"Bei dem Wort 'Schwanensee' gähnen alle"
Vom Ballett über Tango bis zum Hiphop - Menschen bewegen ihre Körper zu Musik. Ist Tanzen ein Kitt zwischen Kulturen? Wie es um das Ansehen des Tanzes in unserer Zeit bestellt ist, weiß die Tanzkritikerin Wiebke Hüster.
Klaus Pokatzky: Oh Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen. Das soll schon der Kirchenvater Augustinus um das Jahr 400 herum gesagt haben. "Durch den Tanz entdecke ich täglich die Welt neu", das schreibt jetzt der französische Choreograf Mourat Merzouki in seiner Botschaft zum heutigen internationalen Welttanztag. Und dann schreibt er noch: "Durch den Tanz bin ich tief in die Schönheit und Komplexität dieser Welt eingetaucht. Ich bin Weltbürger geworden. Wiebke Hüster ist nun im Studio in Mainz. Guten Tag, Frau Hüster!
Wiebke Hüster: Hallo!
Pokatzky: Frau Hüsler, wie wird jemand durch den Tanz zum Weltbürger?
Hüster: Der Tanz ist für viele junge Choreografen eine Weise, sich künstlerisch und persönlich mit anderen Kulturen, mit anderen Persönlichkeiten im Tanz eng zu verbinden. Da gibt es zum Beispiel den aus Indien eingewanderten Akram Khan, der in London aufgewachsen ist, der aufgrund der traditionellen Orientierung seiner Eltern sehr früh schon Kathak gelernt hat und mit den indischen Traditionen aufgewachsen ist, der aber natürlich in dieser westlichen Metropole groß geworden ist gleichzeitig und dort mit ganz vielen anderen Kulturen konfrontiert wurde, und der nun als Choreograf sehr, sehr viel da zusammenfließen lässt, Yoga, Kathak, westliche Stile, zeitgenössischen Tanzes. Und der sucht nun wieder von dieser Plattform aus den Kontakt zu anderen. Und so meint das auch Mourat Merzouki. Das ist eine Weise, miteinander zu kommunizieren. Es geht nicht darum, fertige Kunstwerke abzuschließen und einem Publikum zu präsentieren, so nach dem Motto "nehmt und fresst", sondern es geht darum, Kommunikation auf der Bühne stattfinden zu lassen, die dann den Funken ins Publikum überspringen lässt.
Pokatzky: Das heißt, es entsteht dann so etwas wie Weltliteratur, die auch stark befördert wurde durch Menschen, die aus Afrika, Asien, Südamerika in die Industrienationen eingewandert sind. Entsteht jetzt so etwas wie Welttanz?
Hüster: Das weiß ich nicht. Ich bin ja sowieso sehr skeptisch, was auch Weltmusik oder so angeht. Diese Begriffe sind schwierig, und manchmal meint man damit ja auch einfach nur so eine schreckliche Einheitssoße, in der nichts mehr richtig so rauszuhören ist. Nein, ich glaube, hier geht es wirklich vor allem zwischen zwei oder drei verschiedenen Sprachen um eine ganz, ganz tiefe Auseinandersetzung, Beschäftigung mit dem anderen, und dann dem Versuch, zu sagen, ah, wo ist das gemeinsame Terrain. Wo gibt es Übereinstimmungen, wo gibt es Gegensätze, die sich vielleicht gegenseitig ergänzen oder zu etwas Neuem, Dritten führen. Diese Überraschung ist auch ein wichtiges Element darin. Man will nicht eine eigene Sprache entwickeln und die dann darstellen und repräsentieren. Es geht nicht ums Repräsentieren, deswegen fand ich es ganz interessant, dass sie begonnen haben, auf den Sonnenkönig abzuheben in Ihrer Anmoderation. Zu sagen, ja, Noverre, das war derjenige, der sozusagen dieses zur Darstellung einer Hierarchie etablierte Ballett vollkommen erneuert hat. Das stimmt nämlich, er hat ja das Handlungsballett begründet. Er wollte, dass der Tanz auf der Bühne eine sinnvolle Struktur entwickelt und Geschichten erzählt, die mit dem Publikum, mit denen sich das Publikum verbinden kann. Und insofern ist es auch gut, dass dieser Welttanztag an seinem Geburtstag stattfindet. Und das ist wirklich auch etwas, was man in diesem zeitgenössischen Tanz sehen kann. Es gibt eine Erneuerung der vielleicht schwach gewordenen Themen im deutschen, im europäischen Tanztheater durch diese außereuropäischen Traditionen. Und auch übrigens kommen auf der inhaltlichen Ebene ganz andere Fragen hier sehr glaubhaft wieder ins Spiel, zum Beispiel bei Sidi Larbi Cherkaoui die Frage nach der Spiritualität, nach Religiosität - was kann das sein? Auseinandersetzung mit religiösen Schriften, ist das eine Form von Nahrung, von Inspiration für Kunst, oder nicht?
