Bröckelt die Institution für das Völkerrecht?
Der Internationale Strafgerichtshof ahndet seit 2002 Straftaten gegen das Völkerrecht. Derzeit verlassen vor allem afrikanische Staaten das Gremium. Der Strafrechtler Christoph Safferling sieht den Gerichtshof dennoch nicht vor dem Aus.
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag verfolgt Straftaten wie Kriegsverbrechen und Völkermord. Doch nun hat Russland seine Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof aufgekündigt und haben sich ausgerechnet jene afrikanischen Staaten, die die Entstehung des IStGH damals besonders unterstützt haben – Südafrika, Burundi, Gambia – daraus wieder zurückgezogen. Weitere Staaten wie Kenia, Namibia und die Philippinen denken ebenfalls darüber nach.
Anlässlich der derzeit stattfindenen IStGH-Jahrestagung stellt sich die Frage: Steht die Institution vor dem Aus?
Manchem Staatsfürsten passt es nicht
Ganz so schwarz sieht der Strafrechtler Christoph Safferling die Angelegenheit nicht. Allerdings: "Es ist schon eine schwere Bewährungsprobe." Denn ein Problem sei von Anfang an gewesen:
"Wenn es dann ernst wird, sieht man bei dem einen oder anderen Staatsfürsten, dass es ihm nicht passt. Und er zieht sich zurück. Das Völkerstrafrecht hat immer diesen Legitimitätsdruck, dass es sich rechtfertigen muss."
Schön sei die Situation nicht – "und sie ist auch gefährlich, das ist klar". Es sei auf keinen Fall wünschenswert, das aus dem IStGH eine rein europäische Angelegenheit würde. Vor diesem Hintergrund müsse man auch die Einwände der afrikanischen Staaten "gegen diese imperialistisch aussehende Institution in Den Haag" ernst nehmen.
Wie ernst ist es den Mitgliedern?
Generell müsse man sich die Frage stellen, wie ernst es den Staaten mit ihrer Mitgliedschaft ist, wenn sie wieder austreten wollten, sobald es ernst werde.
Was ist ein internationaler Gerichtshof dann noch wert? Die Entwicklung der letzten Jahre – mit Konflikten oder Bürgerkriegen wie in Georgien oder in Syrien – zeige deutlich, dass der IStGH keineswegs unterbeschäftigt sei, sagt Safferling, der Professor an der Universität Erfurt ist.
"Wir haben ja nach dem Ende des Kalten Krieges gedacht, jetzt bricht der große Weltfrieden aus. Und das war ja nicht der Fall – im Gegenteil, es wurde an allen Ecken und Enden ja immer grausamer."
Safferling sagte weiter: Sollte der IStGH scheitern, sei damit nicht automatisch das Völkerrecht gescheitert. "Man sieht doch an verschiedenen Bemühungen, dass man dann eben regional, dann vielleicht mit einem besseren Zuschnitt, dann vielleicht für die Bedürfnisse der jeweiligen Staaten, bereit ist, entsprechende Institutionen zu gründen."
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, das sind die Delikte, die vor dem Internationalen Strafgerichtshof verhandelt werden, dessen Einrichtung 1998 als Meilenstein galt. Aber dieser Meilenstein bröckelt. Mehrere afrikanische Staaten ziehen sich zurück, Russland will nicht mehr mitmachen und die Philippinen denken ebenfalls darüber nach, auszutreten. Das ist der Hintergrund, vor dem ab heute die Jahrestagung des Internationalen Strafgerichtshofs stattfindet, und diesen Hintergrund wollen wir näher beleuchten zusammen mit Christoph Safferling, Professor für internationales Strafrecht und Völkerrecht in Erlangen, guten Morgen!
Christoph Safferling: Schönen guten Tag!
Welty: Wenn man sich diese Erosion anschaut auch in der Massivität und in dem Tempo: Steht der Internationale Strafgerichtshof womöglich vor dem Aus?
