Interpol: "The Other Side of Make Believe"

Verletzlicher und hoffnungsvoller denn je

05:49 Minuten
Der Interpol-Gitarrist Daniel Kessler spielt auf der Bühne Gitarre. Er trägt ein schwarzes Hemd und eine Sonnenbrille.
Interpol-Gitarrist Daniel Kessler live auf der Bühne. Wenn er komponiert, greift er gerne zu Filmen als Inspirationsquelle. © Getty Images / Redferns / Jana Legler
Von Marc Mühlenbrock |
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Die Band Interpol prägte den Sound der Nullerjahre - mit ihren atmosphärischen Stücken bildeten sie den Gegenpol zum Rock-Revival. Jetzt erscheint das neue Album und zeigt die Band melancholischer als je zuvor. Gitarrist Daniel Kessler erklärt, warum.
„Something Changed“, so lautet der Titel eines neuen Stücks von Interpol. Und irgendetwas hat sich verändert bei dieser düsteren Band, die vor ziemlich genau 20 Jahren mit ihrem Debut „Turn On the Bright Lights“ den Soundtrack für dunkle Nächte in Großstädten geliefert hat, mit Stakkato-Gitarrenanschlägen, tiefen Bässen und Grabesstimme. Mit diesen Stilelementen assoziieren Indie-Fans der Nullerjahre die Band heute noch.
Auf „The Other Side of Make-Believe“ erklingen andere Töne, das Piano gibt den Takt an. Und die Stimme von Sänger Paul Banks wirkt sanfter. Sein Bandkollege an der Gitarre, Daniel Kessler, erklärt, warum.
„Paul hat unter anderen Bedingungen gesungen. Wir waren wegen der Pandemie nicht alle zusammen in einem Proberaum, wo Paul sich mit seiner Stimme immer gegen die Drums durchsetzen muss. Er hat seine Gesangsmelodien diesmal in seinem Schlafzimmer geschrieben, mit Kopfhörern auf. Sie wirken daher etwas leiser, aber haben dieselbe emotionale Kraft. Das ist einfach ein anderer Ansatz, den er für die Aufnahmen beibehalten hat.“

Undurchsichtig, voll von Anspielungen

Die Aufnahmen fanden nach Ende des Lockdowns in London statt, mit den renommierten New-Wave-Produzenten Flood und Alan Moulder, bekannt geworden durch ihre Arbeiten mit Größen wie U2 oder Depeche Mode. „Toni“ war die erste Single des Albums.
Der Song hat einen für Paul Banks geradezu typischen Text: undurchsichtig und voll von Anspielungen. „Toni“ ist ein Charakter, bei dem Banks offen lässt, ob er sich selbst in ihm sieht oder ihm nur begegnet ist – oder ob „Toni“ nur ein verkürztes Anagramm des Bandnamens ist. Ein Kunstgriff, den der Songtexter immer wieder anwendet.

Beim Komponieren läuft ein Film

Den Song begleitet ein Video, das, in Anlehnung ebenfalls an den Bandnamen, Retro-Stilelemente von Kriminalfilmen aus den 70er-Jahren zitiert. Nicht unwichtig für Daniel Kessler, den das Kino zu der Komposition seiner Songs inspiriert.

Wenn ich komponiere, lasse ich dazu immer einen Film laufen. Ich setze mich morgens auf meine Couch, trinke Kaffee und schaue einen Film. Ich brauche einfach diese visuelle und emotionale Stimulation, um Musik zu schreiben. Und mein Gehirn braucht diese Ablenkung, um an einen unterbewussten Ort zu gelangen. Ich verstehe diesen Prozess selber nicht so genau, aber das funktioniert für mich, seit ich ein Teenager war. Und wenn mir dabei eine neue Melodie einfällt, dann ist das das beste Gefühl aller Zeiten, wie die allerbeste Droge.

Gitarrist Daniel Kessler

Daniel Kessler benennt auch seine instrumentalen Demos nach Filmen. Diese Arbeitstitel werden meistens durch Paul Banks ausgetauscht, sobald der bestimmt hat, worum es in dem Song geht.
Manchmal aber auch nicht. „Passenger“ ist benannt nach einem Streifen des Autorenfilmers Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1975. Interpols Song fängt die melancholische Stimmung des poetischen Thrillers in der kargen Wüste Nordafrikas gut ein.   

Die Gefühlswelt einer ganzen Generation

Die erste Zeile dieses zentralen Songs beinhaltet den Albumtitel: „The Other Side of Make-Believe“. Übersetzt bedeutet das: die andere Seite der Illusion. Ein verwirrender Titel. Ist damit unsere Realität gemeint oder doch nur eine weitere Illusion? Für Daniel Kessler handelt es sich dabei vor allem um eine Anspielung auf das heutige politische Klima: 
„Für mich unterstreicht der Albumtitel ein Merkmal unserer Zeit. Wir leben in sehr merkwürdigen, polarisierenden Zeiten, wo Du Dir alternative Fakten zur Realität hinzuerfinden kannst. Egal, woran Du glaubst, da draußen gibt es etwas, das Dein Gedankenkonstrukt unterstützt. Du kannst die Fakten finden, die Du gerne haben möchtest, sodass es scheint, als wärst Du im Recht. Mit der Wahrheit hat das nicht unbedingt etwas zu tun.”
Die Wahrheit wird man auch in den undurchsichtigen Texten von Interpol nicht finden. Sie sind keine politische Band, sie spiegeln vielmehr die Gefühlswelt einer ganzen Generation wider. Auf ihrem neuen Album verletzlicher und hoffnungsvoller als jemals zuvor.

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