Der Körper ist das ureigene Instrument
Pokatzky: Aber wenn wir jetzt zum Sonnenkönig, also Ludwig XIV. noch mal gehen und zu seinen beiden Nachfolgern, wovon der zweite dann ja auf dem Schafott endete - damals war es doch so, die Höflinge mussten tanzen können. Wer etwas da werden wollte in der Politik am Hof, der musste tanzen können. Ja, heute verlangt keiner von irgendeinem Politiker, dass er noch tanzen kann. Was ist denn überhaupt das Ansehen des Tanzes schlechthin heute in unserer Gesellschaft, unserer Zeit?
Hüster: Es wird ja an der Basis sehr stark daran gearbeitet, dass das Ansehen des Tanzes durch Wissen, durch eigene körperliche Erfahrung ein anderes wird. Nämlich in den Schulen - heutzutage gehen ja viele Choreografen, gerade junge Tänzer, junge Choreografen in die Schulen und versuchen mit den Kindern zu erarbeiten, was sonst einfach gefehlt hat im Curriculum. Es gibt Musikunterricht, es gibt Malunterricht, das alles halten wir für selbstverständlich. Aber dass ein Kind lernt, sein ureigenes Instrument, für das es eigentlich nichts weiter braucht als etwas Raum, lernend zu benutzen -
Pokatzky: Und den Körper.
"Der Tanz ist einerseits eine kleine Welt"
Hüster: Ja, aber man hat sich ja selbst. Man hat ja keine Möglichkeit, den Körper irgendwo abzugeben und hat ihn dann zufällig nicht dabei, das geht ja schlecht. Also man hat sich, man braucht nur Raum, und es ist eigentlich ein Skandal, dass unsere Kinder das nicht flächendeckend lernen, ihren eigenen Körper als Instrument dafür einzusetzen, sich mit der Welt, mit ihrer Umgebung zugleich zu verbinden und auseinanderzusetzen. Was die Politik angeht, die Sie angesprochen haben, ist nicht so sehr das Problem, dass die nicht mal Walzer tanzen können, meistens, sondern das Problem ist eher, dass das Repertoireverständnis zum Beispiel ein sehr eingeschränktes ist. Bei dem Wort "Schwanensee" gähnen schon alle, aber ich möchte mal den Politiker sehen, der mir die Handlung von "Schwanensee" nacherzählen kann und dieses Ballett wirklich kennt. Da hört es aber auch schon auf. Und das Problem ist, das Repertoire des Tanzes besteht ja nicht aus Dornröschen und Schwanensee. Wir haben ja im 20. Jahrhundert eine Explosion in der Moderne des Balletts gehabt, als das Ballett auch wirklich die Moderne, die anderen Künste und ihre Entwicklung in die Moderne hinein anführte geradezu ästhetisch. All dieses Repertoire ist gerade auf den deutschen Spielplänen eigentlich zu wenig zu sehen, sodass das Verständnis, das Wissen von Tanz ein zu geringes ist. Sodass die Politik sich da auch so ein bisschen am Rande hält, was wieder dazu führt, dass die Intendanten von Dreispartenhäusern, die sich in der Regel auch nicht besser damit auskennen, ganz eigenständig entscheiden dürfen, wen sie da als Ballettdirektor etablieren wollen. Und das nicht immer zum Besten der Kunst.
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Wiebke Hüster, unsere Tanzkritikerin zum Welttanztag. Wenn Sie jetzt die Politiker ansprechen, Frau Hüster - für jeden Kultur- und Lokalpolitiker ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er in die Premiere des neuen Hamlet im Stadttheater geht. Wer kommt denn nach Ihrer Erfahrung zu den Ballettpremieren?
