Der lange Schatten der Tradition
Das Heilige Jahr der Barmherzigkeit endet in diesen Tagen. Der Theologe Markus Striet attestiert der katholischen Kirche einen fast schon inflationären Umgang mit diesem Begriff. Vor allem aber kritisiert er ihre "Selbstfesselung" und die Weigerung, konsequent zu denken und zu handeln.
Anne Françoise Weber: Am heutigen Sonntag geht das Heilige Jahr der Barmherzigkeit zu Ende, das Papst Franziskus am 8. Dezember 2015 ausgerufen hatte. Nach den Heiligen Pforten weltweit wurde heute Vormittag auch die im Petersdom geschlossen. Die römischen Hotelbetreiber sind enttäuscht, denn die Touristen- und Pilgerzahlen liegen für 2016 womöglich sogar noch unter denen des Vorjahres. Auch für die römische Tageszeitung "Il Messaggero" war das Heilige Jahr ein "Flop". Dagegen kann man natürlich einwenden, dass die Sache nicht als PR-Aktion für die italienische Tourismusbranche gedacht war. Papst Franziskus hat ja auch dafür gesorgt, dass es in jeder Diözese eine Heilige Pforte gibt. Eine Wallfahrt nach Rom war also nicht zwingend nötig. Interessanter ist da doch die Frage nach dem Inhalt: Was bedeutet es, dass in der katholischen Kirche nun ein Jahr lang noch mehr über Barmherzigkeit nachgedacht und geredet wurde als sonst? Darüber habe ich vor der Sendung mit Magnus Striet gesprochen. Er ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg. Die Barmherzigkeit sei in den vergangenen zwölf Monaten zurückgekehrt und "wieder das pulsierende Herz des Lebens der Kirche geworden", hat Kurienerzbischof Rino Fisichella gesagt, der das Heilige Jahr im Vatikan organisiert hat. Herr Striet, teilen Sie diesen Eindruck?
Magnus Striet: Ja, es ist sicherlich so, dass mit dem Pontifikatswechsel von Benedikt XVI. hin zu Franziskus die Rede von der Barmherzigkeit eine ganz neue Bedeutung gewonnen hat. Selbstverständlich spielte vor allem, auch wenn die Frage im postsynodalen Schreiben zurückgedrängt worden ist, dann die Frage nach der möglichen Wiederzulassung, der wiederverheirateten Geschiedenen zu den Sakramenten eine entscheidende Rolle. Es ist sicherlich so, aber ich füge auch hinzu, die Rede von der Barmherzigkeit wird inzwischen so inflationär gebraucht, dass man gar nicht mehr so recht weiß, was unter ihr zu verstehen ist.
In Barmherzigkeit schwingt Kritik an den Menschen mit
Weber: Dann versuchen wir das doch noch mal rauszufinden. Ich habe da schon mal einen Begriff, mit dem man vielleicht ja auch operieren könnte, der jetzt im Zuge der Reformationsfeierlichkeiten immer wieder genannt wurde, auch von Bundespräsident Gauck: die Gnade. Ist denn Barmherzigkeit das gleiche wie Gnade oder gibt es da einen Unterschied?
Striet: Also Begriffe sind Begriffe. Der Begriff der Gnade ist natürlich ein sehr, sehr strenger theologischer Begriff, und in der langwierigen Übersetzung aus der Tradition Luthers heraus meint Gnade, dass der Mensch sein darf ohne jede Vorleistung. Luther selber hat die Rede von der Gnade noch ganz streng – oder auch die der Rechtfertigung –, ganz streng auf die Sünde bezogen, aber in der Rezeption der Gnadentheologie meint Gnade zunächst einmal sehr, sehr strikt: der Mensch darf sein ohne irgendetwas vorab vor Gott leisten zu müssen, während der Begriff der Barmherzigkeit in der katholischen Theologietradition doch sehr stark auf die Sünde konzentriert blieb und vor allem auch etwas Paternalistisches an sich hatte und hat, und das wiederum hängt damit zusammen, dass in der katholischen Theologie und Frömmigkeitstradition das Amt immer zwischen den Einzelnen und Gott geschaltet bleibt. Das Problem hat die Theologietradition aus den Kirchenreformationen nicht.
