Wie das Sprechen als Opfer befreiend wirkt
Wann ist es berechtigt, den Status als "Opfer" zu beanspruchen? Und was bewirkt dieser Schritt? Die Autorin Margarete Stokowski und der Sozialpsychologe Harald Welzer diskutieren über einen hoch ambivalenten Begriff - von dessen Instrumentalisierung von rechts bis zu #MeToo.
"Du Opfer", so lautet eine beliebte Beschimpfung (nicht nur) unter Jugendlichen. Zugleich treten Opfer von Diskriminierungen oder Gewalttaten heute zunehmend selbstbewusst auf und fordern Gerechtigkeit. Der Begriff des "Opfers", soviel scheint klar, ist hoch ambivalent. Wie der Sozialpsychologe Harald Welzer erläutert: Einerseits leben wir seit dem Ende der Heldenverehrung nach dem Zweiten Weltkrieg in einer "Opferkultur" – andererseits bleibt das "Opfer" jemand, "der oder die etwas erleidet" und damit "keine Rolle, die man haben möchte".
Die Autorin und Kolumnistin Margarete Stokowski sieht das ähnlich: Von einer "Attraktivität" der Opferrolle könne keine Rede sein – im Gegenteil: Die Ablehnung des Opferstatus bei Opfern etwa von sexualisierter Gewalt gehe häufig so weit, dass sie es dadurch schwerer hätten, überhaupt über das Erlebte zu sprechen:
"Es gibt sehr oft eine Distanzierung von diesem Begriff, die es dann wiederum schwierig macht, das zu verarbeiten, was passiert ist."
"Opfer" sei immer nur ein "Übergangszustand", den die Betreffenden in den meisten Fällen schnellstmöglich wieder verlassen wollten. Stokowski warnt vor Essentialisierungen:
"Opfer an sich kann man ja gar nicht sein. Normalerweise ist man immer Opfer von irgendetwas."
Ambivalenz oder Eindeutigkeit?
Trotzdem lässt sich beobachten, dass immer wieder versucht wird, eine bestimmte Rolle "als wehrloses Opfer" zu einer fixen und eindeutigen Identität festzuschreiben. Welzer nennt dafür das Beispiel der Verfolgten des Nationalsozialismus. Die historische Forschung lehre uns heute, dass die Überlebenden in dieser schematischen und passiven Rolle nicht aufgehen: Sie hätten im Gegenteil häufig Hilfe und Widerstand organisiert, aktiv ihr Überleben gesichert.
Historisch gesehen, so Welzer, hätte die schematische Gegenüberstellung von "Opfer"' und "Täter" ein "schiefes Geschichtsbild" befördert. Weder Täter noch Opfer gingen vollständig in ihrer jeweiligen Rolle auf, würden aber "durch diese Begrifflichkeiten vereindeutigt."
Dagegen gibt Stokowski zu bedenken, dass in gegenwärtigen Fällen, etwa der sexualisierten Gewalt, eine Vereindeutigung durchaus zu begrüßen sei: In diesen Fällen hätten die Betroffenen oft ohnehin schon das Gefühl, die Tat "provoziert" zu haben, was einer Anzeige oft im Wege stünde.
"Da ist es nicht gut, wenn man anfängt mit Ambivalenzen – 'Naja, vielleicht hast du auch irgendwas falsch gemacht' –, das was sich dann 'Victim Blaming' nennt. Da ist es gut, wenn es eine Eindeutigkeit gibt."
"Opfer": nicht Ende, sondern Beginn des Politischen
Wenn die Kategorie des "Opfers" trotz allem heute so prominent ist, mag das auch daran liegen, dass sie es leichter macht, bestimmte Ansprüche zu stellen und politische Forderungen durchzusetzen – das meint jedenfalls Welzer und mahnt zur Differenzierung, "ob ich die Opferrolle aus funktionalen oder politischen Gründen für mich reklamiere – ganz unabhängig davon, ob ich überhaupt de facto Opfer bin oder nicht. Oder ob wir es tatsächlich mit realen Sachverhalten zu tun haben."
Den Vorwurf, die Opferhaltung mache eine politische Auseinandersetzung zunichte, weil sie keinen Widerspruch dulde (wie ihn der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli formuliert), weisen beide Diskutanten zurück. Stokowski betont, gerade in Zeiten des Internets werde jedem selbsternannten Opfer immer auch heftig widersprochen.
Und Welzer argumentiert, dass oft gerade erst der Akt, sich öffentlich als Opfer zu benennen, eine politische Auseinandersetzung in Gang bringt. Als Beispiel nennt er die jahrelang totgeschwiegenen Missbrauchsfälle in der Kirche: Es habe lange gedauert, bis die Opfer dieser Vorgänge als solche ernst genommen worden seien.
"Das sind politische Durchsetzungsprozesse – so wie jetzt auch bei #MeToo. Und erst durch eine Debatte darüber wird das, was dort erlitten worden ist, zu einem politischen Sachverhalt."
