Interview mit Proust-Forscher

Ein Universum von Erinnerungen

Moderation: Katrin Heise |
Vor hundert Jahren erschien Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte über Déjà-vu-Erlebnisse, literarische Zumutungen und die berühmteste "Buchschrankleiche" aller Zeiten.
Katrin Heise: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – in der modernen hektisch-rastlosen Gesellschaft unserer Tage scheint das Motto des Romans von Marcel Proust ja ziemlich aktuell zu sein. Vor genau hundert Jahren, am 14. November 1913, erschien der erste Teil dieses sehr umfangreichen Hauptwerkes von Proust. Es wird als epochales Meisterwerk bezeichnet, nicht nur im Bereich des Erzählerischen, er beeinflusste auch die Philosophie, gar die Medizin und die Neurowissenschaften. Allerdings musste anfangs der Roman von Proust selbst herausgegeben werden, weil sich nämlich kein Verlag gefunden hatte.
In dieser Wochen wollen wir im Radiofeuilleton uns genauer mit Proust und seiner „Recherche“, wie der Roman im Original heißt, befassen. Wir beginnen mit dem Literaturwissenschaftler, Kritiker und Übersetzer Jürgen Ritte, der gleichzeitig auch Mitbegründer und Vizevorsitzender der Marcel-Proust-Gesellschaft ist. Schönen guten Tag, Herr Ritte!
Jürgen Ritte: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Was macht diesen Roman jetzt eigentlich aus? Was ist so das ganz Besondere auf der Suche nach der verlorenen Zeit? Ist es die Genauigkeit der Betrachtung, also quasi die lange, lange Zeit, die Proust sich nimmt, über die Zeit zu sinnieren?
Ritte: Das ist es unter anderem, die Länge. Die außerordentliche Länge. Es gibt immer wieder das Zitat des französischen Autors Anatol France, der damals ein bedeutenderer Autor war als Marcel Proust und der seufzend gesagt hat, das Leben ist viel zu kurz und Proust ist viel zu lang. Aber diese Länge ist gerade das, die auf die Leser den besonderen Charme des Werkes ausmacht. Proust nimmt sich in der Tat die Zeit, alles genau zu beschreiben, alles genau zu erinnern. Es ist im Grunde genommen auch eine Suche nach der Erinnerung.
Er misstraut der willentlichen Erinnerung, das ist die große Entdeckung Prousts gewesen: Man kann sich willentlich an etwas erinnern, aber alles das, was willentlich geschieht, ist im Grunde genommen nur eine verfälschte Erinnerung. Die wahre Erinnerung, die wahre Empfindung, so, wie es wirklich war, das ist die Offenbarung durch die berühmte unwillkürliche Erinnerung, die mémoires involontaires, das sind so Déjà-vu-Erlebnisse, die man hat. Und Proust forscht diesen Déjà-vu-Erlebnissen nach, weil er glaubt, dass dort etwas von der wahren Empfindung enthalten ist.
Heise: Da führen Sie uns auch direkt hin zu dieser berühmten Madeleine-Szene in dem Roman. Aber bevor wir uns weiter unterhalten, hören wir uns diese Szene mal an.
((Lesung Proust))
Heise: Eine Passage war das aus dem ersten Band von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Herr Ritte, was hat es mit diesem Erlebnis eigentlich auf sich?
Das Gefühl einer frisch gestärkten Serviette an den Lippen
Ritte: Das ist gleich zu Anfang des Romans das erste Erlebnis dieser Art. Als junger Mensch trinkt er, daran er erinnert er sich, eine Tasse Lindenblütentee, in die er eine Madeleine, das ist ein jakobsmuschelförmiges Gebäck, eintaucht, und das macht er viele Jahre später noch einmal, und in dem Moment entsteht die ganze Kindheit wieder in ihm auf, weil an dieses Geschmackserlebnis das Universum der Kindheit gebunden ist. Im Roman weiß er noch nicht, was das bedeutet. Im Grunde genommen ist der Roman die Geschichte der Erforschung der Bedeutung dieses Erlebnisses. Am Ende des Romans kommen lauter andere Déjà-vu-Erlebnisse, die ausgelöst sind von den banalsten Dingen des Alltags. Also das Gefühl einer frisch gestärkten Serviette an den Lippen, das Geräusch von gluckerndem Wasser in den Rohren, zwei unebene Pflastersteine, über die er stolpert, all das sind Auslöser von ganzen Erinnerungskomplexen.