Safferling: Ganz so schwarz würde ich es jetzt nicht sehen, aber es ist schon eine schwere Bewährungsprobe. Es liegt natürlich an der Materie selbst, das Völkerstrafrecht soll ja dazu dienen, um die Mächtigen der Welt und die Staaten zu kontrollieren. Und wenn es dann ernst wird, dann sieht man bei dem einen oder anderen Staatsfürsten, dass ihm das nicht passt und er zieht sich zurück. Das Völkerstrafrecht hat immer diesen Legitimitätsdruck, dass es sich rechtfertigen muss, und die Institution des Internationalen Strafgerichtshofs steht natürlich dann jetzt hier unter besonderem Druck. Schön ist die Situation nicht, das ist klar, und sie ist auch gefährlich, da würde ich Ihnen zustimmen.
Welty: Das Prinzip scheint ja ganz einfach, das haben Sie ja auch schon angesprochen und das lässt sich auch am Beispiel der Philippinen zum Beispiel durchdeklinieren: Wenn ein Verfahren droht, dann trete ich eben schnell noch aus. Da muss man sich im Umkehrschluss natürlich die Frage stellen: Was ist eine Gerichtsbarkeit wert, die so etwas zulässt?
Safferling: Klar, und es erweist sich natürlich auch, dass vielleicht die vorher erteilte Zustimmung gar nicht so ernst gemeint war. Das Statut selbst hat ja eine gewisse Vorkehrung insofern getroffen, als nach Artikel 127 ein Austritt erst wirksam wird, ein Jahr nachdem man den Austritt erklärt hat. Und in dieser Zeit können also noch Verbrechen … Oder beziehungsweise Verbrechen, die in dieser Zeit begangen werden, können noch verfolgt werden.
Welty: Aber nutzt das was?
Safferling: Na ja, natürlich ist das schwierig. Weil, es ist natürlich nicht nur die Anklagemöglichkeit, auf die es ankommt, sondern auch auf die Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsstaaten kommt es eben an, um dann die Strafverfolgung durchsetzen zu können. Und wenn die nicht da ist – Beispiel Südafrika, sie liefern eben den Staatenführer, der angeklagt ist vor dem Internationalen Strafgerichtshof dann nicht aus –, wenn diese Kooperationsbereitschaft also nicht da ist, dann hilft das alles nichts, steht das alles nur schön auf Papier.
Welty: Was würden Sie sich wünschen, was jetzt auf der Jahrestagung besprochen wird? Wie viel Selbstkritik ist angebracht?
Safferling: Also, der Internationale Strafgerichtshof muss sich in der Tat auch selbstkritisch mal analysieren. Denn die Verfahren dauern sehr lang, er ist politisch unausgewogen, der Vorgänger der jetzigen Chefanklägerin war da vielleicht auch nicht immer besonders geschickt, und er muss einfach sehr viel Glaubwürdigkeit, die er verloren hat, sich wieder zurückerarbeiten. Und da ist eine ganze Menge doch erforderlich. Also, er muss sehr viel Selbstkritik an sich selbst herantragen.
Welty: Wie könnte so ein Zurückerarbeiten aussehen?
Safferling: Na ja, solide Arbeit. Solide Arbeit, bessere Verfahrensstruktur …
Welty: Macht euren Job!
Safferling: Ja, genau. Weil, in der Tat vergeht da viel im Klein-Klein, im Prozessoire, ein Hickhack über Unklarheiten, über die man sich nicht einig wird und so weiter. Und dann das ständige Gejammere, dass man zu wenig Geld hat und so … Also, man müsste einfach mit dem, was man hat, jetzt vernünftig arbeiten und die Ressourcen einfach geschickt einsetzen und dann eben auch moralisch auftreten mit der Gewissheit, dass man das Richtige tut.
Welty: Ist die Idee vielleicht auch vermessen zu sagen, ein Gerichtshof für die ganze Welt, weil die Maßstäbe für Recht und Unrecht doch reichlich unterschiedlich sind?
Safferling: Na ja, es war ja 1998, als er gegründet wurde, auch keine Selbstverständlichkeit. Aber die Zustimmungsrate bei der Römischen Konferenz ((streng genommen müsste "Römischen" klein geschrieben werden; er meint: beim Römischen Statut)) damals war doch sehr, sehr hoch. Also, an sich ist die Idee schon richtig und ich glaube auch überzeugend. Natürlich ist das Völkerstrafrecht nicht abhängig von einer weltweit operierenden Institution, sondern sie kann auch auf andere Art und Weise, etwa durch Ad-hoc- und hybride Tribunale, wie das in Kambodscha ist, wie das letztlich auch in Jugoslawien war und so weiter, durchgesetzt werden. Aber eine einheitliche Institution, die eben dann auch einen einheitlichen Standard setzt, wäre eigentlich schon vorteilhaft.
