Schulfach Toleranz
Auch im Klassenzimmer treffen unterschiedliche Konfessionen aufeinander - ein idealer Ort, um schon früh einen Dialog zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen zu beginnen. Unsere Reporterin hat sich umgesehen, was Schule tut, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.
Das Helmut-Schmidt-Gymnasium in Hamburg-Wilhelmsburg. Ein Stadtteil geprägt von Hochaussiedlungen, Armut, Einwanderung. Ein sozialer Brennpunkt. Die Religionsgruppe der 9. Klasse besteht vorwiegend aus muslimischen Kindern. Der Religionslehrer Andreas Gloy hat an diesem Freitagmorgen ein besonderes Mitbringsel dabei: Eine übergroße Playmobilfigur - Martin Luther.
In der Hand hält der Spielfigurenluther eine Bibel, aufgeschlagen zwischen Altem und Neuem Testament. Dazwischen das Wort "Ende". Über die Spielfigur hatte es jüngst Diskussionen zwischen Vertretern der jüdischen Gemeinde und der Kirche gegeben. Auch die Neuntklässler diskutieren nun, ob durch das erklärte "Ende" der Hebräischen Bibel eine antijüdische Haltung zum Ausdruck kommt und das Judentum diskriminiert wird.
Bibel und Koran
Schnell ist man beim Verhältnis zwischen den drei monotheistischen Religionen und ihren Schriften angelangt: Thora, Bibel, Koran. Welche hat Recht?
"Es steht ja im Koran, dass die Bibel nicht im selben Zustand ist, in dem sie herab gesandt wurde", erklärt ein Schüler. "Und damit sie im selben Zustand ist, wie es Gott herab gesandt hat, hat Gott den Koran herab gesandt."
Andreas Gloy moderiert, stellt Fragen, weist auf Zusammenhänge und Widersprüche hin. In ihren Ansichten aber lässt er die Schüler frei argumentieren. "Warum ist es nicht der Originalzustand", fragt er den Schüler. Die Antwort: "Ich glaube, dass die Bibel verändert wurde. Und deshalb der Koran herab gesandt wurde."
"Um das zu korrigieren?", hakt Gloy nach. "Nein, der wurde halt nicht verändert", lautet die Antwort.
"Okay, muss ich mir als Christ jetzt Angst machen", fragt Gloy weiter. "Weil einige haben gesagt, hier im Koran steht, in der Bibel sind Fehler drin. Muss ich mich jetzt schlecht fühlen oder das akzeptieren?"
Die Schüler beginnen zu diskutieren, murmeln. "Sie haben ja ihre eigene Religion."
Die evangelische Kirche gestaltet den Religionsunterricht
Andreas Gloy ist selbst bekennender Protestant. Dass er hier im Namen der Kirche den Religionsunterricht für die vorwiegend muslimischen Schüler gestaltet, hat in Hamburg Tradition.
"In Hamburg ist das immer so gewesen, dass die evangelische Kirche den Religionsunterricht für alle gestaltet", erklärt er. "Nun muss man dazu sagen, dass hier schon frühzeitig die anderen Religionsgemeinschaften mit ins Spiel gebracht worden sind. In der Rahmenplanung, Materialerstellung, dem Besuch von religiösen Orten als Fachleute zur Verfügung gestellt worden sind und so weiter. Natürlich hat es noch keine Lehrkräfte gegeben, die einer anderen Religionen angehören als das evangelische Christentum und das ist etwas, woran wir arbeiten, um Gerechtigkeit, Gleichheit und Vielfalt der Perspektiven hinzukriegen."
Das Neutralitätsgebot ist ausgesetzt
Derzeit werden von der zur Uni Hamburg gehörenden Akademie der Weltreligionen auch Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften zu Lehrern ausgebildet. Dass diese selbst der jeweiligen Religion angehören, ist Voraussetzung, nicht nur in Hamburg: Denn Religionsunterricht ist in Deutschland immer Bekenntnisunterricht und als solcher im Grundgesetz verankert. Er ist also weltanschaulich gerade nicht neutral. Zwar existiert auch hier das Überwältigungsverbot: Lehrer dürfen Schülern keine Meinung aufzwingen. Doch gilt für den Religionsunterricht - anders als etwa für den Politikunterricht - nicht das Neutralitätsgebot.