Weber: Das klingt ja durchaus ein bisschen kritisch, wenn Sie da einen paternalistischen Unterton in der Barmherzigkeit sehen. Ist das vielleicht gar nicht so ein toller Begriff für so ein Heiliges Jahr?
Striet: Man sieht an der Barmherzigkeitsrhetorik, wie ich das nenne, dass ein bestimmtes Grundprinzip neuzeitlich-modernen Denkens in der katholischen Theologietradition immer noch nicht gegriffen hat. Zur Moderne gehört es, dass Menschen selbstbestimmt in der Lebensführung agieren können und nicht einer objektiven Norm vorgeordnet sind, also diese Norm ihnen vorweggeschaltet wird, und auch im katholischen Bereich leben Menschen längst selbstbestimmt das, was sie, hoffentlich mit Gründen, für richtig halten, während im Begriff der Barmherzigkeit schwingt mit, dass sie etwas leben, was eigentlich so nicht sein sollte und so dürfte, aber man gesteht es ihnen zu. Das meine ich damit, wenn ich sage, da schwingt ein paternalistisches Element mit.
Weber: Das ist ja auch so ein bisschen der Grundtenor des von Ihnen schon erwähnten postsynodalen Schreibens "Amoris Laetitia". Da heißt es also, die Barmherzigkeit sei wichtig gerade gegenüber denen, die in komplexen Situationen leben, also wahrscheinlich sind da durchaus auch die wiederverheirateten Geschiedenen gemeint und noch viele andere. Da heißt es auch, niemand darf auf ewig verurteilt werden, aber es wäre doch eigentlich viel klarer, eben nicht zu sagen, diese Menschen sind möglicherweise zu verurteilen, aber nicht auf ewig, sondern zu sagen, ja, es gibt, wie Sie sagen, gute Gründe, auch eine Ehe zu scheiden und sich neu zu verheiraten, und es gäbe auch gute Gründe, diese Leute auch weiterhin zur Eucharistie zuzulassen.
Striet: "Amoris Laetitia" bedeutet einen Fortschritt in der katholischen Lehre, aber er reicht nicht hin. Was tatsächlich zugelassen wird, ist, dass es Lebenssituationen gibt, die nicht der katholischen Doktrin folgen, in der Terminologie von "Amoris Laetitia": "Sie sind komplex." Aber anstatt hier sozusagen mit Barmherzigkeit zu kommen, müsste man vielleicht einfach zugestehen, dass unter der Bedingung von modernen Lebensverhältnissen es Lebenssituationen gibt, die sich eben nicht so gestalten, dass Menschen in ihren Entwürfen scheitern können, etwas Neues beginnen und dass man hier ansetzend auch theologisch nachzudenken hätte. Der Durchbruch ist sicherlich noch nicht geschehen, aber das wiederum hängt mit der Selbstfesselung der Kirche zusammen, die in den letzten Jahrzehnten erfolgt ist: Man traut sich bis heute nicht so richtig an den großen Vordenker einer alten Theologie heranzugehen, nämlich an Johannes Paul II. Man probiert, eine Kontinuität herzustellen, die man de facto aber dauerhaft nicht hinbekommen wird. Ja, ich stimme Ihnen zu, man müsste neu denken, man müsste auch einmal fragen, ob eigentlich das Ideal von Lebenspartnerschaft, von Ehe, das immer als sakrosankt hingestellt wird, überhaupt über die Jahrhunderte ein Ideal war oder ob das nicht eine relativ moderne Erfindung im Bereich des Katholischen ist, und an der Stelle scheut man sich tatsächlich, konsequent zu denken.
"Der Papst müsste stärker zum Nachdenken auffordern"
Weber: Und auch dieser Papst, dem die Barmherzigkeit so wichtig ist, scheut sich da konsequent, neue Kategorien aufzutun.
Striet: Ja, da macht sich sicherlich auch bemerkbar, dass er aus einem nichteuropäischen, sondern aus einem lateinamerikanischen Kontext stammt, aber man merkt sehr deutlich, dass er nicht der ist, der tatsächlich mit neuen theologischen Kategorien zu arbeiten bereit ist. Die lange Tradition wirft ihre Schatten.