Welty: Haben sich die Maßstäbe in den letzten zwei Jahrzehnten womöglich noch einmal verschoben, verschoben zugunsten des Unrechts?
Safferling: Die Maßstäbe meinen Sie jetzt der Staatenführer? Also, es ist auf jeden Fall mehr passiert an Unrecht. Denken wir nur an Syrien, denken wir an Georgien, wir haben ja nach dem Ende des Kalten Krieges gedacht, jetzt bricht der große Weltfrieden aus, und das war ja nicht der Fall, im Gegenteil, es wurde ja an vielen Ecken und Enden immer grausamer. Und insofern ist der Internationale Strafgerichtshof sicherlich nicht unterbeschäftigt. Also, die Maßstäbe haben sich aber da eigentlich nicht verschoben, das sind die Maßstäbe, die 1945 in Nürnberg aufgestellt worden sind.
Welty: Was ist ein Strafgerichtshof wert, wenn die Afrikaner, die Philippinen und die Russen sagen, wir machen nicht mehr mit, und die Amerikaner fanden die Idee noch nie gut?
Safferling: Also, mit Afrika ist das natürlich schon eine sehr, sehr enttäuschende Angelegenheit, gerade Südafrika. Weil Südafrika auf dem Kontinent ja schon ein politisches Schwergewicht ist, auch eine Vorzeigedemokratie. Jedenfalls haben wir es immer so verstanden, wir hier in Europa. Wenn die sich jetzt zurückziehen, dann hat das schon natürlich ein … dann kann das einen Dammbruch auslösen. Und es sind ja auch zwei weitere nachgefolgt, das ist wirklich sehr bedauerlich. Auf Russland haben wir bislang noch nicht bauen können, denn die hatten zwar unterschrieben, aber ratifiziert hatten sie nicht. Und die Philippinen stehen halt auch stark unter amerikanischem Einfluss. Es darf natürlich am Ende nicht nur ein europäisches Gericht sein, das wäre nicht wirklich Sinn und Zweck dieser Idee. Lateinamerika ist noch mit dabei einheitlich als Kontinent, muss man eben aufgrund dieser Basis versuchen, doch die Idee wieder voranzubringen und überzeugend aufzutreten.
Welty: Wenn wir uns den Worst Case vorstellen und der Internationale Strafgerichtshof scheitert, scheitert damit auch das Völkerstrafrecht?
Safferling: Ja, das glaube ich eben nicht. Denn man sieht doch an verschiedenen Bemühungen, dass man dann eben regional vielleicht mit einem besseren Zuschnitt für die Bedürfnisse der jeweiligen Staaten bereit ist, hier eigene Institutionen zu gründen. Letztlich hat ja auch der afrikanische Kontinent nicht von vornherein gesagt, wir sind gegen Völkerstrafrecht, aber wir sind gegen diese imperialistisch aussehende Institution in Den Haag, und haben ja Vorschläge erarbeitet, in Afrika einen afrikanischen Strafgerichtshof zu errichten. Freilich können sich die Fürsten Afrikas darauf nicht verständigen letztlich, aber es gibt ja entsprechende Vorschläge. Also, ich glaube, die Idee ist auf jeden Fall noch da und sie ist auch überzeugend und richtig, nur die Institution des Strafgerichtshofs in Den Haag, die wackelt gerade ziemlich deutlich.
Welty: Wir haben über die Bedeutung des Internationalen Strafgerichtshofs gesprochen, dessen Jahrestagung heute beginnt. Und wenn diese Tagung dann am Donnerstag zu Ende geht, sprechen wir mit einem Teilnehmer der Tagung, nämlich mit dem Völkerrechtler Claus Kreß. Für heute und für dieses aufgezeichnete Gespräch geht mein Dank an Christoph Safferling, der internationales Strafrecht und Völkerrecht in Erlangen lehrt. Danke schön!
Safferling: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.