Der religiöse Bekenntnisunterricht ist eine deutsche Spezialität und spiegelt das enge Verhältnis zwischen Staat und Kirchen wider. Was aber heißt in diesem Zusammenhang Bekenntnis? Und was religiöse Bildung? Religionslehrer Andreas Gloy dazu:
"Spannend wird es, wenn ich mich selber als meine Person in meinem Bekenntnis, was ja auch ein Prozess ist und kein Produkt, einbringe und als Gesprächspartner zur Verfügung stelle und mich daran mit Schülerinnen und Schülern auseinandersetze. (...) Und das hat weniger was mit Vermittlung von dem, wie etwas in Glaubensdingen richtig sei, zu tun, sondern durch kluge Methodik versuche ich Aneignungsprozesse der religiösen Bildung zu initiieren, deren Ergebnisse ich nicht vorher schon weiß."
Versöhnung von Demokratie und Religion
Wie aber wären die Reaktionen, wenn unter denselben Vorzeichen Islamlehrer den Unterricht für christliche oder atheistische Schüler gestalteten? Dass die protestantische Kirche den Unterricht für Schüler aller Konfessionen, auch für die religionslosen, verantwortet, ist allein in Hamburg der Fall. Doch nicht nur hier setzen Kirchenvertreter darauf, den interreligiösen Dialog im Klassenzimmer mitzugestalten, im Rahmen des Bekenntnisunterrichts. Sylvia Löhrmann, die Bildungsministerin Nordrhein-Westfalens, dazu auf einer Tagung der evangelischen Kirche:
"Manchmal denke ich darüber nach, ob wir nicht schon vor 20,30 Jahren Religionsunterricht in allen Religionen hätten anbieten sollen und ob wir dadurch mancher Radikalisierung hätten vorbeugen können. (...) Wir stehen heute vor der Aufgabe der großen Versöhnung von Demokratie und Religion, eine der großen Errungenschaften der Aufklärung."
Machtvolle Gesprächsposition
Doch wie kann ein Bekenntnisunterricht, in dem Schüler nach Glaubenszugehörigkeit getrennt unterrichtet werden, Dialog zwischen den Gruppen ermöglichen? Wäre es nicht besser, den Bekenntnisunterricht ganz durch einen weltanschaulich neutralen Religionskundeunterricht zu ersetzen, um reines Wissen zu vermitteln, jenseits der persönlichen Bekenntnisse? Braucht es neue interkulturelle Ansätze und Projekte, um Dialog in Schulen möglich zu machen? Der Bildungswissenschaftler Thomas Geier von der Universität Halle sieht solche Projekte kritisch:
"Interreligiosität genauso wie Interkulturalität als Programm finde ich problematisch, denn eigentlich verbindet sich dahinter, dass man aus einer machtvollen Position mit den Anderen ins Gespräch kommt. Aber die Machtposition ist dadurch nicht aufgelöst, sondern man tut so, als könnte man symmetrisch ins Gespräch kommen."
Mit Protestanten und Muslimen etwa kämen keine gesellschaftlich gleichgestellten Gruppen ins Gespräch, sondern eine wohl etablierte Mehrheit mit Vertretern einer Minderheit. Zudem zementierten viele interreligiöse und interkulturelle Projekte bestehende Klischees, so Thomas Geier, weil man immer davon ausgehe, "dass es distinkte, sich nicht überlappende Kulturen gibt. (...) Und dann wird ein klischeeisierter Kulturbegriff genutzt. Der zeitigt aber seine Effekte. Dann wissen nämlich genau die Anderen, wo sie hingehören. An ihre Plätze nämlich."
Kategorie: Migrationshintergrund
Statt kulturelle und soziale Zuschreibungen zu hinterfragen, bediene Schule diese allzu oft und verfestige somit Vorurteile, so Thomas Geier. Dies geschehe auch deshalb, weil Lehrer ihre Schülerschaft nach Leistung professionell selektieren müssten. Dabei bedienten sie sich verschiedener Kategorien - eine davon: der so genannte Migrationshintergrund.
