Internet, Wissen und globales Bewusstsein

Von Nikolaus German |
"Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder Mensch an der Menge allen Wissens frei teilhaben kann." Der Internet-Unternehmer Jimmy Wales machte seine Vision im Jahr 2001 wahr: Er gründete Wikipedia, eine Internet-Enzyklopädie, die alle Menschen kostenlos nutzen können. Heute gibt es Wikipedia in 250 Sprachen mit 10 Millionen Artikeln zu allen Wissensgebieten.
Auch Google will allen Menschen das Wissen der Welt kostenlos zugänglich machen. Der Branchenführer unter den Suchmaschinen hat ein Programm gestartet, das Millionen von Büchern aus den großen Bibliotheken der Welt ins Netz stellt. Beteiligt sind daran unter anderem die amerikanische Kongressbibliothek, die Universitätsbibliotheken Oxford, Princeton und Harvard - und aus Deutschland die Bayerische Staatsbibliothek mit ihrer berühmten Sammlung von fast 90.000 mittelalterlichen Handschriften.

Google avanciert mit diesem gigantischen Projekt wohl zum größten Kultur- und Wissensvermittler unserer Zeit. Ob in Tokio oder Mecklenburg-Vorpommern – überall wo Menschen online sind, können sie sich künftig per Mausklick mittelalterliche Prachthandschriften ins Haus holen, oder die Werke von Leibniz oder Goethe – vollständig und, wie gesagt - kostenlos. Ein grandioses kulturelles Unternehmen.

Was früheren Generationen unvorstellbar erschien, macht das Internet im 21. Jahrhundert möglich: den freien Zugang für Alle zur gesamten Weltkultur. Schon jetzt nutzen 1,3 Milliarden Menschen das Netz, 20 Prozent der Menschheit. Das Internet könnte sich vor allem für die ganz armen Länder als Segen erweisen. In Schwarzafrika zum Beispiel ist kaum Geld da für den Aufbau großer Bibliotheken. Umso wichtiger ist es für die Menschen dort, per Internet am Wissen der Welt partizipieren zu können.

Traditionalistische Bildungsbürger hierzulande lästern gern übers Internet. Die Jugend, sagen sie, surft nur noch im Netz herum, sie liest keine Bücher mehr und wird deshalb immer dümmer. Das Internet, so seine Verächter, ist ein Kulturbruch. Aber das ist nur zum Teil richtig. Mit dem Google-Buchprojekt haben wir ein Beispiel, wie unser kulturelles Erbe gerade durch Digitalisierung für die Zukunft erhalten und über Internet allen Menschen zugänglich gemacht wird. Da eröffnen sich phantastische Bildungschancen. Es ist Sache der Eltern und Schulen, unseren Nachwuchs zu einem kulturellen Gebrauch des Internets zu animieren.

Und noch ein wichtiger Aspekt: Das Internet ist der bislang wohl bedeutendste Schritt zu einer informierten und miteinander kommunizierenden Weltgesellschaft - es trägt zur Integration der Menschheit bei, mehr noch als Fernsehen, Welthandel und Weltverkehr. Durch das Internet erfahren wir Menschen uns rund um den Globus als zusammengehörig. Wir wachsen in ein gemeinsames Weltbewusstsein hinein - und hoffentlich auch in eine gemeinsame Weltverantwortung.

Noch bis vor 70, 80 Jahren lebten die meisten Menschen Deutschlands in einer provinziellen, abgeschotteten Welt. Die Grenzen ihres Landstrichs, die Grenzen ihrer Konfession und ihrer Nation bedeuteten die Grenzen ihrer Welt. Was jenseits davon lag, war ihnen fremd, oft feindlich. Man sah und hörte nichts von anderen Völkern und Religionen, außer was einem die Schulmeister und Pfarrer einbläuten: dass die Welt aus Freunden und Feinden bestehe; Deutsche gegen Franzosen, Katholiken gegen Lutheraner, Christen gegen Heiden. Für solche Borniertheiten bezahlten Europa und die Welt mit blutigen Kriegen.

Ganz anders heute. Die modernen Medien, vor allem das Internet, haben zu einer wahren Wissensexplosion geführt, haben in Deutschland und überall in der Welt den Horizont der Menschen erweitert. Der französische Zukunftsdenker Jacques Attali erwartet, dass im Lauf des 21. Jahrhunderts eine immer stärker vernetzte und intelligentere Menschheit ein ganz neues Bewusstsein entwickeln wird – ein planetarisches und universalistisches Bewusstsein.


Nikolaus German, M.A., geb. 1950, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Lebt als Autor und freier Journalist in München, schreibt v. a. für "Süddeutsche Zeitung", "Rheinischer Merkur", "Das Parlament"; zahlreiche Beiträge für Rundfunk und Fernsehen sowie mehrere Dokumentarfilme, darunter "Botschafter der Hoffnung - Sergiu Celibidache in Rumänien", "München unterm Hakenkreuz - Hitlers Hauptstadt der Bewegung", "Max Mannheimer - ein Überlebender aus Dachau".