Internetkritiker Jaron Lanier

Schluss mit der Umsonst-Kultur im Netz!

25:59 Minuten
Der US-amerikanische Informatiker, Musiker und Schriftsteller Jaron Lanier lächlt am 12.10.2014 in der Paulskirche in Frankfurt am Main (Hessen) im Anschluss an seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Mit der Auszeichnung wird ein Mahner des Internets geehrt. Der renommierte Friedenspreis wird seit 1950 zum Abschluss der Buchmesse vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert. Foto: Arne Dedert/dpa | Verwendung weltweit
Man sollte für einen erfolgreichen Facebook-Post entlohnt werden, meint Jaron Lanier. © dpa
Interview: Meike Laaff |
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Online = umsonst: Das ist das Versprechen vieler Internetfirmen. Doch eigentlich ist dieses Versprechen eine Lüge, sagt Jaron Lanier. Durch konstante Überwachung und Werbung sei das Netz heimtückisch und unmenschlich geworden. Laniers Lösung: totale Kommerzialisierung.
Datenskandale, Manipulationen, Hass und Hetze: Dass das Internet nicht das Paradies ist, das sich anfangs viele erträumt hatten, ist inzwischen den meisten klar. Die Schuld an diesen Fehlentwicklungen rund ums Netz wird in der Regel den großen Internet- und Tech-Konzernen wie Facebook oder Google zugeschrieben. Für den Virtual-Reality-Pionier und Internet-Kritiker Jaron Lanier ist das jedoch nur die eine Seite der Wahrheit. Ihm zufolge hat auch die Technik-Community ihren Teil dazu beigetragen, dass das Netz heute "ruiniert" ist, wie er sagt.

Menschen wie Steve Jobs wurden wie Superhelden verehrt

"Ruiniert" sei es, weil das Geschäftsmodell im Internet "Werbung" heißt, meint Lanier. Und damit meine er nicht klassische Werbeanzeigen, sondern Online-Werbung, bei der Nutzer konstant überwacht und manipuliert würden. Die Technik-Community und ihre Kultur hätte diese großen Firmen praktisch dazu gezwungen, auf dieses Modell zu setzen: "Der Grund dafür sind zwei völlig widersprüchliche Glaubensysteme, die zu Orthodoxien wurden." Auf der einen Seite die Idee, dass alles im Netz gratis und frei sein sollte. "Eine sozialistische Vorstellung vom Internet sozusagen."
Auf der anderen Seite die Neigung zur "Verehrung von High-Tech-Gründern und Superhackern". Menschen wie Steve Jobs seien ins Gottgleiche überhöht worden. "Diese Ideen sind einfach unvereinbar", sagt Lanier. "Die einzige Lösung für diesen Widerspruch war das Werbe-Modell, in dem wir lügen müssen. Wir sagen unseren Nutzern: Oh, es ist alles frei und gratis, teilt, teilt, es ist alles kostenlos, es ist gut zu teilen. In Wirklichkeit ging es uns nur darum, Geld einzunehmen – und zwar von anderen Leuten, die hofften, alle diese Menschen, die Dinge im Netz teilen, zu manipulieren."
Apple-Chef Steve Jobs, aufgenommen 2007 in Berlin bei der Vorstellung des iPhones.
Steve Jobs, aufgenommen 2007 in Berlin, mit dem Turtleneck-Pullover. © picture alliance / dpa / Peer Grimm
Um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, muss sich das Internet Lanier zufolge entscheiden: entweder für den sozialistischen oder den kapitalistischen Weg. Der sozialistische wäre, das Internet zu einer öffentlich oder öffentlich-rechtlichen Institution zu machen, mit der niemand mehr Geld verdient. Das könnte zwar funktionieren, berge aber die große Gefahr, dass der Staat Zugriff auf diese Daten bekomme. "Ich will jetzt keine Namen nennen, aber es gibt da ja diverse Länder, in denen sogenannte 'Starke Männer' die Macht übernommen haben. Und einer von ihnen könnte sagen: Firmen wie Facebook, Google, sie sollten Teil des Staates werden. Sie sind es ja schon. In China. In Russland auch. Warum denn dann nicht auch in anderen Ländern?"

