James Noel: "Was für ein Wunder"
Aus dem Französischen von Rike Bolte
litradukt, Trier 2020
119 Seiten, 12 Euro
Sechs ausgezeichnete Bücher, die den Blick in die Welt öffnen
37:15 Minuten
Der Internationale Literaturpreis steht für Weltoffenheit. Im Coronavirus-Aunsnahmejahr werden sechs Bücher und zwölf Gewinnerinnen und Gewinnern prämiert. Veranstalter und Jury haben dazu das Reglement geändert. Eine Geste der Solidarität.
Zu welchen Formen findet zeitgenössisches Erzählen? Dieser Frage widmet sich der Internationale Literaturpreis zum zwölften Mal. Eigentlich zeichnet der Preis ein herausragendes Werk internationaler Gegenwartsliteratur und dessen Erstübersetzung ins Deutsche aus.
Doch die Zeiten sind besondere. "Das Coronavirus lässt das öffentliche Leben stillstehen und schafft weltweit eine neuartige Situation, mit der auch der Internationale Literaturpreis einen sinnvollen Umgang finden will", schreiben die Veranstalter. Das Haus der Kulturen der Welt, die Stiftung Elementarteilchen und die Jury haben sich daher entschieden, dieses Mal nicht ein einzelnes Buch auszuzeichnen, sondern alle sechs Titel auf der Shortlist.
"Der Preis würdigt in dieser für viele Kulturschaffende prekären Situation somit nicht ein einzelnes Werk, sondern die Arbeit und Stimmen vieler."
Statt zwei Preisträgerinnen und Preisträgern gibt es also zwölf, sechs Autorinnen oder Autoren und sechs Übersetzerinnen oder Übersetzer. Insgesamt ist der Preis in diesem Jahr mit 36.000 Euro dotiert - das Preisgeld wurde um 1000 Euro aufgestockt -, so dass jeder Gewinner 3000 Euro erhält. Jule Eikmann stellt die prämierten Werke vor.
"Was für ein Wunder" von James Noel. Was für ein Titel für ein Buch, das von dem schrecklichen Erdbeben auf Haiti handelt, das vor zehn Jahren viele Tausend Opfer forderte, von der Cholera und anderen traumatisierenden Folgeerscheinungen.
James Noel sagt: "Selbst ein furchtbares Geschehen wie das Erbeben kann zu etwas werden, was uns anstachelt, anregt. Die Redewendung 'was für ein Wunder' steht für eine Art Weisheit der Haitianer, mit den Geschehnissen umzugehen."
Wie sein Protagonist Bernard hat James Noel selbst wenige Monate nach der Naturkatastrophe seine Heimat verlassen. Für ein Schreibstipendium in Rom. Erst einige Jahre später kam er zurück, um seinen ersten Roman zu schreiben. Die rhythmische, mystische Sprache hat Rike Bolte aus dem Französischen übersetzt.
"Auf den tränentreibenden Geruch des Todes hat sich der Gestank des Geldes gelegt. Drei Buchstaben, die wie drei Schläge am Tor des Unheils klingen. N-G-O. N-G-O. N-G-O."
Yevgenia Belorutes: "Glückliche Fälle"
Aus dem Russischen von Claudia Dathe
Matthes & Seitz, Berlin 2019
160 Seiten, 20 Euro
"Glückliche Fälle" von Yevgenia Belorusets spiegelt das Grundrauschen des Krieges im Alltag ostukrainischer Frauen.
Yevgenia Belorusets sagt: "Das Schreckliche am Krieg ist, dass der Krieg Realitäten von Menschen vernichtet. Kleine persönliche Welten, die aufgebaut werden, die zerfallen. Der Mensch bleibt vielleicht am Leben, er fängt ein neues Leben an. Aber seine eigene Welt, seine Umgebung, seine Freunde, seine Art zu sprechen – das alles verschwindet plötzlich."
Belorusets hat viel fotografiert, dann für eine ukrainische Zeitung geschrieben. "Glückliche Fälle" ist das erste Buch der in Berlin und der Ukraine lebenden Künstlerin.
"Es sind Texte und Geschichten, die man in keiner Fotoreihe, in keiner rein dokumentarischen Form fassen kann", sagt Belorusets.
Und sie spiegeln das so schwer zu übersetzende Gefühl, einen Krieg erlebt zu haben. Claudia Dathe hat für die russischen Texte die deutschen Worte gefunden.
Chigozie Obioma: "Das Weinen der Vögel"
Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Piper, München 2019
512 Seiten, 24 Euro
"Das Weinen der Vögel" von Chigozie Obioma erzählt die tragische Geschichte des jungen, nigerianischen Geflügelbauern Chinonso. Der sich gegen gesellschaftliche Barrieren stemmt. Und gegen sein Schicksal, das ihm wieder und wieder hart mitspielt.
Chigozie Obioma erzählt eine universelle Geschichte über Verantwortung, die gleichzeitig fest in der mythologischen Tradition Nigerias verwurzelt ist. "Die Ndiichie sagen, wenn eine Wand kein Loch hat, kommen keine Eidechsen ins Haus. Selbst wenn ein Mensch Sorgen hat – solange er nicht daran zerbricht, lebt er weiter", schreibt er.
