Das Wild Wild Web
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Viele Witze werden über die Anfänge des WWW gemacht. Alles sah billig aus und war schlecht lesbar. Doch gleichzeitig war das Internet der 90er ein sehr viel freierer Ort. Über eine verlorene Zeit - und die Kunst, die sie bis heute inspiriert.
Der Cyberspace. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 1995. Webseiten sind schwarz, haben einen Sternen-Hintergrund. Blinkender Text fliegt von links nach rechts und wilde GIFs tanzen über den Bildschirm.
Das Internet der 90er war ein anarchischer Ort. Niemand wusste so richtig, wozu diese Welt im beigen Monitorgehäuse gut ist. Die Seiten wurden von Hand gebaut und in bester Wild-West-Manier wurden Regeln und Werkzeuge erst durchs Machen festgelegt. Und auch wenn schon damals alle wussten, dass diese auf Geocities oder ähnlichen Plattformen gehostete Webseiten nicht gut aussahen, ermöglichten sie doch eine gewisse Macht.
Nicht nur Webseiten wurden gebaut, sondern das Web an sich
Das sagt zumindest Olia Lialina, Professorin für New Media an der Merz-Akademie in Stuttgart. Ihr zufolge hat man damals nicht nur eine einzelne Seite gebaut, sondern auch gleich an der Entstehung des ganzen Webs mitgewirkt. Etwas, das sie auch ihren Studierenden mitzugeben versuche.
Lialina ist Mitbegründerin von Netzkunst, die das Internet als Ort und als Material der Kunst verwendet. Sie ist der Ansicht, dass wir uns nicht nur an das Visuelle erinnern sollten. Immer wieder kommen ja Designs auf, die sich an den Elementen der 90er orientieren, doch für Lialina vergessen diese oft die Ideen hinter ihren Inspirationen.
Es gehe nicht nur darum animierte GIFs und Weltraumhintergründe und Under-Construction-Schilder zu verwenden, sondern zu vermitteln und verstehen, wofür diese Elemente standen. Der Weltraum sei ein Symbol für Begeisterung und den Glauben an ein neues Universum gewesen, das man selbst erstellen und erkunden konnte. Und die Schilder hätten das konstante Versprechen auf mehr und auch Begeisterung verkörpert.
Die Anfänge des Webs wären fast verloren gegangen
Und obwohl heute oft "Das Netz vergisst nie!" gesagt wird: So ganz stimmt das nicht. Nach und nach gehen die Dokumente über die Begeisterung und den Pioniergeist des Early Webs verloren. Links führen ins Nichts, die Server, auf denen die Basis unseres modernen Internets geschaffen wurde, sind längst abgeschaltet und viele scheinen es nicht einmal zu merken.
Als Geocities, die prominenteste Plattform, die kostenlosen Raum für Webseiten zur Verfügung stellte, 2009 eingestellt wurde, schienen diese Artefakte früher Netzkultur beinahe verloren zu sein. Das nur als Torrent gesicherte, ein Terabyte große Archiv geriet in Vergessenheit. Olia Lialina versuchte gemeinsam mit Dragan Espenschied, die Dokumente zu sichern und aufzubereiten – gerade noch rechtzeitig, denn am Ende gab es gerade einmal drei oder vier Leute, die diese Dateien überhaupt noch zur Verfügung stellten.
Das Kunstprojekt "One Terabyte of Kilobyte Age Photo Op" postet bis heute alle 20 Minuten einen Screenshot aus dem restaurierten Geocities-Archiv. In Lialinas Augen spiegeln diese Bilder etwas wieder, das wir in den Zeiten des Hochglanzwebs aus Vorlagen und superleichten Seitengeneratoren nicht mehr haben: komplette Freiheit.
Sie sagt, dass wir diese inzwischen verloren hätten. Zwar dürften wir Content generieren, den aber nur in vorgegebenen Formen. Wir dürften Profilbilder aussuchen und Hintergrundbilder ändern, aber an einem World Wide Web würden wir nicht mehr bauen, so Lialina.
Gleichzeitig ist die Generation, deren Kindheitserinnerung aus diesen Seiten besteht, heute erwachsen und greift in ihrer Kunst auf das zurück, was sie geprägt hat.
Das Early Web inspiriert bis heute
Da ist zum Beispiel die Mischung aus Computerspiel und Gruppen-Erfahrung "The Club" der Indie-Entwickler Crows Crows Crows – ein Online-Club, in dem von der Community komponierte Musik läuft. Dazu hat das Team ein Sample-Pack erstellt, aus dem die User Songs erstellen sollten. Weil diese sehr wie 90er-Rave klangen, war klar: The Club wird auch in dem 90er-Stil gehalten. Für Dominik Johann, Designer bei Crows Crows Crow, ist die Zeit eine große Inspiration.
Johann spricht von schäbigen Farben und Texturen, die ein professioneller Designer nie anwenden würde, und dass es genau deshalb cool sei. Dabei sei es jedoch wichtig, dass die Nachbildungen nicht originalgetreu sind, sondern so, wie die 90er in ihren Erinnerungen waren, - auch aus pragmatischen Gründen: Ihren ersten PC hatte die Familie erst 2004, als die Zeiten von Geocities und Co. längst vorbei waren.
Auch Tom Schley, der Crows Crows Crows-Musiker, dessen Sample-Pack "The Club" initiiert hat, legt mehr Wert darauf, eine Erinnerung aufleben zu lassen, als zu imitieren. Er höre sich kaum Referenzen aus der Zeit an, sondern versuche, das Gefühl wieder zu kreieren, das er mit den Gedanken daran verbindet. Das würde dann natürlich ähnlich klingen, aber trotzdem entstünde so auch Neues.
Geocities-Rettungsaktionen und Kurse über das Web der 90er, wie die von Olia Lialina, sind also aus historischer Sicht wichtig. Doch auch wenn die ursprüngliche Bedeutung von GIFs, Hintergründen und Texturen für viele verschlossen bleibt: Auf Kreative und Kunstschaffende haben die Anfänge des WWW trotzdem einen bleibenden Eindruck hinterlassen, der ihre Werke bis heute prägt.
(hte)