Im Internet sollte für alles bezahlt werden

Insofern plädiert Lanier für den anderen Weg: das Internet durch und durch zu kommerzialisieren. "Die Lösung ist, das Netz in ein altmodischeres Business zu transformieren. Ein Geschäftsfeld, bei dem jeder, der etwas nutzt, ein Käufer, ein Kunde ist und jeder, der im Netz Informationen bereitstellt, ein Verkäufer. Jeder kauft und verkauft, wie in jedem anderen Markt."
So solle für alles im Internet bezahlt werden, egal, ob jemand einfach Daten liefert oder eine Dienstleistung erbringt – und sei es ein erfolgreicher Facebook-Post. "Das würde nicht nur Macht und Reichtum auf eine Art neu verteilen, die wir für unmöglich halten, es würde auch ein anderes Problem lösen: den Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund zunehmender Automation", sagt Lanier. "Denn Firmen wie Google sagen: Unsere Künstliche Intelligenz wird in Zukunft die Autos fahren – und Taxifahrer oder Lastwagenfahrer haben dann keine Jobs mehr."
Künstliche Intelligenzen verrichteten diese Arbeiten jedoch nur scheinbar kostenlos. Denn um zu funktionieren, brauchten sie unglaubliche Mengen an Daten. Und die würden von Menschen geliefert. "In Wirklichkeit brauchen wir immer noch Menschen. Wir brauchen sie bloß auf eine andere, neue Weise. Und deswegen belügen wir sie. Wir tun so, als ob sie keinen Wert hätten und wir sie deswegen nicht bezahlen müssten. Aber wenn wir ehrlich wären, dann müssten wir sie für ihre Arbeit entlohnen. Und dann würden sie ihre Jobs nicht verlieren, sie hätten eine neue Art von Arbeit, würden ihre Würde behalten und ihren Wert."
(uko)

Das Interview im Wortlaut:
Meike Laaff: Jaron Lanier, Sie sind gewissermaßen ein Langzeitbeobachter des Silicon Valley, Sie waren lange Zeit dort in der Szene - und Sie sind ein profilierter Kritiker vieler Entwicklungen rund ums Silicon Valley. Was hat denn Ihrer Meinung nach das Internet kaputtgemacht?

Das Interview mit Jaron Lanier können Sie auch in der englischen Originalversion nachhören oder hier als mp3 herunterladen: Audio Player

Jaron Lanier: Das wird jetzt kontrovers. Was das Netz ruiniert hat, ist meiner Meinung nach einfach: ein schlechter Business-Plan. Der Business-Plan, der für den Untergang gesorgt hat, heißt Werbung. Aber das ist ein etwas ungenauer Begriff. Mir geht es nicht um Werbung, wie wir sie von Plakaten, Zeitungs-Annoncen oder dem Fernsehen kennen. Bei Online-Werbung wird eine Person konstant überwacht. Die so über die Person gewonnen Informationen werden von Algorithmen benutzt, um eine sich konstant verändernde, individuell angepasste Nutzererfahrung zu entwickeln. Die darunterliegenden Prinzipien bedienen sich bei der Verhaltensforschung, dem Behaviourismus, um eine Art Sucht zu entwickeln und einen Weg zu schaffen, diese Person zu verändern. Die einzige Art, damit Geld zu verdienen, ist, wenn andere Firmen für dieses System bezahlen. Sie glauben nämlich, dass sie die Menschen, die das System nutzen, verändern, modifizieren können.
Das gesamte Geschäft basiert auf Manipulation. Dadurch wird alles unehrlich, hinterhältig, heimtückisch und sehr schnell unmenschlich. Viele Menschen zeigen deswegen Persönlichkeitszüge, die man von Suchterkrankungen kennt. Für mich ist ganz klar: Das ist das Problem. Und mehr und mehr Menschen würden mir da zustimmen, denke ich. Es gab mal eine Zeit, da galt meine Meinung als radikal. Aber heute würde ich sagen, sie ist ziemlicher Mainstream.