Es ist der zweite Roman des Anfang-30-Jährigen Obioma, beide waren für den Booker-Preis nominiert. Aus dem Englischen übersetzt hat ihn Nicolai von Schweder-Schreiner.
"Er sagte immer, die Hühner wüssten, dass sie nichts anderes tun können als weinen und dieses Geräusch machen, Ukuuukuu! Ukuuukuu!"
Isabel Waidner: "Geile Deko"
Aus dem Englischen von Ann Cotten
Merve, Leipzig 2019
136 Seiten, 14 Euro
"Geile Deko" von Isabel Waidner ist mehr als oberflächlicher Glitzertand. Die experimentelle Novelle ist der Versuch der Autorin und Kulturtheoretikerin, ein ganz eigenes Genre zu begründen. "Transliteracy" nennt sie den interdisziplinären Ansatz einer queeren, avantgardistischen Poesie.
"Auf der anderen Seite posierte Tulep auf der Resopaltischoberfläche wie ein beeindruckender weiblicher Hengst. Ganz so wie der Pegasus auf Belas Sweater ein geflügeltes Pferd war, war Tulep ein Wellensittich mit atypischen Hufen", heißt es in Ann Cottens Übersetzung.
Es sei der "repetitorische Slapstick zwischen Hochkultur und Klassenbewusstsein" gewesen, der sie direkt begeistert, sagt die österreichisch-amerikanische Übersetzerin. Die Klippen aus hemdsärmeligen Wortschöpfungen und Sprachmetamorphosen hat sie freudvoll angenommen.
Über ihre Arbeit an "Gaudy Bauble", wie Waidners Buch im Original heißt, sagt Cotten: "Was mir mühsam ist, sind die Wiederholungen und das nochmal Nachkontrollieren. Paarmal hab ich da nämlich einen ganzen Satz übersprungen, wo dann ganze Abschnitte mehrmals kommen. Das ist für mich die Arbeit oder die Herausforderung. Und diese Begriffsfindungen, das ist der schönste Teil der Arbeit, der wie von selbst geht."
Angel Igov: "Die Sanftmütigen"
Aus den Bulgarischen von Andreas Tretner
eta Verlag, Berlin 2019
216 Seiten, 17,90 Euro
"Die Sanftmütigen" von Angel Igov war in Bulgarien eine kleine Sensation. Denn der Autor thematisiert, was seit Jahrzehnten als Tabu gilt: Die so genannten "Volksgerichte", Die, aus Moskau gesteuert, nach dem 2. Weltkrieg das Todesurteil über weite Teile der bürgerlichen Eliten verhängten.
Erzählt wird die Geschichte von einem vielstimmigen Chor von Straßenjungs. Eine Herausforderung für den Übersetzer Andreas Tretner: "Also, man muss diesem Erzähler wirklich peinlich genau hinterher, diesen Erzählern, die aber natürlich auch mit so einer ganz gleitenden Stimme sprechen, nicht so eine Crowd sind, also ganz pointiert. Und sie ändern sich in ihrer Perspektive manchmal mitten im Satz."
Mit seiner Art, die vielstimmige Erzählung kongenial zu übersetzen, baut Andreas Tretner Brücken für die Leser. "Wer das liest, der muss auch mit gespitzten Ohren lesen, weil, da gibt es bei den Dialogen nicht An- und Abführung, auch die Personen sind so ineinander verschränkt, dass man schon sehr gestisch übersetzen muss, damit man das so abhebt voneinander."
Amir Hassan Cheheltan: "Der Zirkel der Literaturliebhaber"
Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich
C.H.Beck, München 2020
252 Seiten, 23 Euro
"Der Zirkel der Literaturliebhaber" von Amir Hassan Cheheltan ist ein autobiografischer Blick in die Familiengeschichte des Autors. Jeden Donnerstag kam der Literaturzirkel im Haus seiner Eltern in Teheran zusammen. Draußen herrschten aufs Brutalste erst der Schah, dann die Mullahs, drinnen wuchs auf dem perlenbestickten Canapee die Hingabe an die Kunst.
"So erinnere ich mich an meine Vergangenheit: der Winter, in dem wir Rumis Masnavi gelesen, der Frühling, in dem wir uns Ferdowsis Buch der Könige erneut vorgenommen haben, und so fort. Diese Donnerstage überstrahlen andere Erinnerungen völlig und strukturieren meinen Kalender. Sie versetzen mich in mein ganz persönliches Paradies, das mir mein Liebstes beschert hat: die Freude an der Literatur."
In seinem Roman huldigt Amir Hassan Cheheltan die Kraft der Literatur. Nicht nur in Zeiten größter politischer Krise, übersetzt aus dem Farsi von Jutta Himmelreich.
"Selbst wenn ich noch weitere tausend Jahre lebe, wird man am Ende nur sagen: Ich bin zur Welt gekommen, habe eine Kindheit verbracht, mich in die Literatur verliebt und bin gestorben", schreibt er an einer Stelle.