Erinnerung an Frankreichs dunkle Geschichte
Die französische Ortschaft Rivesaltes ist für den guten Wein bekannt - ihre dunkle Vergangenheit war lange vergessen. Seit den 30er-Jahren lag dort eines der größten Internierungslager des Landes. Nun wird in Rivesaltes eine Gedenkstätte eröffnet.
"Wenn Sie nach Rivesaltes kommen, haben Sie das Zerstörerische vor Augen. Diese Baracken, die vermitteln, was es bedeutet interniert zu sein, deportiert zu werden. Welche große und zugleich dramatische Chance."
Eine Chance, die erst mit großer Verspätung genutzt wurde. Lange war das Lager von Rivesaltes eine Leerstelle im kollektiven Gedächtnis Frankreichs. Lokale Initiativen, zähe Politiker der Region Languedoc-Roussillon mussten Jahrzehnte lang gegen Widerstände ankämpfen: auf höchster Staatsebene, auf lokaler Ebene, aber auch gegen Rivalitäten unter den betroffenen Gruppierungen.
"Hier haben sich an ein und demselben Ort nacheinander die drei großen Augenblicke der französischen Geschichte im 20. Jahrhundert abgespielt."
Der Historiker Denis Peschanski ist seit mehr als 13 Jahren mit dem Erinnerungsprojekt "Rivesaltes" betraut.
"Die Flüchtlingsbewegung aus Spanien, der Zweite Weltkrieg, die Folgen des Algerienkrieges."
Das Lager befand sich auf 612 Hektar Land, in einer kargen Ebene unweit von Perpignan. Kein Schutz vor glühender Hitze im Sommer, vor beißender Kälte im Winter, vor den brutalen Fallwinden aus den nahe gelegenen Pyrenäen - nur Steppenpflanzen gedeihen in dieser Ebene. Und doch mussten hier Menschen leben.
Die Vichy-Regierung ließ ausländische Juden internieren
Das Lager von Rivesaltes ist zunächst Militärlager. Ab November 1938 greift ein Dekret, das die Internierung von "unerwünschten Ausländern" erlaubt, Frankreich bringt die spanischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der Ödnis unweit von Perpignan unter. Ab 1940 beginnt das dunkelste Kapitel: Die Vichy-Regierung hatte ein Gesetz zur Internierung ausländischer Juden erlassen. Viele waren vor den Nazis nach Frankreich geflohen.
"Die Juden, die in der nichtbesetzten Zone zusammengetrieben wurden, wurden hierher gebracht und dann deportiert."
Nathalie Fourcarde hat das Projekt Erinnerungsstätte jahrelang wissenschaftlich begleitet.
"Von Januar 1941 bis November 1942 waren hier 21 Menschen interniert."
Der französische Staat, sagt der Historiker Peschanski, internierte die Menschen, weil sie sich unter den jeweils geltenden politischen Vorzeichen in Frankreich nicht frei bewegen sollten.
"Diese Bevölkerungsgruppen wurden gezwungen, dort zu leben, das ist der rote Faden. Alle wurden zum Aufenthalt in Rivesaltes gezwungen, von dem Land, das sie aufgenommen hatte."
"Und ich wundere mich jeden Tag drüber, warum das alles wieder aufgetaucht und wieder hochgekommen ist."
Paul Niedermann, geboren in Karlsruhe, ist einer der letzten Überlebenden des Camps von Rivesaltes.
"Die zuständigen Schweinehunde, das war die Vichy-Regierung ..."
... sagt der heute fast 88 Jahre alte Niedermann in seinem Wohnort östlich von Paris.
2400 Menschen wurden in den Tod geschickt
Niedermann wurde im März 1941 mit seiner Familie in die Baracken gezwungen. Etwa 2400 Menschen wurden von hier aus in den Tod geschickt. Auch Niedermanns Eltern starben in den Vernichtungslagern der Nazis.
Von November '42 bis zur Befreiung Frankreichs 1944 ist Rivesaltes wieder Militärcamp, danach werden zunächst Vichy-Kollaborateure und ab 1945 deutsche und österreichische Kriegsgefangene in Rivesaltes untergebracht.
Nach 1962 schickt die Französische Republik mehr als 20.000 "Harki" und ihre Familien auf das Gelände. Die algerischen Muslime, die an der Seite Frankreichs gekämpft hatten und die nach der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich ins Mutterland hatten fliehen müssen. Sie lebten in Rivesaltes sozial isoliert, abseits der französischen Gesellschaft. Manche bis in die 70er-Jahre.
"Dort war nur eine Tür, man muss sich vorstellen, bis zu 80, manchmal 100 Menschen waren hier untergebracht, keine Fenster, Stroh, vielleicht Tücher vor den Öffnungen."
Die Überreste der Barracken von einst flankieren heute die Erinnerungsstätte, die sich tief in den kargen Boden am Fuße der Pyrenäen duckt.
"Hier sehen Sie das Hauptgebäude der Erinnerungsstätte. Die Konstruktion des Architekten Rudy Ricciotti. Ein sehr langes Gebäude. Gut 220 Meter lang, 20 Meter breit, vier Meter hoch."
Aber an keiner Stelle höher als die Baracken, die an das Elend der hier Internierten erinnern sollen: Spanische Flüchtlinge, Juden, Kriegsgefangene, Harki, Männer, Frauen, Kinder, Alte.
Architekt Ricciotti sagte in einem Gespräch mit der Zeitung "Le Monde", er habe mit seinem Bau die versteckte Gewalt des Ortes zeigen wollen, den Diensteifer, mit dem die französischen Behörden in Rivesaltes ans Werk gegangen seien und er hoffe, dass die Erinnerungsstätte nun nachhole, was den Franzosen lange verwehrt geblieben sei: die Begegnung und die Auseinandersetzung mit diesem Teil ihrer Geschichte.