Zwei einander widersprechende Glaubenssysteme beherrschen das Netz

Meike Laaff: Aber womit hat das angefangen? War diese Entscheidung über ein Geschäftsmodell sozusagen die "Erbsünde?" In Ihrem aktuellen Buch, The Dawn of the New Everything, geben Sie dafür ja verschiedene Erklärungen. Etwa, dass alles in den 90ern begann. Da fingen wir an, Systeme nicht mehr um Menschen herum zu bauen, sondern um Bits und Bytes. Eine andere Erklärung wären libertäre Einstellungen im Silicon Valley.
Jaron Lanier: Eine Sache ist für mich jedenfalls klar: Das Problem entstand nicht aufgrund eigenmächtiger Entscheidungen nur einiger weniger Chefs von Firmen wie Google und Facebook. Ich denke eher, die Technik-Kultur und die Technik-Community haben große Firmen praktisch dazu gezwungen, diese Entscheidungen zu treffen. Sie hatten gar keine Wahl. Der Grund dafür sind zwei völlig widersprüchliche Glaubensysteme, die zu Orthodoxien wurden. Und das ließ nur sehr wenig Raum für Kreativität. Eines dieser beiden Glaubenssysteme ist, dass alles gratis und frei sein sollte. Eine sozialistische Vorstellung vom Internet sozusagen. In Europa fand diese Idee ihren Ausdruck in der Open-Software-Bewegung, die das Betriebssystem Linux hervorgebracht hat, aber auch in den Piratenparteien und vielen anderen Beispielen. Das war also eine Orthodoxie. Und dieses Glaubenssystem für sich alleine hätte ein ziemlich vernünftiges Internet hervorgebracht.
Aber leider wurde es kombiniert mit der anderen Orthodoxie: der Anbetung von Götzen. Der Verehrung von High-Tech-Gründern und Superhackern. Es gab da diese Überhöhung ins Gottgleiche von Menschen wie Steve Jobs. Wenn man darauf besteht, gottgleiche Firmenchefs zu haben, aber auch eine sozialistische Basis für Alles...naja, diese Ideen sind einfach unvereinbar. Die einzige Lösung für diesen Widerspruch war das Werbe-Modell, in dem wir lügen müssen. Wir sagen unseren Nutzern: Oh, es ist alles frei und gratis, teilt, teilt, es ist alles kostenlos, es ist gut zu teilen. In Wirklichkeit ging es uns nur darum, Geld einzunehmen - und zwar von anderen Leuten, die hofften, alle diese Menschen, die Dinge im Netz teilen, zu manipulieren. Alles nur, um ein Business zu schaffen.

Ein "öffentlich-rechtliches" Internet wäre keine Lösung

Meike Laaff: Was schlagen Sie vor, wie dieses Problem gelöst werden könnte?
Jaron Lanier: Es gibt jetzt zwei Wege. Der eine ist es, dieser sozialistischen Idee des Internets den Vorzug zu geben. Der andere Weg wäre es, den kapitalistischen oder libertären Pfad zu gehen. Wenn wir uns für den sozialistischen Pfad entscheiden, dann würden wir sagen: Das Internet ist gar kein Business. Es sollte eher so was sein wie eine öffentliche Bibliothek. Oder wie öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Also eine öffentliche Institution, die sich durch Steuern und Beiträge finanziert und über demokratische Prozesse verwaltet wird. Das könnte funktionieren…
Aber diese Idee macht mir Sorgen. Der Grund, warum ich nicht rumlaufe und für diese Lösung trommele ist: Das Internet sammelt so viele Informationen über Menschen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Facebook mehr über die Menschen weiß, als die Stasi damals wusste. Aber Wissen ist Macht. Und diese Macht wäre so verlockend, dass sie Regierungen destabilisieren würde. Das mag jetzt wie eine extreme Position klingen, aber ich halte sie für realistisch.
Meike Laaff: Für die USA könnte das eine Lösung sein, aber wie stellen Sie sich das auf einer internationalen Ebene vor?
Jaron Lanier: Nein, das wäre eben keine Lösung, sondern ein Desaster. Wahrscheinlich würde das Netz auseinanderbrechen in einzelne Nationen. Ich glaube, Verstaatlichung wäre eine mögliche Methode, aber eine, die mir Sorgen bereitet. Rechtspopulisten und autoritäre Regierungen werden weltweit immer mächtiger. Und sie könnten so eine Verstaatlichung anstreben.