"Ich glaube, dass wir in Bezug auf Migrationshintergrund und diese Kategorien (...) umdenken müssen. Das Ganze ist ja entstanden, weil man gesehen hat: Es gibt eine bestimmte Schülerinnenklientel, mit der man auch auf eine bestimmte Art und Weise umgehen muss. Die Kategorie ist gefährlich. Nämlich die Kategorie wird heute eher benutzt, um etwas zu erklären, also um zu sagen: Aha, jemand kann gar nicht gut sein in der Schule, weil er einen Migrationshintergrund hat. Und das ist natürlich eine bestimmte Rezeption der Bildungsstatistik, die die Bildungsstatistik gar nicht hergibt. Sondern die Bildungsstatistik gibt nur eine Korrelation her."
Damit legitimiere Schule bestehende Ungleichheiten..
"Wenn man das so aufzieht, dann sprechen wir im Grunde über Schule und Rassismus. Und da spielt natürlich Religion eine Rolle. Gerade Religion. Als Konstruktion der Anderen schlechthin. Und diese Otheringprozesse, die wir ja sehr gut aus der postkolonialen Theorie her kennen, die spielen in der Schule auch eine Riesenrolle."
Konstruktion des Anderen
Konstrukte des Anderen. "Otheringprozesse" nennt Thomas Geier das. Der Begriff stammt aus der feministischen Theorie und der Rassismusforschung. Er bezeichnet einen Prozess, indem der vermeintlich Andere und im Gegenentwurf dazu das eigene Selbst konstruiert werden. Der Blick auf "die Anderen" bedient sich dabei Zuschreibungen und wirft die eigene Perspektive nicht in die Waagschale. Ein Machtgefälle ist Voraussetzung für diesen Otheringprozess, die unterlegene Position der vermeintlich Anderen wird damit verfestigt.
Doch wer sind diese "Anderen"? Und wer ist das "Wir"? Allein schon in Bezug auf Religion ist eine Antwort schwierig. Wie definieren "wir" "uns"? Als christlich? Als säkular? Gehört auch der Islam zu diesem "Wir"?
Lebensmodell Patchworkreligiosität
Der Statistik zufolge zählen insgesamt 56 Prozent der deutschen Bevölkerung zu einer der beiden Landeskirchen, die weitaus meisten davon in Westdeutschland. 36 Prozent der Menschen sind konfessionsfrei, davon der Großteil in Ostdeutschland. Für 68 Prozent der Ostdeutschen ist Religion kaum bis gar nicht wichtig, so der Religionsmonitor der Bertelsmannstiftung, der Aufschluss über religiöse Einstellungen und deren politische Dimensionen zu geben versucht. Gerade mal fünf ein halb Prozent der Deutschen sind Muslime, sonstigen Religionsgemeinschaften gehören 3,6 Prozent an.
Die Bertelsmannstiftung stellt auch fest: Immer mehr Menschen leben eine so genannte Patchworkreligiosität. Sie machen ganz individuell Anleihen bei verschiedenen Religionen. Glaubensvorstellungen sind vielfältiger und überschneiden sich in der Praxis häufig mehr als es die reine Konfessionszugehörigkeit vermuten lässt.
Gleichbehandlung der Weltanschauungen
Wie soll der zunehmenden religiösen Vielfalt in der Gesellschaft angemessen begegnet werden? Diese Frage hat drei Jahre lang eine Religionskommission der Grünen beschäftigt, initiiert von der Bundestagsabgeordneten Bettina Jarasch:
"Ziel des ganzen Prozesses war es, zum einen konkrete Maßnahmen, wo nötig Gesetzesänderungen, vorzuschlagen - vor allem aber eine Grundlage für den Umgang zwischen Religionen, Weltanschauungen und Staat zu schaffen. Unser gesellschaftspolitisches Ziel ist eine plurale Gesellschaft in der Vielfalt tatsächlich gelebt werden kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Grundrechte umfassend geachtet werden und es keine Diskriminierung gibt. Und das alles im Blick auf Religionen interpretiert bedeutet eben auch, dass wir Gleichbehandlung zwischen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ermöglichen wollen. Da geht's viel um Statusfragen. (...) und dann geht's in manchen Punkten auch tatsächlich um ne stärkere Trennung."
