Offline oder online – welche ist die Parallelwelt?
Der Schriftsteller Nicol Ljubic, Jahrgang 1971, nutzt zwar ein Smartphone und checkt häufig seine Mails. In einer digitalen Parallelwelt will er aber nicht leben - er warnt vor der Flucht aus dem Hier und Jetzt.
In letzter Zeit frage ich mich oft, welches Leben das wirkliche ist: das digitale oder das analoge. In der U-Bahn starrt jeder zweite Fahrgast auf sein Smartphone, in Cafés sitzen sich Menschen am Tisch gegenüber, aber statt sich zu unterhalten oder sich wenigstens anzuschauen, sind sie mit ihren Tablets beschäftigt.
Neulich haben wir unsere Wohnung für zwei Tage untervermietet. Ein italienisches Paar hatte sich angekündigt, Luigi und Maria, beide Ende zwanzig. Sie stellten ihre Taschen ab, wir gaben uns die Hand, und Luigi fragte, ob wir einen Internet-Zugang in der Wohnung hätten.
Es war wirklich das allererste, was ihn interessierte. Selbst im Stadion saß eine Frau neben mir, die öfter auf ihr Smartphone blickte als auf den Rasen – und das einzige Tor verpasste. Ich frage mich: Was hat es für Folgen, wenn wir immer öfter online statt offline sind?
Es ist ja nicht so, dass ich ein digitaler Totalverweigerer wäre. Auch ich bin im Besitz eines Smartphones und kenne die Versuchung, alle 20 Minuten nach Mails zu schauen oder die neuesten Nachrichten zu lesen. Sogar wenn ich mit meinen Kindern spiele, schaue ich zwischendurch aufs Display und ärgere ich mich dann jedes Mal, dass ich nicht in der Lage bin, einfach im Hier und Jetzt zu bleiben, mich auf das Leben um mich herum einzulassen.
Ich frage mich oft, warum das Netz einen solchen Sog entwickelt. Ist es vielleicht gerade die Flucht vor dem Leben im Hier und Jetzt? Auch aus Selbstschutz bin ich in keinem sozialen Netzwerk. Ich möchte in keiner Parallelwelt leben, die mich absorbiert und die, davon bin ich überzeugt, das menschliche Miteinander verändert. Das antworte ich, wenn ich – wie so häufig in letzter Zeit – gefragt werde, warum ich kein Profil bei Facebook habe.
Verlust der Empathie in der digitalen Welt
So absurd es ist, aber in solchen Momenten komme ich mir vor wie ein asoziales Wesen. Wie der Einsiedler, der in einer anderen Welt lebt und nichts mitbekommt. Von meiner Freundin erfahre ich dann, was die Communitys beschäftigt, von Diskussion bei Facebook und in anderen sozialen Netzwerken – immer mit dem Zusatz: selbst schuld, wenn du so rückständig bist.
Es ist, als gäbe es ein Leben jenseits meines Lebens. In einer Studie des ZDF sagten 14- bis 19-Jährige, wenn sie ihre Online-Community nicht mehr nutzen dürften, würde sich das anfühlen "wie ein Leben, ohne sich bemerkbar zu machen".
In welcher Welt lebe ich? Oder die? Werden wir in Zukunft überhaupt noch miteinander kommunizieren können? Und auf welche Art? Denn es gibt offensichtlich unterschiedliche Formen des Umgangs miteinander in den beiden Welten. Das weiß, wer schon mal Opfer eines Shitstorms wurde.
Ich erinnere mich an einen Satz von Marina Weisband. Als sie noch Geschäftsführerin der Piraten war, sagte sie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: Viele ihrer Mitglieder hätten erst lernen müssen, dass am anderen Ende der Leitung auch ein Mensch sitze.
Ein verblüffender Satz. Aber wahrscheinlich lässt sich so auch die gelegentliche Brutalität im Netz erklären. Diejenigen, die sich an Shitstorms beteiligen, vergessen offenbar, dass sie gerade einen echten Menschen malträtieren, weil sie ihn nicht sehen und deshalb offenbar auch nicht in der Lage sind, sich vorzustellen, was ein Shitstorm beim Opfer auslöst.
Kann es sein, dass Menschen, die vorwiegend online kommunizieren, ihre Empathie verlieren? Dass ihnen Mitgefühl fremd wird?
Freiheit im Netz existenzieller als Freiheit im Leben
Online ist vieles einfacher: Freundschaften lassen sich mit einem Klick beenden, manchmal sogar Beziehungen, da braucht es keine großen Erklärungen, man muss sich mit niemandem von Angesicht zu Angesicht auseinandersetzen und bleibt von den emotionalen Folgen in der Regel verschont. Vielleicht ist auch das die Freiheit, um die es geht, wenn von Freiheit im Netz die Rede ist.
Die Freiheit im Netz scheint für viele längst existenzieller als die Freiheit im Leben jenseits des Netzes. Mir fällt kein anderes gesellschaftspolitisches Anliegen ein, für das sich junge Menschen in letzter Zeit so ins Zeug gelegt haben. Ich frage mich, ob das wirklich so gut ist für uns alle.
Nicol Ljubic. 1971 in Zagreb geboren. Als Sohn eines Flugzeugtechnikers in Schweden, Griechenland und Russland aufgewachsen. Er studierte Politikwissenschaften und besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Seit 1999 lebt er als freier Journalist und Autor in Berlin. 2012 gab er die Anthologie "Schluss mit der Deutschenfeindlichkeit!" heraus. Im Herbst 2012 erschien bei Hoffmann und Campe sein jüngster Roman: "Als wäre es Liebe".