Jeder Facebook-Post sollte bezahlt werden

Ich will jetzt keine Namen nennen, aber es gibt da ja diverse Länder, in denen sogenannte "Starke Männer" die Macht übernommen haben. Und einer von ihnen könnte sagen: Firmen wie Facebook, Google, sie sollten Teil des Staates werden. Sie sind es ja schon. In China. In Russland auch. Warum denn dann nicht auch in anderen Ländern? Das ist etwas, was mir Sorgen bereitet. Das bringt mich jetzt zu meiner bevorzugten Lösung. Einige Leute, vor allem die politische Linke, werden damit nicht glücklich sein, doch ich denke, das ist letztendlich die beste Lösung, selbst wenn sie nicht perfekt ist. Die Lösung ist also, das Netz in ein altmodischeres Business zu transformieren. Ein Geschäftsfeld, bei dem jeder, der etwas nutzt, ein Käufer, ein Kunde ist und jeder, der im Netz Informationen bereitstellt, ein Verkäufer. Jeder kauft und verkauft, wie in jedem anderen Markt.
Schon heute gibt es ja Dienste, für die Menschen zahlen, Netflix zum Beispiel. Ein wachsender Konzern und ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Eins, bei dem Menschen für etwas bezahlen, das sie theoretisch auch umsonst haben könnten. Aber sie finden, es lohnt sich dafür zu zahlen, weil es ihnen einen guten Gegenwert bietet. Es gibt auch diese Meinung, dass dadurch "Fernsehen" als Genre auf ein neues Level gehoben wurde - eben weil Menschen gewillt sind, dafür zu zahlen.
Der zweite Teil dieser Idee ist natürlich, dass Menschen entlohnt werden. Wenn jemand einen erfolgreichen Beitrag macht auf Facebook oder Twitter und damit den Wert der Plattform insgesamt erhöht, dann sollten sie dafür bezahlt werden.
Das würde nicht nur Macht und Reichtum auf eine Art neu verteilen, die wir für unmöglich halten, es würde auch ein anderes Problem lösen: den Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund zunehmender Automation. Viele Menschen machen sich gerade Sorgen. Denn Firmen wie Google sagen: Unsere Künstliche Intelligenz wird in Zukunft die Autos fahren - und Taxifahrer oder Lastwagenfahrer haben dann keine Jobs mehr. Und das ist entsetzlich.

Daten zu liefern, sollte bezahlt werden

Um diese Künstlichen Intelligenzen zu betreiben, braucht es aber eine unglaubliche Menge Daten. Ein gutes Beispiel ist die automatische Übersetzung vom Englischen ins Deutsche. Sie braucht Millionen Phrasen, die tagtäglich ohne Ankündigungen gestohlen werden von Menschen auf der ganzen Welt. Denn damit die Übersetzung modern klingt, braucht das Programm neue Beispiele aus der Popkultur und den Nachrichten, es braucht Slang-Begriffe und Memes. All diese Dinge, die sich täglich verändern.
Also sagen wir im Moment menschlichen Übersetzern: Pech gehabt, euer Job ist bald obsolet. Computer machen diese Arbeit ja kostenlos. Aber in Wirklichkeit brauchen wir immer noch Menschen. Wir brauchen sie bloß auf eine andere, neue Weise. Und deswegen belügen wir sie. Wir tun so, als ob sie keinen Wert hätten und wir sie deswegen nicht bezahlen müssten. Aber wenn wir ehrlich wären, dann müssten wir sie für ihre Arbeit entlohnen. Und dann würden sie ihre Jobs nicht verlieren, sie hätten eine neue Art von Arbeit, würden ihre Würde behalten und ihren Wert.
Diese Idee, alles im Netz stärker in einen Geldwert zu überführen, würde viele Probleme behandeln: die Konzentration von Macht und Geld bei einigen Wenigen, den Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund von Automation. Vieles am Internet wird ärgerlich, nervig und problematisch bleiben, denn freie Märkte sind eben so, aber es ginge im Netz nicht mehr darum, Menschen zu belügen und zu manipulieren. Im Internet ginge es dann darum, für Dienstleistungen zu bezahlen. Das ist nicht ideal, aber es ist besser als das, was wir jetzt haben.