Heise: Wofür steht eigentlich „verloren“ bei „verlorene Zeit“? Ist das vergeudete Zeit oder ist das unwiederbringlich vergangene Zeit, weil es eben die ganze Zeit um Erinnerungen geht?
Ritte: Die verlorene Zeit ist die Zeit, die uns unwiederbringlich verloren erscheint. Das ist ja der Sinn des Romans. Wir haben dort jemandem, der auf der Suche nach etwas ist, nach einer Wahrheit im Leben, nach einem Sinn im Leben, der gerne Schriftsteller werden will, aber gar kein Thema hat und nicht so recht weiß, wo es lang läuft. Und diese unwillkürlichen Erinnerungserlebnisse zeigen ihm, was Materie eines Buches sein könnte, seines Buches dann wird. Insofern ist es dann eine wiedergefundene Zeit, denn der letzte Band heißt ja „Le temps retrouvé“, die wiedergefundene Zeit.
Das heißt, vom Ende her entdeckt er, dass Zeit vergehen musste, dass Zeit verloren werden musste, damit sie überhaupt wieder erinnert werden kann, und das ist jetzt die Proust‘sche Finte, wenn ich so sagen darf. Nur die erinnerte, nur über die unwillkürliche Erinnerung wieder heraufbeschworene Zeit ist die wirkliche Zeit, die wir erlebt haben. Wir erleben etwas eigentlich nur retrospektiv in der Erinnerung, nie in der Gegenwart. Das ist sozusagen die Proust‘sche Konstruktion, die etwas komplex anmutet, aber auch für uns eigentlich sehr modern ist. Also immer das Gefühl zu haben, nicht wirklich in der Welt zu sein. Wir sind es erst erinnernd.
Heise: Dieser erste Band, der jetzt vor hundert Jahren im Eigenverlag erschienen ist – warum eigentlich im Eigenverlag. Kein Verlag wollte das Buch herausgeben. Woran lag das? War die Zeit noch nicht reif für Erinnerung?
"Erst vom Ende her verstehen wir, was er meinte"
Ritte: Ja, da gibt es auch viele Anekdoten um die Publikationsgeschichte. Er war ja schon relativ früh fertig, und 1912 hat er sich wohl bemüht, bei vielen Verlagen, damals namhaften Verlagen, hat immer ablehnende Bescheide bekommen. Die berühmteste Anekdote gilt dem damals wie heute bedeutenden Literaturverlag Gallimard. Angeblich ist das Buch unaufgeknüpft – Proust hatte einen Knoten um das Manuskript gebunden, wieder zurückgekommen mit einem ablehnenden Bescheid. Es lag unter anderem daran, dass man zum einen mit diesem einen Teil, mit diesem ersten Teil, nicht so recht wusste, was man damit anfangen soll. Also erst vom Ende her verstehen wir ja erst, was er meinte. Wenn jemand da lange im Bett liegt und sich hin und her wälzt und dann Kindheitserinnerungen heraufbeschwört, alles das blieb irgendwie ohne Ziel. Das versteht man erst vom Ende her. Das war das eine, dass das in der Tat etwas komplex war, eine Zumutung war zunächst. Das Zweite lag daran, dass Proust den Ruf eines Dandys hatte, eines reichen Müßiggängers, der sich um nichts Anständiges kümmert und der auch bis dahin wirklich eher als Dandy in Erscheinung getreten war. Wobei man übersieht, dass er auch als Übersetzer schon ein Werk hinterlassen hatte zu dieser Zeit.
Heise: Es war ja gleichzeitig wahrscheinlich auch eine ziemlich genaue Analyse der damaligen High-Society – vielleicht wollten die das auch nicht hören?
Ritte: Na, ich denke, dass die High-Society, die Aristokratie und die Bourgeoisie, die Proust erzählt, dieses Universum ist eines, das 1913 schon längst vergangen ist. Es liegt doch einige Zeit zurück. Es ist das Universum seiner Kindheit. Das ist eher das Universum 1870, 1880, vielleicht noch 1890. Aber es liegt zu dem Zeitpunkt, an dem der erste Roman erscheint, schon ein Vierteljahrhundert zurück.
Heise: Marcel Proust veröffentlichte im November 1913 den ersten Teil von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Jürgen Ritte lebt in Frankreich und ist auch Vizevorsitzender der Proust-Gesellschaft in Deutschland. Herr Ritte, der Philosoph Alain de Botton* hat „Wie Proust Ihr Leben verändern kann“ geschrieben. Er sagt aber auch, Proust sei in Frankreich zwar eine Ikone, aber er sei nirgendwo so tot wie dort. Was meint er damit eigentlich?