Das deutsche Verfassungsrecht garantiert zwar die Religionsfreiheit, sieht aber keine klare, laizistische Trennung zwischen Staat und Religion vor. Bislang sind Kirche und Staat eng verflochten. Das Verhältnis ist historisch gewachsen und nicht vergleichbar mit dem zwischen Staat und anderen, nicht-christlichen Glaubensgemeinschaften, die nicht nach kirchlichen Strukturen organisiert sind.
Voraussetzungen für Bekenntnisunterricht
Um als Religionsgemeinschaft in Deutschland anerkannt zu werden, müssen bestimmte Kriterien erfüllt werden: Unter anderem muss die Gemeinde über eine bestimmte Mitgliederzahl verfügen und seit mindestens 30 Jahren in Deutschland präsent sein. Nur anerkannten Religionsgemeinschaften steht zu, an deutschen Schulen religiösen Bekenntnisunterricht zu erteilen. Bettina Jarasch dazu:
"Es gibt ja eine Debatte darüber, ob man für den Islam andere Wege gehen muss. Das wird ja auch in vielen Bundesländern getan. Zum Beispiel gibt es Beiräte, die dann islamischen Religionsunterricht gewährleisten sollen. Grundsätzlich denken wir, dass das Religionsverfassungsrecht so weit gefasst ist, dass diese Voraussetzungen zu erfüllen sind."
Muslime fordern gesellschaftliche Teilhabe
Bislang gibt es den flächendeckenden Islam-Unterricht an deutschen Schulen noch nicht. Erste Ausbildungslehrgänge für islamische Theologie wurden an verschiedenen deutschen Hochschulen geschaffen. Von hier sollen zukünftig Fachleute auch an Schulen und Moscheen entsandt werden. Für den Psychologen Haci-Halil Uslucan, Professor für Türkeistudien an der Uni Duisburg-Essen, ist diese Entwicklung Teil einer längst fälligen Forderung:
"Diese Forderung nach Teilhabe ist letztlich auch ein Ausdruck des Selbstbewusstseins der Muslime. Und zwar, dass sie dazu gehören. Dass sie jetzt Rechte einfordern, wie beispielsweise nach einem Religionsunterricht, wie nach Seelsorge, wie nach Wohlfahrt und so weiter. Weil sie sagen, wir sind Teil dieser Gesellschaft. Meines Vaters Generation hätte sich vor 20,30 Jahren nicht träumen lassen zu sagen: Wir fordern einen Religionsunterricht. Sie haben sich als Gastarbeiter verstanden, als Bürger zweiter Klasse verstanden. Sie waren zufrieden damit, was der Staat ihnen gewährt hat und haben nicht gewagt, mehr zu fordern."
Der Einfluss der türkischen Regierung
Bislang wird der islamische Unterricht an Schulen von unterschiedlichen Gemeinden verantwortet, in Berlin ist dies die Milli Görus nahe stehende Islamische Föderation. In den meisten Bundesländern aber kooperieren die Landesregierungen mit der größten muslimischen Gemeinde hierzulande: mit Ditib. Dass diese weisungsgebunden am türkischen Religionsministerium hängt, wird zunehmend als Problem erkannt: Wie viel Einfluss hat der türkische Staat über Ditib an deutschen Schulen? Wie verfassungskonform ist das, was dort im Bekenntnisunterricht vermittelt wird? Wirkt der Religionsunterricht Integration möglicherweise sogar entgegen? Uslucan dazu:
"Wir haben in unseren Daten zeigen können, dass die Integration die stärkste Orientierung ist. Das widerlegt Befürchtungen, islamischer Religionsunterricht könne zur Separation führen, das ist es nicht. Aber hohe Erwartungen zu haben, allein mit einem zweistündigen Unterricht können alle Integrationsprobleme gelöst werden auch langfristig, da müssen wir an viel anderen gravierenderen Stellschrauben drehen."