Sprechen als Opfer "entopfert"
Gewalt werde immer in asymmetrischen und nicht-öffentlichen Machtverhältnissen ausgeübt. Vor diesem Hintergrund gerät gerade der öffentliche Auftritt als Opfer, das sein Recht einfordert, zum "emanzipativen Akt". Das betont auch Stokowski:
"Sich als Opfer hinzustellen und zu sprechen, ist eigentlich immer schon das Heraustreten (aus der Opferrolle, die Red.), also ein 'Entopfern'. Wenn man vorher passiv war, ist man dann aktiv und kann die Geschichte erzählen."
Dass das ganz praktische Konsequenzen haben kann, zeige wiederum das Beispiel der katholischen Kirche: Durch das öffentliche Auftreten von Missbrauchsopfern und die anschließende Debatte habe sich inzwischen vieles geändert, es gebe Ansprechpartner und Strukturen der Missbrauchsbekämpfung.
In der #MeToo-Debatte wurde immer wieder der Verdacht geäußert, die beteiligten Frauen bestätigten so das Klischee weiblicher Passivität und Ohnmacht. Dass dieser Vorwurf ausgerechnet dann aufkommt, "wenn es laut wird" und Frauen sich wehren, findet Stokowski "traurig, falsch, unsolidarisch" und schlicht "schräg":
"Dem liegt häufig auch ein verinnerlichter Frauenhass zugrunde. Frauen beschweren sich über etwas und klagen politisch eine Situation an – und dann sagt man: Ja, die heulen halt rum. Das ist das Billigste, was man Frauen vorwerfen kann: Dass sie hysterische Furien sind, die überempfindlich sind, die sich zu sehr aufregen, das sind sehr alte Bilder, die da transportiert werden."
Instrumentalisierung des "Opfers"
Paradox erscheint der Umgang mit dem Opferbegriff von rechts: Einerseits wird dort vehement gegen "Opfer" polemisiert – andererseits inszenieren sich rechte Bewegungen selbst als Opfer einer angeblich "unterdrückten" Meinungsfreiheit. Welzer sieht dieses Phänomen als Bestätigung der strategischen Dimension des Opferbegriffs:
"Das sagt etwas darüber aus, dass die Opferrolle in politischen Auseinandersetzungen ein Mittel sein kann, eigene Interessen durchzusetzen."
Und gerade im Fall der rechten Diskurse könne man sehen, wie gut diese Strategie funktioniert. Ein aktuelles Beispiel sieht Welzer im Fall des Schriftstellers Uwe Tellkamp: Bloß, weil sein Verlag zu dessen "politisch problematischen" Äußerungen Stellung bezogen habe, würde er sofort "zum Opfer von Meinungsterror" stilisiert.
Stokowski hingegen sieht im rechten Opfer-Diskurs einen Beleg dafür, dass die Instrumentalisierung des Begriffs schlecht funktioniere, angesichts offensichtlicher "Widersprüche":
"Wenn zum Beispiel die AfD behauptet, die Medien würden nicht richtig mit ihren Vertretern reden und man dann aber sieht, dass die haufenweise Medienanfragen abblocken und nicht mit Journalisten sprechen wollen."
Die Zukunft des Opferbegriffs
Besteht vor diesem Hintergrund die Gefahr einer Abnutzung, einer Erosion des Opferbegriffs? Stokowski hält eine gewisse "Gewöhnung", etwa in der #MeToo-Debatte, für möglich – betont aber, die Probleme verschwänden dadurch nicht:
"Jede dritte Frau in der EU wird ab ihrem 15. Lebensjahr Opfer von sexualisierter oder körperlicher Gewalt. Und wenn Leute keinen Bock mehr haben, das in den Nachrichten zu hören, dann wird es wahrscheinlich trotzdem weiterhin so sein."
Was bedeutet die Konjunktur des Opfers für unser Menschenbild? Welzer warnt davor, von unseren "zeitspezifischen und kulturspezifischen Formen der Identitätsbildung oder Instrumentalisierung" auf allgemeine menschliche Wesenszüge zu schließen: "Die entwickeln sich historisch, weil es politische Durchsetzungsprozesse veränderter Sichtweisen gibt."
Stokowski hingegen sieht die Notwendigkeit, die Möglichkeit des Opfer-Seins in jedes Menschenbild aufzunehmen: "Es ist immer ein unvollständiges Selbstbild, wenn man nur Aktivität mit hineinrechnet und Passivität nicht dazuzählt. Alles, was wir erleben, hat damit zu tun, dass wir immer beides sind: Subjekt und Objekt."
Eine höhere Sichtbarkeit von Opfern in unserer Gesellschaft, so glaubt sie, könne zu mehr Akzeptanz beitragen: "Dass das nicht irgendwelche verrückten Freaks sind, sondern Leute, mit denen wir zusammenleben und die da wahrscheinlich auch wieder herauskommen."
Wer aber darf legitimerweise einen Opfer-Status beanspruchen – und wer soll darüber entscheiden? Im Gespräch blieb diese Frage offen. Es gebe da jedenfalls keine einheitliche Wahrnehmung, meint Welzer: Die zahlreichen weltweiten Opfer von Krieg und Vertreibung etwa "spielen eine vergleichsweise geringe Rolle im politischen Diskurs". Und können somit ihren Status nicht politisch wirksam machen.