"Da geht es um lange tradierte patriarchale Mythen"
Die Saarbrücker Oberstaatsanwältin Sabine Kräuter-Stockton sieht dringenden Reformbedarf bei den gesetzlichen Regelungen, die Vergewaltigung und sexuelle Nötigung unter Strafe stellen. Denn in Deutschland könnten Täter nur verurteilt werden, wenn die Vergewaltigung von Gewalt oder Drohungen begleitet werde oder diese an einem abgelegenen Ort stattfinde.
Gabi Wuttke: Alle drei Minuten wird in Deutschland eine Frau vergewaltigt. Aber fast 90 Prozent der Täter werden dafür nicht bestraft – weil die meisten Opfer sich schämen. Wie aber kann es sein, dass selbst bei einem Geständnis eine Verurteilung nicht zwangsläufig ist? Am internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen ist Sabine Kräuter-Stockton am Telefon, sie ist Oberstaatsanwältin Saarbrücken und setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, entsprechende Gesetzeslücken zu schließen. Einen schönen guten Morgen!
Sabine Kräuter-Stockton: Guten Morgen, Frau Wuttke!
Wuttke: Was steht denn im entscheidenden Paragrafen 177 des Deutschen Strafgesetzbuches?
Kräuter-Stockton: Der Paragraf 177 regelt ja in unserem Strafgesetzbuch die sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, und anders, als man das vielleicht sonst meinen könnte, ist bei uns eine sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung nicht dann schon gegeben, wenn ein Täter Geschlechtsverkehr, Anal- oder Oralverkehr oder andere sexuelle Handlungen mit einem Opfer ausführt, obwohl ihm das Opfer klar deutlich gemacht hat, dass es das überhaupt nicht will. In unserem Rechtssinn gibt es nur dann eine Vergewaltigung, wenn der Täter außerdem entweder körperliche Gewalt angewendet hat oder mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht hat, also zum Beispiel, er bringt sie um, wenn sie jetzt nicht mitmacht. Oder die Tat muss sich an einem völlig abgelegenen Ort abgespielt haben, an dem das Opfer überhaupt keine Chance auf Hilfe oder Flucht hat. Und wenn keines dieser zusätzlichen Kriterien erfüllt ist, dann liegt nach unserer Rechtslage keine Vergewaltigung vor.
"Die Diskussionen, die im Bundestag geführt wurden, lassen tief blicken"
Wuttke: Das heißt, häusliche Gewalt, sozusagen der Akt der Vergewaltigung im häuslichen Umfeld macht es nahezu unmöglich, tatsächlich auch eine Vergewaltigung zu verurteilen?
Kräuter-Stockton: Es kommt darauf an – es gibt, wie immer im Leben, unterschiedliche Fälle, aber ein typischer, klassischer Fall, in dem beispielsweise in der Partnerschaft gar keine Gewalt mehr angewendet werden muss, in Anführungszeichen, weil das Opfer sich aus früheren Erfahrungen heraus nicht wehrt; es hat also früher erfahren, dass Gegenwehr keine Chance hat. In diesen Fällen, wird es zu keiner Verurteilung wegen Vergewaltigung kommen, auch wenn das Gericht dem Opfer glaubt und auch wenn das Opfer dem Täter ganz klar gemacht hat durch Weinen, durch Worte, dass es diese geschlechtlichen Handlungen nicht möchte. Auch dann wird man sagen, es tut uns leid, wir haben hier keine Möglichkeit, das als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung abzuurteilen.
Wuttke: Der Paragraf 177 ist ja mehrfach reformiert worden. Was hat sich der Gesetzgeber denn gedacht, wenn es immer noch schlimmer als schlimm sein muss, um einen Vergewaltiger zu verurteilen?
Kräuter-Stockton: Es liegt teilweise daran, dass bestimmte Kriterien gesucht werden, die es dem Täter vorwerfbar machen können, dass er wusste, dass es sich um eine Tat gegen den Willen des Opfers handelt. Gerade jetzt bei dem Beispiel, das ich eben nannte - Vergewaltigung in der Partnerschaft oder in der Ehe -, da schwingt immer noch ein bisschen mit: Ist das nicht eine gewisse Pflicht des Opfers, das zu erdulden? Und wenn dann dagegen verstoßen wird, kann man das tatsächlich zu einem Verbrechen hochstufen? Ja, die Diskussionen, die im Bundestag zu solchen Themen, zuletzt in den 1990er-Jahren geführt wurden, lassen tief blicken. Da geht es um gesellschaftliche Entwicklungen und um lange, lange tradierte patriarchale Mythen im Grunde.