Nordrhein-Westfalen kündigte nach jüngsten Spionagevorwürfen seine Zusammenarbeit mit Ditib auf, die Schulbehörde Hessens gab im Februar ein zweites Gutachten in Auftrag, um zu prüfen, ob der Landesverband von Ditib unabhängig genug von der Türkei agiert, um weiter an hessischen Schulen unterrichten zu können. Migrationsforscher Haci-Halil Uslucan warnt davor, die Erwartungen an den Islam-Unterricht zu überhöhen. Dieser habe nicht vorrangig die Aufgabe, Integration zu fördern, sondern religiöse Mündigkeit. Muslimische Kinder seien ohnehin ständig in einer Doppelrolle zwischen Elternhaus und Schule:
"Auf dem Schulhof sind sie 'Die Türken' oder 'Die Muslime', versuchen sich dann zu wehren, zu verteidigen, zu explizieren für gesamte weltpolitischen Geschehnisse, die dem Islam zugeschrieben werden. Also Islamischer Staat, Gewalt. Wo sie dann in der Schule in die Situation kommen: Äußere dich, positioniere dich. Aber ein Grundschüler kann sich da nicht positionieren, hat da auch kein Wissen, das ist etwas, das ihn auch überfordert. Auch da hat die Schule eine Aufgabe, letztendlich zur Entzerrung zu sorgen."
Radikalisierung vorbeugen
Entzerren soll Schule. Einerseits. Und gleichzeitig Radikalisierung begegnen. An der Hamburger Stadtteilschule Öjendorf versucht man genau das. Die Schule - früher hätte man von einer Gesamtschule gesprochen - liegt in Billstedt, einem Brennpunktgebiet. Hier haben die evangelische Religionspädagogin Stefanie Böhmann und der Islamwissenschaftler Philip al-Khazan gemeinsam ein besonderes Projekt aufgebaut.
"Bei der Thematik mit der religiös begründeten und gewaltbereiten Radikalisierung ist es so, dass die Lehrer auch überfordert sind mit diesem Thema und nicht wissen, wie sie das thematisieren können im Unterricht, wie sie das aufgreifen können", sagt Philip alKhazan. "Obwohl eigentlich schon längst die Schüler mit den Propagandamaterialien sich beschäftigen. Ich hab mit einigen Schülern schon gesprochen, die auch erzählt haben, dass sie Hinrichtungsvideos sich angeschaut haben, auch IS-Videos sich angeschaut haben. Wir müssen das thematisieren."
Philip al-Khazan ist kein regulärer Lehrer sondern als zusätzliche Kraft in der Schule angestellt. Außerdem arbeitet er bei der Hamburger Deradikalisierungsstelle Legato. Mit seiner Kollegin setzt er auf Dialog und Aufklärung. In Eigenregie haben die beiden einen gemeinsamen Religionsunterricht entwickelt. al-Khazan dazu:
"Das fing mit einer Schülerin an, die ein Kopftuch getragen hat, und die dann 'ne andere muslimische Schülerin ohne Kopftuch dazu bringen wollte, auch ein Kopftuch zu tragen. So begann die Arbeit. Die Idee war dann, dass wir nicht die Schülerin rauspicken, sondern dass wir den Religionsunterricht nutzen, um sie aufzuklären. Da haben wir dann den Religionsunterricht so gestaltet, dass wir Islam und Christentum parallel unterrichtet haben."
Gelebte Liberalität und offene Gespräche
Ihre Schüler haben ganz unterschiedliche kulturelle Wurzeln. Nicht allein der Islam, auch das Christentum könne hier manchmal ein Problem darstellen, sagen die Lehrer - und nicht allein die Religion befördere Radikalisierung.
"Die Tradition macht ganz viel aus. Dass sie ihren eigenen Glauben entwickelt haben, das ist bei den wenigsten", sagt Stefanie Böhmann.