Weber: Schauen wir noch mal genauer auf das konkrete Handeln des Papstes: Er hat ja in diesem Jahr einiges getan, um auch noch mal sein Verständnis von Barmherzigkeit zu zeigen und, glaube ich, auch, um andere dazu aufzurufen, ihm da nachzufolgen. Er hat zum Beispiel vergangenes Wochenende rund 4.000 obdachlose Menschen aus ganz Europa zu einer Wallfahrt nach Rom eingeladen. Ist das einerseits natürlich eine tolle Geste für diese Menschen, die sich endlich mal angenommen fühlen, eingeladen fühlen, aber nicht doch letztlich ein schwaches Trostpflaster, was eben Barmherzigkeit statt Gerechtigkeit gibt?
Striet: Ja, er hat ja auch die Rede geprägt, er wünsche sich eine arme Kirche für die Armen. Ich halte diese Formulierung für schlecht, denn nur eine Kirche, die tatsächlich starke Strukturen ausbildet, kann wirksam werden. Das ist der erste Punkt, und der zweite Punkt: Ja, es bräuchte ein sozusagen starkes politisches Engagement, um Strukturen zu verändern, damit die Anzahl in diesem Fall von Obdachlosen tatsächlich reduziert wird, denn Obdachlose gibt es nicht einfach so, da gibt es unterschiedliche Gründe für, aber Obdachlose werden auch durch ungerechte wirtschaftliche Strukturen produziert, und an dieser Stelle müsste er viel stärker auffordern zu einem ruhigen Nachdenken und aber auch zu einem politischen Engagement der Kirchen weltweit.
Weber: Ein anderer Bereich, wo er ja vielleicht auch mit Barmherzigkeit operiert, ist der theologische, und da besonders die Kontroverse mit den erzkonservativen Piusbrüdern. Also er zeigt sich da ziemlich offen. Viele rechnen damit, dass es da einen Schritt hin zur Wiederaufnahme der exkommunizierten Bischöfe gibt. Sie selbst schreiben in einem Artikel in der "Zeit"-Beilage "Christ und Welt": Wenn das so kommen würde, wäre das ein Abgleiten in eine Barmherzigkeit, der alles egal ist. Sie finden also, Barmherzigkeit muss mindestens auf der theologischen Ebene ihre Grenzen haben?
Striet: Ja. Die Theologie hat sich zu streiten um das, was gelten soll, und die Piusbruderschaft hat sich bis heute nicht eindeutig zu den modernen Menschenrechtserklärungen verhalten, sie erkennt die Gewissens- und Religionsfreiheit nicht an, und meines Erachtens ist hier tatsächlich der Punkt erreicht, wo keine Barmherzigkeit mehr hinreicht, um die Hand zu reichen. Entweder diese Prinzipien werden anerkannt oder aber ich wäre strikt dafür, den Dissens zur Piusbruderschaft aufrecht zu erhalten. Mein Problem ist, dass der Papst, aber mit ihm auch … Ja, ich weiß nicht, ob die katholische Kirche, viele würden sich sofort distanzieren - dass man unglaubwürdig wird, wenn man tatsächlich eine Gruppierung offiziell zurückholt in die römisch-katholische Kirche, die an dieser Stelle bis heute massive Bedenken anmeldet.
Sexuellen Missbrauch in der Kirche rigoros offenlegen
Weber: Also sozusagen lieber Prinzipien als überbordende Barmherzigkeit in diesem Fall.
Striet: Ja. Das hat meines Erachtens nichts mit Barmherzigkeit zu tun, sondern um einen auszutragenden Streit, was soll gelten, und bestimmte Menschenrechte, die in mühsam geschichtlichen Prozessen ausgehandelt worden sind, dürfen nicht wieder zur Disposition gestellt werden.
Weber: Es gibt ja auch noch ein Gebiet, in dem sich die Kirche oder kirchliche Vertreter in den vergangenen Jahrzehnten viel zuschulden haben kommen lassen, nämlich im Umgang mit sexuellen Missbrauch. Darf man da überhaupt von Barmherzigkeit gegenüber den Tätern sprechen oder muss man da auch sagen, hier gibt es jetzt wirklich mal keine Barmherzigkeit, hier muss alles rigoros offengelegt und auch bestraft werden?