Hüster: Nun, ich spreche ja mit vielen Ballettdirektoren und Pressestellen und ich bin immer wieder erschrocken zu hören, wer alles nicht in diese Premieren geht. Das kann man eigentlich kaum glauben. In München ist die Situation etwas anders, aber in Hamburg vielleicht auch. In Frankreich ist es sowieso selbstverständlich, also da treffen Sie ja mehrere Minister in jeder Ballettpremiere, das ist da vollkommen normal. Aber in Deutschland hinkt die Politik da so ein bisschen hinterher. Und das Bedauerliche ist eben, dass dadurch sozusagen für die Autonomiebestrebungen des Tanzes es doch jetzt eigentlich wieder weniger Verständnis gibt, als es schon mal gegeben hat. Und die Tatsache, dass eigentlich die Direktoren großer Ballettkompanien doch von einer Jury oder einem Gremium eher besetzt werden sollten denn von Intendanten, die sich eigentlich doch stärker am Machterhalt innerhalb des eigenen Hauses orientieren denn an künstlerischen Entwicklungen im Tanz. Ich meine, das ist ja auch - der Tanz ist einerseits eine kleine Welt, eine kleinere Welt auch als die des Schauspiels, als die der Oper, als die der bildenden Kunst. Andererseits ist diese Welt sehr international, sodass den Überblick da zu gewinnen und zu behalten, gar nicht so einfach ist. Aber ich will nur sagen, wir haben hier ausgezeichnete Strukturen an den deutschen Theatern, fantastische Möglichkeiten, wir laden ja auch immer wieder auswärtige Choreografen ein, die zu nutzen und hier Ballettdirektor zu werden. Aber wir nutzen sie eigentlich zu wenig. Wir könnten viel mehr tun für den internationalen Tanz auf einer viel höheren Ebene, als das derzeit eigentlich geschieht.
Tänzer sind stille Leute
Pokatzky: Und wenn Kompanien zusammengelegt werden, wenn in dem Bereich gespart wird, dann hören wir von den Tänzern, verglichen mit den Theaterleuten, die dann richtig Radau machen und es ja gelernt haben, auch die Klappe aufzumachen, dann hören wir von den Tänzern gar nichts. Haben die keine Lobby?
Hüster: Ja, einerseits sind die Tänzer per Definitionem sehr -
Pokatzky: Stille Menschen.
Hüster: - stille Leute, ja. Das stimmt auch wirklich. Und durch diese Ausbildung, die sehr viel mit einer Praxis des Übens, des Einübens und der Disziplinierung zu tun hat, ist man vielleicht auch nicht so auf Rebellion gestimmt, wie das vielleicht bildende Künstler sind, die ja an die Akademie kommen schon mit dem Gedanken, bloß nicht denselben lauwarmen Quatsch zu malen, den ihre Professoren malen. Aber bei den Tänzern ist das anders. Man bringt seinem Ballettmeister, seinem Ballettdirektor, seinem Choreografen, großen künstlerischen Respekt entgegen, und man wächst erst mal in diese Tradition hinein und lernt von den anderen, bis man wirklich in der Lage ist, diese hochkomplexen Werke zu verstehen und auch diese Rollen so zu interpretieren, dass man sich sozusagen mit den historischen Vorgängern messen kann, was das angeht. Und gleichzeitig möchte man natürlich ein Instrument, den eigenen Körper, so ausbilden, dass die zeitgenössischen Choreografen auch wirklich aus dem Vollen schöpfen können und in der Lage sind, Neues zu entwickeln in diesen tänzerischen Sprachen. Also die Lobby - ja, Lobbyarbeit ist, glaube ich, nicht so das Erste, was einem bei Tänzern einfällt. Das ist das eine. Und das andere ist, glaube ich, dass man eben es so schwer hat, wenn man nichts weiß über Tanz, den Impuls zu finden, da reinzugehen und zu sagen, das schauen ich mir jetzt an. Wenn dieser Schritt einmal getan ist, ich glaube, dann wird sich niemand mehr so leicht von diesen Eindrücken lösen können.
Strömungen von unten bereichern das Tanztheater
Pokatzky: Und welches ist, in einem Satz, die Botschaft unserer Tanzlobbyistin, unserer Kritikerin Wiebke Hüster zum Welttanztag.
Hüster: Oho, meine Botschaft, ja - also, ich finde das fantastisch, dass es der Merzouki in diesem Jahr ist, der Botschafter des Tanztages, weil ich glaube, dass es so wichtig ist, dass wir diese Strömungen von unten aufnehmen. Wenn man sich zum Beispiel das Impuls-Tanzfestival anschaut -
Pokatzky: Frau Hüster - ein Satz war versprochen. Die Kollegen der Musik wollen jetzt auch tanzen.
Hüster: Ja. Ich meine nur, wenn man das anschaut, dass die Strömungen von unten immer wieder das Tanztheater, den zeitgenössischen Tanz bereichern - Merzouki kommt aus dem Hiphop, von der Straße sozusagen - dann finde ich es ein ganz, ganz gutes Signal, ihn zu nehmen, und wir sind gespannt, welche Strömungen zum Beispiel aus der Pop-Welt, aus dem Vogueing, aus dem Pole Dance weiter in den zeitgenössischen Tanz einfließen und ihn bereichern.
Pokatzky: Sagt Wiebke Hüster. Herzlichen Dank, unsere und die Tanzkritikerin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Und dort hat sie auch auf der Homepage der "FAZ" ihren eigenen Blog, "Aufforderung zum Tanz".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.