"Die Eltern bestimmen schon sehr viel, wie die Religion ausgelebt und ausgelegt wird", antwortet al-Khazan. Aber auch wenn es zuhause nicht passiert, geht es auch darum, dass Schüler sich außerhalb ihres Elternhauses religiöse Ideen holen. Sich extrem nachher in eine Religion entwickeln.
Dass die überzeugte Protestantin und der gläubige Muslim ihren eigenen Kindern völlige Religionsfreiheit zugestehen, habe die Schüler beeindruckt. Es sei entscheidend, dass sie mit ihren eigenen Ansichten und Überzeugungen präsent seien, sagen sie. Beide zeigten sich den Schülern authentisch in ihrer liberalen und offenen Religiosität.
"Was ich auch toll finde, dass die Schüler überrascht waren, wenn ich sagte, dass ich auch in die Kirche gehe. Ich als Muslim", sagt alKhazan. "Das zeigt ja auch eine Wertschätzung für die Religion meiner Kollegen. Meine Kollegin hat auch ein Interesse für den Islam gezeigt. Und da kam eine Schülerin zu mir nachher und sagte: Ich wusste gar nicht, dass Frau Böhmann so viel Interesse für den Islam hat. Eine muslimische Schülerin fühlte sich respektiert aufgrund dessen, dass sie den Respekt gesehen hat, im Unterricht."
Entscheidend dafür sei die Beziehungsarbeit, sagt seine Kollegin. Um mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und sie in ihren Lebenswelten abzuholen, haben sie neben dem Unterricht einen Ort für Austausch geschaffen. In den Pausen trifft sich, wer will, im Begegnungsraum "Oase". Immer in Anwesenheit beider Lehrer. Dort können die Schüler miteinander über sehr verschiedene Dinge reden - etwa über Philosophie, wie ein Schüler erklärt. Aber auch über aktuelle Themen wie ISIS, ergänzt eine Schülerin. Auf dem Sofa unterhält sich unterdessen Stefanie Böhmann mit dem 16-jährigen Sahel - es geht um die Themen Blutrache und Ehrenmorde, die immer wieder auftauchen, wenn auf die Dringlichkeit verwiesen wird, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Alternative: Ethikunterricht
In Berlin hatte die damalige Koalition um Klaus Wowereit 2005 unter dem Eindruck des so genannten Ehrenmordes an der kurdischstämmigen Berlinerin Hatun Sürücü das Fach Ethik ab der 7. Klasse eingeführt. Weltanschaulich neutral, unter Anleitung eines fachkundlichen Lehrers, sollten hier alle mit allen über Werte verhandeln.
Das bekenntnisneutrale Fach gibt es in anderen Bundesländern schon lange, "Praktische Philosophie" heißt es beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, "Werte und Normen" in Niedersachsen. In Brandenburg trägt das Fach den umständlichen Namen "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde", kurz: LER, und wurde 1996 eingeführt. Hier soll auch Wissen aus allen Religionen vermittelt werden, bekenntnisneutral. Die Schüler wählen das Fach aus unterschiedlichen Gründen. Etwa, weil sie keiner Religion angehören. Und sie schätzen die Offenheit des Fachs und die thematische Vielfalt.
Das Bertha-von-Suttner-Gymnasium in Potsdam. Eine überschaubare Schule gelegen inmitten eines Wohnviertels. Ein bürgerliches Schülerklientel, nur sehr wenige hier haben einen so genannten Migrationshintergrund.
Die LER-Gruppe der achten Klasse hat sich in den vergangenen Wochen mit Vorbildern auseinandergesetzt. Neben Martin Luther King standen Persönlichkeiten wie Gandhi, die somalische Aktivistin Warris Dirie oder der Dalai Lama zur Auswahl. Die Schüler haben sich nicht nur mit ihnen, ihren Lebenswelten und Themen beschäftigt, sondern sollen nun auch einen ganz eigenen Bezug herstellen. Gerade diese persönliche Reflexion sei wichtiger Bestandteil des LER-Unterrichts sagt Janet Bohm, Lehrerin am Bertha-von-Suttner-Gymnasium: "Wir gehen von der eigenen Lebenswelt der Schüler aus und entwickeln Themen, Projekte, um dann die anderen Bereiche mit hineinzubringen."