Striet: Also zunächst einmal ist hier tatsächlich alles rigoros offenzulegen, weil alles andere dazu führen würde, dass im Raum der Kirchen die Möglichkeit von sexueller Gewalt gegenüber Kindern und Minderjährigen begünstigt würde. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt: Hier jetzt vorschnell von Barmherzigkeit gegenüber den Tätern zu reden, wäre Zynismus gegenüber den Opfern von sexueller Gewalt. Die sind zunächst einmal in den Vordergrund zu rücken. Allerdings, wenn mich mein Eindruck nicht trügt, gibt es auch weiterhin ein Problem bezogen auf – es sind zumeist Männer – Männer, die pädophil veranlagt sind, haben wir tatsächlich sozusagen ein humanwissenschaftliches Aufklärungspotential. Hier gibt es sexuelle Veranlagungen, die um keinen Preis ausgelebt werden dürfen, die aber nicht zugleich moralisch zu bewerten sind, sondern es gibt tatsächlich Veranlagungen, die zunächst einmal zu beschreiben sind. Es ist zu verhindern, dass sie – um es noch mal zu betonen – ausgelebt werden, aber man kann nicht einfach an dieser Stelle so tun, als ob das auf irgendeine moralische Schuld zurückzuführen sei.
Weber: Aber man kann auch nicht sagen, es ist moralisch verwerflich, wir sind barmherzig, sondern man muss dann möglicherweise da irgendwelche klinischen Herangehensweisen finden, aber kann da nicht ein Mäntelchen der Barmherzigkeit drüberlegen, von dem man ja doch den Eindruck hat, dass dieses Mäntelchen ein Stück weit in manchen Fällen immer noch darübergelegt wird, weil es eben Priester sind, und weil es eben Angehörige der Kirche sind.
Striet: In der Tat, bis heute ist es so, dass Priester im Raum der katholischen Kirche eine Aura des Sakrosankten umgibt, und das muss aufgebrochen werden. Es kann hier auch nicht um Barmherzigkeit gegenüber straffällig, gewalttätig und damit auch straffällig gewordenen Priestern gehen, sondern man muss tatsächlich die Strukturen so verändern, dass das möglichst nicht der Fall mehr sein wird. Was aber zu beobachten ist, dass man im Raum der Kirche diejenigen, die dann tatsächlich identifiziert sind, schlicht und einfach ausgrenzt, und an der Stelle hat man die strukturelle Frage – warum begünstigt der Raum der Kirche eigentlich sexuelle Gewalt, könnte das auch mit einem bestimmten Amtsverständnis zu tun haben – immer noch nicht gestellt.
Großzügiger Austausch von theologischen Argumenten
Weber: Vielleicht hat Barmherzigkeit auch etwas mit Großzügigkeit zu tun, und wenn wir darauf gucken, dann muss man sagen, gibt es ja auch eine jetzt wieder neu aufgeflammte Auseinandersetzung darüber, was eigentlich theologische Wissenschaft so alles behaupten darf und wie sehr sie sich dabei von den Lehrsätzen und Glaubensgrundsätzen der Kirche entfernen darf. Also 2015 haben verschiedene Theologen dazu eine Erklärung veröffentlicht. Auch Sie haben danach dann noch mal reagiert auf Bischöfe, die wirklich sehr darauf gepocht haben, dass das Lehramt der Kirche doch weitaus über die Freiheit der Wissenschaft zu stellen ist. Würden Sie sich da mehr Großzügigkeit und damit auch Barmherzigkeit von Seiten der Kirche wünschen, was so die theologische Wissenschaftsfreiheit angeht?
Striet: Also Barmherzigkeit erwünsche ich mir bischöflicherseits überhaupt keine, wenn es um Theologie als Wissenschaft geht, sondern was ich mir erwünsche, ist, dass tatsächlich theologische Argumente gehört, und wenn keine Gründe dagegenstehen, dass diese dann auch rezipiert werden. Wir haben in der katholischen Kirche jedenfalls aufgrund der dort vorhandenen Struktur ein Rezeptionsproblem seitens des Lehramtes und damit – wo Sie sie erwähnen –, seitens der Bischöfe. Ich weiß schlicht und einfach nicht, welches theologische Argument Bischöfe verwenden wollen, wenn nicht die Argumente, die im öffentlichen Raum und damit im öffentlichen Diskurs der theologischen Wissenschaft gewonnen werden. Also nochmals, ich erwünsche mir hier keine Barmherzigkeit, sondern einen großzügigen Austausch von theologischen Argumenten, und was ich mir noch mehr erwünsche, ist, dass Theologie im Raum der Kirche tatsächlich rezipiert wird.
Weber: Vielen Dank, Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg.
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