Das Gespräch mit A. S. Byatt wurde für die Übertragung im Deutschlandradio Kultur übersetzt. In der englischen Originalfassung können Sie es hier nachhören.
"Shakespeare ist der beste Autor, den die englische Sprache gehabt hat"
Die britische Schriftstellerin und "Booker Prize"-Trägerin A. S. Byatt glaubt, dass das literarische Werk von William Shakespeare die "Initialzündung" für alle britischen Schriftsteller war und ist. Die Lehre über Shakespeare empfindet sie allerdings mitunter als ermüdend.
Matthias Hanselmann: Ist William Shakespeare unser Zeitgenosse? Das ist die Überschrift eines Literaturseminars des British Council, das zurzeit in Berlin läuft. Sieben renommierte und prominente Schriftsteller aus Großbritannien sind eingeladen, an Lesungen und Diskussionen teilzunehmen. Eine davon ist Antonia Susan Byatt, für sie ist Shakespeare Quelle der Inspiration in dramaturgischer und sprachlicher Hinsicht. Frau Byatt hatte ihren internationalen Durchbruch als Autorin im Jahr 1990 mit ihrem Roman "Possession", auf Deutsch "Besessen", für den sie mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde. 1999 wurde sie von der britischen Königin mit dem Titel Dame Commander of the British Empire ausgezeichnet, eine der höchsten Auszeichnungen des Vereinigten Königreichs. Ich habe mich gestern mit A. S. Byatt – so ihr schriftstellerischer Name – in ihrem Hotel in Berlin zu einem exklusiven Interview getroffen, und standesgemäß durfte ich sie mit Dame Antonia ansprechen. Meine erste Frage war, ob sie sich erinnert, wann zum ersten Mal sie etwas von Shakespeare gelesen hat – worauf sie überraschend auf Deutsch antwortete!
A. S. Byatt: Ich war sechs Jahre und ich habe "A Midsummer Night's Dream" gefunden von meiner Mutter, die hat Englisch in Cambridge studiert. Und ich habe …
Hanselmann: Sie können gerne in Englisch weiterreden! Aber man hört, Ihr Deutsch ist echt gut!
Byatt: Also, ich war sechs Jahre alt, da habe ich von meiner Mutter den "Mittsommernachtstraum" bekommen. Und dann habe ich den Anfang gelesen über die Liebenden und dann kamen all diese Elfen, diese Märchenwesen. Und ich war erst mal ein bisschen enttäuscht, aber dann dachte ich doch, es ist ein ganz großartiges Buch, nur, die Charaktere haben sich immer verändert, es kamen immer neue, es gab unendlich viele Fußnoten! Aber ich habe es verstanden, obwohl ich erst sechs Jahre alt war!
Hanselmann: Waren Sie eigentlich schon als Kind das, was wir hier in Deutschland eine Leseratte nennen, ein Kind, das Bücher verschlingt, sich damit in die Ecke setzt und sein Umfeld komplett vergisst?
"Ich konnte nirgendwo hingehen ohne ein Buch"
Byatt: Ja, ich konnte nirgendwo hingehen, ohne ein Buch dabeizuhaben, das hätte ich gar nicht ausgehalten! Aber ich hatte auch sehr schlimmes Asthma als Kind und ich war immer im Bett. Und da haben mir die Bücher sehr geholfen. Und mein Bett war auch immer voller Bücher und nachts sind die dann immer alle rausgefallen!
Hanselmann: Welche Rolle hat später dann im Laufe der Zeit, also nach Ihrem sechsten Lebensjahr, die Lektüre von Shakespeare in Ihrem Leben gespielt, war er eine Art Initialzündung für Ihr eigenes Schreiben?
Byatt: Ich denke, dass Shakespeare die englische Sprache an sich geschaffen hat, er und Chaucer haben das getan. Und somit ist die Initialzündung sozusagen für alle gültig, ob sie das wissen oder nicht, der Funke hat alle getroffen. Wir beginnen in England mit elf Jahren, Shakespeare in der Schule durchzunehmen. Und weil ich ein Mädchen bin, haben wir mit den Komödien angefangen, was vielleicht nicht unbedingt das Beste ist, aber egal!
Meine jüngste Tochter war 15, als sie in der Schule Shakespeare begann, und da fragte die Lehrerin, womit soll ich denn anfangen? Und ich habe vorgeschlagen "King Lear", und da sagte sie, nein, dann fehlt den Kindern doch das Wissen, die Bildung dafür! Ich sage, das ist egal, sie werden begeistert sein! Sie werden schockiert sein und sie werden begeistert sein, das wird ihnen gefallen! Die Jungs dagegen hatten angefangen mit "Wie es euch gefällt" und da waren die überhaupt nicht so angetan von.