Trialog der monotheistischen Religionen
Dass Religionen in Schulen ganz unterschiedlich vertreten sind, hat der Theologe Roland Löffler über viele Jahre beobachtet. Seit Ende der 90er Jahre hat er für die Herbert Quandt Stiftung einen Trialog der Kulturen mitgestaltet und fünf Jahre lang geleitet. In Fokus des Trialogs: Das Verhältnis der drei monotheistischen Religionen.
Über Schulwettbewerbe erreichte der Trialog auch die Klassenzimmer. Schulen setzten eigene interreligiöse Projekte um und bewarben sich damit bei der Stiftung. Knapp 300 Lehranstalten kamen somit im Laufe der Jahre mit dem Trialog in Berührung. Von Grundschulen, Sekundarschulen und Gymnasien bis hin zu Berufsschulen. Löffler dazu:
"Mein Lieblingsbeispiel ist eine Berufsschule für Ernährung in Berlin, die hat sich überlegt, was brauchen zukünftige Kellner, Köche, Ernährungstechniker, wenn sie in Hotels, Restaurants, sonst wo arbeiten, was müssen die wissen über Religionen, über Speisevorschriften, über den Umgang im Hotel, im Service und so haben die erst einmal Lehrerfortbildungen gemacht, sich selbst kundig gemacht: Ein jüdisches Restaurant, eine Halal-Schlachterei besucht, dann daraus ihre Schlüsse gezogen, Curricula aufgebaut und dann mit den Schülern gearbeitet. Und das war super."
Zum Teil liefen Projekte über mehrere Jahre, wie die an einer Sekundarschule in Berlin-Neukölln, die Kontakte zwischen muslimischen und jüdischen Jugendlichen herstellte - ein langwieriger Prozess. Vielerorts flossen Ereignisse aus dem unmittelbaren Umfeld der Schulen mit ein. Vergangenes Jahr hat die Herbert-Quandt-Stiftung ihr Trialog-Projekt aufgelöst.
"Wir hatten im Saarland eine Schule, die mit einer hohen Betroffenheit ans Werk ging, weil einer ihrer Schüler zu den Sauerlandterroristen gehörte und der Geschichtslehrer sich fragte: Was hab ich falsch gemacht? Wir hatten aus Frankfurt, aus Wiesbaden Schulen in Brennpunkten, wo die Lehrer merkten: Wir müssen was tun, weil uns sonst die Schüler geistig abhanden kommen - von marokkanischen Erweckungspredigern bis hin zu sozialen Verwerfungen. Wir haben uns mit Themen beschäftigt wie Moscheebaukonflikten, die auch auf die Schulen übergegriffen haben, aber auch mit christlichem Fundamentalismus."
Wenn der Dialog zum Konflikt führt
Religionen und der interreligiöse Dialog seien nicht harmlos, sagt Roland Löffler. Steige man nach einem ersten Kontakt tatsächlich in einen Austausch ein, führe dies häufig zu Konflikten - an denen der Dialog enden oder wachsen könne.
Aber auch die Bildungsvoraussetzungen der am Dialog teilnehmenden Lehrer seien entscheidend für Erfolg oder Misserfolg solcher Projekte. Und diese Unterschiede seien gerade bei denjenigen besonders groß, die in der Regel das interreligiöse Geschehen in der Schule gestalten: Den Religions- und Weltanschauungslehrer.
"Da brauchen wir eine breite Bildungsoffensive. Es ist gut, dass es jetzt islamisch-theologische Lehrstühle gibt, eine neue Generation heranwächst. Ich würde mir aber auch wünschen, dass die Beamten in den Kultusbehörden, in den Innenministerien, in den Auslandsbehörden auch interkulturell, interreligiös beschult werden. Das ist nicht allein eine Sache der Schulen, sondern das brauchen wir in der Gesellschaft insgesamt. Wenn wir da religiöse Analphabeten haben, dann kommen wir nicht weiter. Sonst entsteht kein Dialog sondern ein Sprachwirrwarr."