Die großen Internet-Konzerne schulden uns noch Geld

Meike Laaff: Ich verstehe diese Idee, die Manipulation der User als Geschäftsmodell abzuschaffen, aber es gibt Kritiker wie Evgeny Morozov, die sagen: Vielleicht ist es dazu schon zu spät. Vielleicht haben die großen Firmen schon genug Daten gesammelt. Etwa für Übersetzungen. Vielleicht haben sie schon genug Beispiele, um grundsätzliche Übersetzungen automatisch anzufertigen und sie müssten jetzt nur noch feinjustieren. Dass es also nur so geringe Mengen an aktuellen, neuen Übersetzungen braucht, dass es für die Übersetzer schon zu spät ist.
Jaron Lanier: Das kann man unterschiedlich angehen. Eine Möglichkeit ist, dass Firmen eine Entschädigung schulden für bereits eingesammelte Daten. Das ergäbe Sinn. Wenn sie Diebstahl begangen haben, dann sollten sie dafür büßen. Klar, einige Verbrechen verjähren, aber in diesem Fall sollte es Anpassungen geben. Wir reden hier nämlich nicht über irgendwen, sondern über die profitabelsten, wertvollsten Konzerne aller Zeiten.
Und ich liebe diese Firmen wirklich. Ich weiß, das hört sich jetzt widersprüchlich an, aber ich habe eine Firma an Google verkauft, ich arbeite im Moment mit Microsoft zusammen. Ich glaube fest daran: Wenn wir die Welt zu einem besser funktionierenden Ort machen können, dann ist das auch besser für große Firmen. In einer Welt zu siegen, die du zum Untergang verdammt hast, ist kein Sieg, den irgendjemand wollen kann. Aber genau das passiert gerade. Ich glaube also, die rationale Entscheidung hier ist es, die Welt nicht zu zerstören. Also: Schulden zurückzahlen. Das ist ein Weg. Eine Art Lizenzgebühr basierend auf bereits eingesammelten Daten sollte gezahlt werden. Es kann sein, dass es inzwischen unmöglich ist zu bestimmen, welche Daten wann von wem benutzt werden. Aber man könnte eine Schätzung machen. Eine statistische Version der Wahrheit, die uns hilft zu verstehen, was passiert ist. Das ist definitiv möglich.
Der zweite Weg, um auf diesen Einwand von Morozov zu antworten, ist folgender: Wenn wir den Leuten glauben, die gerade so massiv in die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz investieren, wenn wir den Firmen glauben, die sich am sogenannten "Rennen" um Künstliche Intelligenz beteiligen, dann müssen wir feststellen: In Zukunft werden Daten anscheinend noch wichtiger sein und es werden neue Arten von Daten gerbraucht.