Als sie dann "Macbeth" bekommen haben, waren sie sehr zufrieden, das hat ihnen dann wirklich gefallen. Ich selbst war 14, als ich "Hamlet" gelesen habe, und ich erinnere mich noch sehr gut an den Unterricht: Das war eine großartige Lehrerin, die eigentlich Schauspielerin war. Und ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass Judi Dench, Dame Judi Dench in der gleichen Klasse saß wie ich, und dann saß ich da neben Judi Dench und wir haben Shakespeare gelesen! Es war sehr lebendig, finde ich, damals in meiner Schulzeit! Und auf dem College in Cambridge war ich dann die beste Studentin im zweiten Jahr.
Hanselmann: Dame Antonia, der Literaturwissenschaftler A. D. Nuttall hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Shakespeare the Thinker", in dem er allerdings schreibt: Wir wissen nicht, was Shakespeare gedacht hat, aber wir können ihn bei der Arbeit beobachten! Haben Sie ihn bei der Arbeit beobachten können?
"Ich liebe Shakespeare, weil ich nicht weiß, was er dachte"
Byatt: Ich liebe Shakespeare auch deshalb, weil ich nicht weiß, was er dachte. Er hat gedacht im Sinne des jeweiligen Stückes, das er schrieb. Wenn es um eine Handlung ging, die im römischen Zeitalter angesiedelt war, dann dachte er wie die Römer, oder wenn es ein mittelalterlicher Stoff war, hat er sich in diese Denkweise hineinversetzt. Ich mag seine späten Stücke gerne, wenn es um die Väter-und-Töchter-Konflikte geht. Das, was ich jetzt sage, würde ich vielleicht im Unterricht so nicht sagen, aber mir gefällt sehr die Abschiedsrede von Prospero, da fühle ich mich Shakespeare sehr nahe. Aber was er über Politik oder Religion dachte, davon weiß ich überhaupt nichts.
Hanselmann: Sie sprechen die ganze Zeit von Shakespeare als einer Person. Sie kennen die Spekulationen, Sie kennen die Überlegungen, ob Shakespeare vielleicht nicht eine Person war, sondern mehrere, vielleicht ein ganzer Clan. Woran denken Sie, wenn Sie über Shakespeare sprechen, an welchen Menschen?
Byatt: Die Frage ist ja, ob man den persönlichen Bedarf hat zu wissen, dass es alles von einer Person geschrieben wurde. Ich glaube, ich habe das nicht. Mir ist das sehr bewusst, dass das vielleicht nicht eine Person alleine war, und ich kenne auch die stilistischen Untersuchungen, die Arbeiten, ich kenne John Ford, ich kenne Middleton und ich weiß, dass es da eine Zusammenarbeit gab. Aber ich lese diese Stücke und schätze sie als Text. Ich möchte bei Shakespeare nicht an die Person denken, ich bin nicht an ihm als Person interessiert, sondern als Autor. Mich interessiert das, was er geschrieben hat.
Und es gibt auch durchaus Stücke von ihm, die ich als ärgerlich empfinde, wo mich etwas stört, Passagen in Stücken, die ich nicht mag. Ich werde über das "Wintermärchen" sprechen, ich finde zum Beispiel, dass der Erzählbogen dieser Geschichte oft mehr als ärgerlich ist, dass das gar nicht kongruent ist, und das werde ich auch erwähnen. Ich muss sagen, dass die Lehre über Shakespeare oft sehr ermüdend ist. Die Freude, die ich als Kind hatte, allein den Text zu entdecken, ich denke, die könnte dadurch verloren gehen, weil er jetzt in diesen Studien oft endlos auseinandergenommen wird, jedes einzelne Teilchen wird betrachtet und einzeln untersucht. Und das große Ganze droht dabei verlorenzugehen. Wenn ich zum Beispiel die "Times" sehe in ihrer Literaturbeilage, eine ganze Seite von Artikeln über Shakespeares Bücher, das ist irgendwie traurig. Er ist für mich nicht da. Das ist vielleicht übertrieben, es gibt auch viele großartige Texte darüber, aber so sehe ich das.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das „Radiofeuilleton“, wir sprechen mit der britischen Schriftstellerin A. S. Byatt, die zurzeit in Berlin ist und aus Anlass des 450. Geburtstags von William Shakespeare an einer Tagung des British Council teilnimmt. Wenn wir über Shakespeare reden, reden wir – und das haben Sie bereits selbst getan – auch über die Komödie. Es gab einen Punkt in Ihrem Leben, da haben Sie gesagt, Sie haben den Wert einer Komödie jetzt erst so richtig zu schätzen gelernt. Welcher Punkt war das?