Ritte: Ich glaube, Monsieur de Botton oder Mister de Botton, er ist ja Engländer, übertreibt da ein ganz klein wenig. Proust steht ja nach wie vor auf den Lehrplänen der Schulen. Nicht, dass man den Schülern zumutet, die ganze „Suche nach der verlorenen Zeit“ zu lesen, aber man liest meistens den Anfang, also „Combray“ oder die Geschichte Swanns, „In Swanns Welt“. Und insofern ist er wohl sehr präsent, und es reicht, wenn man in diesen Tagen durch die Straßen geht, in den Buchhandlungen liegt überall Proust ganz groß aus. Natürlich wegen des 100. Geburtstags von „Du côté de chez Swann“, aber er ist immer präsent. Er ist immer in Ausgaben präsent, und es gibt eine Gesellschaft in Frankreich, die sich um ihn kümmert und um das kleine Dorf Illiers, das inzwischen eben auch Combray heißt. Das ist auch ein unerhörter Vorgang, dass ein Dorf umbenannt wird nach dem Romannamen, den es hat. Und es gibt Forschungsgruppen an den Universitäten.
Also es wird unglaublich viel getrieben um Proust herum in Frankreich. Er ist nicht wirklich tot. Vielleicht mutmaßt de Botton, dass Proust so etwas ist wie – das sagte mein Französischlehrer schon vor 40 Jahren, die Buchschrankleiche der Nation. Man hat ihn halt zu Hause stehen, aber ob man ihn wirklich zu Ende gelesen hat, das ist eine ganz, ganz andere Frage.
Heise: Sie haben auch schon mehrfach jetzt das Wort Zumutung verwendet bei den vielen, vielen tausend Seiten. Wann haben Sie das Werk gelesen?
Eine Ahnung von der Beschränktheit der eigenen Lebensdauer
Ritte: Sehr jung. Also das ist wie bei Obelix mit dem Zaubertrank. Ich bin zwar nicht als Kleinkind reingefallen, aber mit 17 dann doch. Und von dort an eigentlich auch nie wieder rausgekommen. Also wenn man einmal in Proust versunken ist, kommt man eigentlich seinen Lebtag nicht mehr wirklich raus.
Heise: Wenn man jetzt aber beispielsweise schon 40 ist und das Buch noch nicht gelesen hat und etwas zurückschreckt vor den tausenden von Seiten – die meisten Menschen, sagen Sie ja, haben es auch noch nicht gelesen – wie nähert man sich Proust, was würden Sie da für einen Tipp geben?
Ritte: Es gibt, glaube ich, für alle Lebensalter verschiedene Einstiegswege in Proust. Für mich war es im Alter von 17 Jahren ein unglückliches Verliebtsein. Das hat man häufiger, glaube ich, im Alter von 17, und der Anfang, „Du côté de chez Swann“, erzählt unter anderem die Geschichte einer unglücklichen Liebe, überhaupt die Unmöglichkeit von Liebe, und das war natürlich dann Balsam für die wundgeschlagene Seele.
In späteren Jahren kommt man vielleicht auf ihn zu, weil man doch dann langsam eine Ahnung hat von der Beschränktheit der eigenen Lebensdauer und von dem Verfließen der Zeit, also von der verlorenen Zeit. Mit 17 hat man noch nicht sehr viel Zeit verloren. Mit 40 bekommt man so langsam die Ahnung davon, und dann könnte das der Einstieg in Proust sein, also die Selbstbesinnung und der Versuch, so etwas wie die Essenz des eigenen Lebens festzuhalten. Proust hat selbst gesagt, und das ist ein oft zitierter Satz, jeder Leser ist, wenn er denn liest, im Grunde immer nur der Leser seiner selbst. Und Prousts Roman ist sozusagen das Instrumentarium, um in sich selbst zu lesen.
Heise: Sagt Jürgen Ritte, Literaturwissenschaftler und Vizevorsitzender der Proust-Gesellschaft. Wir werden uns in dieser Woche im Radiofeuilleton an dieser Stelle immer wieder mit Proust und mit seinem Epochenwerk beschäftigen. Morgen gehen wir dem unwillkürlichen Erinnern nach, wie es Proust beschreibt, und zwar aus neurobiologischer Sicht. Und nachher wechseln wir sogar noch an den Ort des Geschehens.
*Wir haben den Namen des Autors korrigiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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