"Ich glaube nicht an Utopien"

Meike Laaff: Sie sagen, Menschen sollten nicht nur für ihre Übersetzungen bezahlt werden, sondern sogar für ihre Beiträge auf Social Media. Ein spannendes Argument. Aber wenn Menschen für erfolgreiche Beiträge auf z.B. Facebook und Twitter entlohnt werden, würde das nicht dann bedeuten, dass vor allem die Menschen belohnt werden, die schon jetzt Erfolg haben? Die Menschen, die starke Emotionen auslösen, die immer extremere Meinungen bedienen? Könnte das nicht sogar diese Polarisierung verstärken, die wir etwa bei der Neuen Rechten, der Alt-Right sehen, und natürlich auch in anderen Sphären?
Jaron Lanier: Zumindest dafür gibt es ja schon empirische Forschung. Wir können uns die Art von Inhalten anschauen, die jetzt und in der Vergangenheit in Systemen erschienen sind, die auf Kauf und Verkauf basierten und nicht auf Manipulation. Und ich möchte hier betonen: ich glaube nicht an Utopien! Jedes menschliche System wird für Ärgernisse sorgen, denn Menschen gehen sich nun mal auf den Geist.Also sollten wir nicht so tun, als würden wir mit einem neuen System irgendein Stadium von Perfektion erreichen. Aber es gibt einen entscheidenen Unterschied zwischen "ärgerlich" und existenzieller Bedrohung. Und ich glaube, das, was wir jetzt tun, ist eine solche existenzielle Bedrohung. Dieses System macht Menschen so verrückt, dass wir uns um blöde Meta-Probleme kümmern, und nicht um die wahren Herausforderungen wie den Klimawandel. Das Beste, was wir tun können ist, eine Welt zu schaffen, in der wir von dieser existentiellen Bedrohung wegkommen und hin zu einer Welt, die einfach nur ganz normal ärgerlich ist. Das ist möglich, dafür gibt es Beweise.
Nur ein Beispiel. Vor dem Internet gab es ein direktes kommerzielles Modell für Medien. Damals gab es definitiv auch Boulevardblätter, die Gerüchte über Promis publizierten und anderes verrücktes Zeug, um Aufmerksamkeit zu erregen und Auflage zu erzeugen. Es gab auch radikale Publikationen und all das. Aber alles in allem konnten sich große Medien halten und die Menschen waren besser darin, den Unterschied zu erkennen zwischen Nonsens und News. Das ist ein Schluss, zu dem alle Studien kommen, die sich anschauen wie die Informiertheit von Menschen mit dem Aufstieg des Internets abgenommen hat. Zumindest alle Studien, die ich kenne.
Ich habe keine Zweifel: Dieses kommerzielle Modell würde für eine ganze Reihe von Dingen sorgen, die ich persönlich ärgerlich finde. Auch in dieser Welt gäbe es Promis. Aber sie wären sowas wie die Kardashians und nicht diese schrecklichen politischen Sachen. In dieser eher klassisch kommerziell geprägten Welt ginge es nicht darum, Leute irgendwo einzupferchen und zu beweisen, dass man sie fundamental verändert hat, wie im Werbemodell. Das ist das Gute daran: Solange du dafür sorgst, dass jemand für einen Dienst zahlt, dann spielt es keine Rolle, ob du verändert hast, wie diese Person tickt. Auch da könnte es natürlich Nebeneffekte geben, aber sie sind diffuser. Das wäre keine perfekte Welt. Aber eine bessere.