"Es muss nicht immer ein schlechtes Ende sein"
Byatt: Da habe ich wohl darüber geredet, als ich "Possession" schrieb. Ich habe vorher sehr viel über leidende Menschen geschrieben auch und dann habe ich diese Detektivgeschichte geschrieben, die ja auch eine Parodie war auf eine Reihe von englischen Texten, die es bereits gab. Ich habe da auch englische Detektivgeschichten mit eingezogen. Und so begann ich auch, zur Komödie zu finden. Ich habe das Buch ja vom Ende her geplant, also die Struktur sozusagen andersherum aufgebaut, und das brachte mir auch bei, die Komödie zu schätzen.
Und meine Lieblingskomödie von Shakespeare ist "Viel Lärm um nichts", das liegt auch daran, dass sie so viel Dramatik enthält, auch etwas Tragisches enthält. Deswegen schätze ich auch sehr Shakespeares letzte Stücke, die oft auch dramatisch sind, aber immer ein glückliches Ende haben. Jungen Autoren wird ja heute oft erzählt, schreibt keine Happy Ends, das ist langweilig oder was auch immer, aber ich finde nicht, dass man das unbedingt vermeiden muss. Es muss nicht immer ein schlechtes Ende sein, es muss nicht alles schlecht ausgehen, nur weil es im Leben so ist. Und es ist im Leben so. Aber es ist doch irgendwie auch sehr erfreulich und es tut gut zu lesen, wenn etwas gut ausgeht.
Hanselmann: Das Seminar, an dem Sie teilnehmen, trägt die Überschrift "Shakespeare. Unser Zeitgenosse?". Können Sie diese Frage beantworten?
Byatt: So richtig glücklich bin ich mit diesem Titel auch nicht, ich mag nämlich diese modernen Präsentationen, Darstellungen von Shakespeare nicht so sehr. Ich denke, die Leute, die jetzt Shakespeare auf die Bühne bringen und alles in ein modernes Gewand stecken und im Hier und Jetzt ansiedeln, sollten sich lieber eigene Geschichten ausdenken. Ich glaube aber, er ist ein Zeitgenosse, weil er der beste Autor ist, den die englische Sprache je gehabt hat. Wenn man sich allein seine Sonette anguckt, es gibt immer wieder neue Worte, es taucht immer wieder etwas auf, ein Gedanke, den man schon mal hatte, ein Gedanke, der einem so vertraut ist, der doch neu ist. Er ist nicht interessant für mich, weil er so besondere Ideen hätte, die sich jetzt auf die Welt von heute beziehen lassen würde, ich glaube, er hatte nicht wirklich so viele Ideen. Er war ein großartiger Autor, er konnte einfach wundervolle Stücke schreiben. Ich mag auch nicht, wenn man seine Stücke in diesen modernen Kostümen aufführt. Seine Stücke gehören in Shakespeares Kostüme, die aus seiner Zeit oder jeweils die römische Zeit, in der sie eben spielen. Dann passt es auch zusammen.
Hanselmann: Dame Antonia, Sie heißen mit ganzem Namen Antonia Susan Byatt. Warum benutzen Sie für Ihre Vornamen das Kürzel A. S.?
Byatt: Ich glaube, dass das in meiner Generation ziemlich normal war und auch in der Vorgeneration von Autoren. Es gab T. S. Eliot, Dorothy Sayers nannte sich D. L. Sayers. Und ich mochte diese Idee der Anonymität. Ich wollte nicht, dass der Autor seine Persönlichkeit in den Vordergrund stellt. Aber die Antonia habe ich tatsächlich durch Shakespeare bekommen, und zwar, weil ich den Antonio spielte in einer Aufführung. Ich mochte den Namen Susan nie und da hat die Lehrerin gefragt, ja, warum nennst du dich nicht Antonia? Und so ist es dazu gekommen!
Hanselmann: Dame Antonia alias A. S. Byatt über Shakespeare und die Bedeutung, die er für sie als Schriftstellerin hatte und hat und natürlich für Großbritannien und die Welt im Allgemeinen! Vielen Dank für die Übersetzung an Marei Ahmia! Das Seminar zu Shakespeares 450. Geburtstag im British Council wird übrigens im Internet als Lifestream übertragen, die Lesungen und Diskussionen können Sie verfolgen unter www.britishcouncil.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.