdgas und Öl. Und ich habe mir gedacht: Genauso war´s früher, zu sozialistischen Zeiten im Ostblock. Russland hat zwar geliefert so viel, aber fehlt diesem Land die Integration, Beziehungen, Verknüpfungen. Und immer noch ist so geblieben, irgendwo separiert, getrennt."
Die Gruppe ausländischer Journalisten besucht die Raffinerie des französischen Konzerns Total mit seinem verschlungenen Rohregewirr. Und sie schaut in die Hallen von Leuna Harze.
"Die Infra-Leuna als Standortgesellschaft ist ein echter Standortvorteil…"
Schließlich wird die Gruppe durch das Werk von BASF geführt, wo Spritzgussteile aus Granulat erzeugt werden.
"Anhand dieser Probeplättchen, Vergleich mit der ursprünglichen Musterkart"
Am Abend sitzen die drei Vertreter der ausländischen Presse wieder im Zug Richtung Halle und Berlin. Yu-li Lin wird zwar aktuell vom Besuch in Leuna nichts in einem Medium berichten, ihm sehr wohl aber ein Kapitel in seinem Buch widmen.
"Vor allem mich interessiert schon, wie das Land Sachsen-Anhalt zum Beispiel versucht hat in den letzten Jahren, diese Altlasten zu beseitigen. In Taiwan haben wir auch vergleichbare Chemiestandorte, zwei, drei riesig groß, und die haben alle Problem mit der Umweltverschmutzung, und das Grundwasser ist kontaminiert und so schlecht und so. Ich glaube schon, wenn ich die Geschichte von Leuna erzählen kann, dann hat mein Nachfolger einen Eindruck, wie es das Land Sachsen-Anhalt geschafft hat in den letzten Jahren. Es war bestimmt nicht einfach."
Für die für russische, bulgarische und Schweizer Medien schreibende Zornitsa Ivanova spielt noch mehr mit, wenn sie die Eindrücke des Tages noch einmal überdenkt.
"Ich habe gespürt, wie die neue Weltordnung ist hier entstanden. Ich meine, das kann man geben als eine gute Beispiel, was heißt gut privatisiert zu haben nach der Wende. Ich denke, viele osteuropäischen Länder haben nicht diese Glück und viele Industriegebiete hatten nicht das Glück, so gut privatisiert zu werden wie diese chemischen Anlagen natürlich mit 100 Jahren Geschichte. Ich kann Beispiel mit bulgarische Privatisierung geben, das ist Katastrophe gewesen, und bis jetzt kann Bulgarien sich nicht erholen. Und Bulgarien hat eine auch kräftige Chemie und hat viel exportiert, aber leider, so wie Ex-Deutsche Demokratische Republik, das kommt nicht in die Frage."

Wie nach der Wende

Als Pech für den Standort Leuna bezeichnet Zornitsa Ivanova, dass das Meer nicht in der Nähe sei. Speziell für eine Raffinerie wäre ein Hafen in der Nachbarschaft wichtig, meint sie. Der Japaner Masao Fukumoto hat sein Buch, anders als seine beiden Kollegen, bereits geschrieben. "Eine kleine Revolution" heißt es, und er hat auch schon Reaktionen aus der Leserschaft in der Heimat erhalten. Dort meinte man, Deutschland verhalte sich aktuell Griechenland gegenüber genauso wie die alte Bundesrepublik nach der Vereinigung gegenüber der ehemaligen DDR.
"Warum? Weil Deutschland nur im eigenen Interesse handelt. Deutschland denkt nicht, wie man vor Ort leben kann. Wie gesagt, Deutschland damals, oder Westdeutschland damals, nach der Wende, wollte nur einen Markt, einen neuen Markt, aber nicht Produktionsstandorte in Ostdeutschland. Deshalb hat sich so verzögert, dass die Industrie in Ostdeutschland angesiedelt wird. Man hat gemerkt, aber es hat lange gedauert. Deshalb kann man so sehen die Industrie jetzt. Aber man hätte noch früher machen können."
Nicht nur Fukumotos alte Baracke gibt es heute nicht mehr, auch die Anlagen, die er zur Wendezeit für seinen japanischen Auftraggeber in Leuna verkauft hat, hat er heute nicht mehr auf dem Gelände gesehen. Es sind neue Zeiten eingezogen in Deutschlands größtem Chemiestandort.
Mehr zum Thema