Bis heute ist er fasziniert von VR-Technologie

Meike Laaff: Die einzige Technologie, in die Sie noch Hoffnung setzen, scheint die Virtual-Reality-Technologie zu sein. Zumindest kommt mir das so in Ihrem Buch so vor. Und ich möchte Sie fragen, warum das so ist - gerade, wenn man bedenkt, wie leicht man diese Idee missbrauchen und damit ruinieren könnte.
Jaron Lanier: Der Grund, warum ich mich in meinem Buch so sehr auf Virtual Reality konzentriere ist: das ist halt MEIN Ding. Ich befinde mich da in einer einzigartigen Position, um darüber zu sprechen. Und ich versuche, so gut es geht, auch auf die Gefahren und das Missbrauchspotenzial hinzuweisen. Aber ich bin einfach von dieser Technologie begeistert. Ich liebe sie wirklich sehr. Es wäre aber falsch zu behaupten, Virtual Reality wäre die einzige Technologie, die mich begeistert. Ich arbeite ja auch professionell an Technik. Besonders interessiert bin ich an medizinischer Technologie, an der Verwaltung der steigenden Weltbevölkerung und natürlich daran, den Klimawandel aufzuhalten und zu überleben. Ich bin Technologie gegenüber grundsätzlich also sehr positiv eingestellt.
Im Moment ist es aber nun mal so, dass Technologie-Kritik viel stärker gebraucht wird. Man muss eben auf die Herausforderungen seiner Zeit reagieren.
Meike Laaff: Sie haben Tim Berners-Lee, den Erfinder des World Wide Web, stark kritisiert. Dafür etwa, dass er das Netz so gebaut hat, dass Links nur in eine Richtung funktionieren. Jetzt hat Tim Berners-Lee selbst erst vor kurzem einen Vorschlag gemacht, wie man das Netz reparieren könnte. Ist das Solutionismus? Der Glaube, dass es für alles eine technische Lösung gibt?
Jaron Lanier: Solutionismus ist es auf keinen Fall. Solutionismus ist nur dann eine legitime Kritik, wenn es gar kein Problem gibt, für das es eine Lösung braucht. Es gibt aber ein wirkliches Problem mit den Internet und es braucht eine Lösung. Solutionismus hier vorzuwerfen, wäre eine unnötige Beleidigung. Tims Projekt heißt SOLID und ich habe mit ihm darüber gesprochen. Meine Sorge hier ist eher subtiler Natur. In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass das Internet die Gesellschaft im Stich lässt, dass es Schaden anrichtet und nur weniges besser macht. Wie man dieses Problem genau angeht, war für viele unklar. Ein Aspekt, auf den sich viele dann konzentriert haben, war Privatsphäre und Kontrolle über die eigenen Daten. Daraus entstanden dann viele verschiedene Projekte, in Europa zum Beispiel die Datenschutz-Grundverordnung, DSGVO.

"Das Problem ist nicht, dass Daten erhoben werden"

SOLID macht nun eine Menge Sachen. Der Fokus liegt aber darauf, Menschen eine Möglichkeit zu geben, Kontrolle über ihre eigenen Daten zu gewinnen, indem man etwa überprüfen kann, ob ein Server vertrauenswürdig ist, bevor man seine Daten übermittelt. Das ist lobenswert. Aber es geht am Kern des gesamten Problems vorbei. Das Problem ist nicht, dass Daten erhoben werden. Wenn jemand deine Daten nimmt und nie etwas mit ihnen macht, dann passiert ja nichts Schlimmes. Wie die Daten verarbeitet und benutzt werden - da liegt das Problem. Und selbst wenn es eine Methode gibt, den Besitz von Daten zu kontrollieren und den Pfad, den Daten nehmen, und wenn es sogar einen Weg gibt, nur einer bestimmten Nutzung von Daten zuzustimmen... das spielt alles keine Rolle, wenn jemand dann doch diese Daten in einer Art nutzt, die einer Person Schaden zufügt, dann wurde Schaden zugefügt.
Ich halte es für unmöglich, alle Eventualitäten zu bedenken, bevor man seine Zustimmung gibt. Ob man also der Verwendung seiner Daten zustimmt oder nicht, spielt keine so große Rolle. Der richtige Weg ist meiner Meinung nach, nicht mehr die schlimmste, schädlichste Nutzung von Daten zu belohnen. Natürlich bin ich interessiert an der Idee, seine eigenen Daten zu besitzen, denn ich will ja darum herum ein Geschäftsmodell bauen. Tims SOLID wäre sogar eine exzellente Basis, um die kommerzielle Nutzung von Daten anzutreiben. Es bietet nicht alles, was man dazu braucht, aber vieles. Und seine Organisation macht vieles richtig und erklärt gut, was sie vorhaben. Meiner Meinung nach ist das aber nur ein kleiner Teil von dem, was gemacht werden muss. Und der wichtigste Teil ist es immer noch, die Anreize zu ändern. Denn es sind immer die wirtschaftlichen Anreize, die bestimmen, was in jeden Markt passiert.
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