Wuttke: Sie müssen mit diesem Paragrafen umgehen. Wie erleben Sie als Oberstaatsanwältin in Ihrer Berufspraxis Vergewaltigungsopfer?
Kräuter-Stockton: Die Opfer sind, wenn es um ein Sexualverbrechen geht, wirklich ins tiefste Mark getroffen. Wir wissen ja seit Jahrzehnten, Täter von Sexualdelikten suchen keine sexuelle Befriedigung, sondern sie suchen Machtausübung, Demütigung. Und gerade umgekehrt ist es so, fühlen sich die Opfer: Sie fühlen sich gedemütigt, wertlos, beschmutzt, wie Dreck behandelt. Und entsprechend schwer fällt es ihnen dann auch, die Tat zu beschreiben. Ich erlebe das – wir sitzen vor Gericht, sozusagen auf derselben Seite, das Opfer als Nebenklägerin neben mir, und ich sehe, wie sie ihr Taschentuch zerzupft und zerrupft und daran rumknetet und die Nase putzt und die richtigen Worte nicht findet. Und ganz besonders schlimm ist es dann natürlich für ein solches Opfer, das sich bemüht, zu erklären dem Gericht und allen Anwesenden, was passiert ist. Um so schwerer ist es dann zu hören, ja, aus Rechtsgründen sehen wir hier eine Vergewaltigung nicht als erfüllt an. Wir glauben Ihnen zwar, Frau Sowieso, aber leider liegt hier keine Vergewaltigung vor, weil keine Gewalt oder keine Drohung angewandt wurde.
"Wir brauchen einen politischen Willen"
Wuttke: Es gibt ja eine Europaratskonvention. Warum ist Deutschland nicht so weit wie beispielsweise Großbritannien? Oder, andersherum gefragt, was fordern Sie? Was muss dringend passieren?
Kräuter-Stockton: Ja, das ist die Istanbuler Konvention des Europarats aus 2011, und die verlangen tatsächlich, dass die Vertragsstaaten, zu denen Deutschland gehört, nicht einverständliche sexuelle Handlungen unter Strafe stellen. Das heißt, es soll nicht auf gewaltsame oder mit Drohungen erzwungene Handlungen abgestellt werden. Und das würde ja gerade für uns bedeuten, dass es in unserem Paragrafen 177 alleine auf das fehlende Einverständnis des Opfers ankommen dürfte. Und dass wir die zusätzlichen Voraussetzungen, die wir jetzt noch haben, also Gewalt oder Drohung, streichen müssten. Jetzt ist zum einen diese Konvention in Deutschland noch gar nicht ratifiziert worden – ratifiziert, das heißt, dass dieser internationale Vertrag für Deutschland erst dadurch völkerrechtlich bindend wird.
Aber es wird sowieso von manchen Seiten gegen eine Änderung argumentiert, indem gesagt wird, unser Gesetz hat ja schon eine Alternative, bei der keine Gewalt und keine Drohung gefordert wird. Das wäre diese Alternative des Ausnutzens einer schutzlosen Lage, also an einem abgelegenen Ort, wo es keine Hilfe gibt. Aber hier ist der Anwendungsbereich in der Praxis so was von gering – ich kann mich in meiner Praxis an keinen einzigen Fall erinnern, in dem so etwas rechtskräftig festgestellt worden wäre. Und das ist natürlich nicht, was dem Sinn und Zweck der Istanbuler Konvention entspricht. Ich denke, wir brauchen einen politischen Willen, und wenn der da ist, erst dann wird sich tatsächlich auch etwas ändern. Ich stelle mir vor – Sie haben gerade auf die britische Rechtsprechung abgestellt oder das Gesetz abgestellt – in England und Wales ist das Gesetz, aber unabhängig von der Europaratskonvention, sondern schon, ich glaube, seit 2003 so gefasst, dass hier an das fehlende Einverständnis des Opfers angeknüpft wird. Voraussetzung ist also, der Täter hat gewusst oder er musste damit rechnen, dass das Opfer nicht will, und wenn er trotzdem sexuelle Handlungen an dem Opfer ausführt, dann ist das eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung. Und so etwas fordere ich für Deutschland.
Wuttke: Vielen Dank an die Oberstaatsanwältin Sabine Kräuter-Stockton am internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Es gibt in Deutschland beim Paragrafen 177 ganz offensichtlich viel zu tun. Ich danke Ihnen sehr!
Kräuter-Stockton: Danke Ihnen! Wiederhören!
Wuttke: Schönen Tag! Wiederhören!
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