Zafer Şenocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf, studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Veröffentlichungen u.a.: "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch" (2006), "Deutschsein - Eine Aufklärungsschrift" (Edition Körber-Stiftung, 2011), "In deinen Worten. Mutmaßungen über den Glauben meines Vaters" (2015).
Der Begriff "Volk" muss neutral bleiben
"Wir sind das Volk", rufen die Pegida-Anhänger. Das bedeute "Ihr seid anders, ihr gehört nicht dazu" und sei gefährlich, meint der Schriftsteller Zafer Senocak. Wir dürften der Position widersprechen, sich der Diskussion zu verweigern würde aber zusätzliche Attraktivität verleihen.
Deutschland hat ein Problem. Es ist die Intoleranz der Guten. Die Guten haben immer Recht, weil sie diejenigen sind, die aus der Geschichte gelernt haben. Nirgendwo hat die richtige Lesart der Geschichte so viel Autorität wie in Deutschland. So wird auch Weltoffenheit abgesichert - denkt man.
Die Bösen sind schnell ausgemacht. Es sind die Ewiggestrigen, es ist die hinterwäldlerische Provinz, die sich gegen die weltoffenen Metropolen stellt. Doch statt abweichende Meinungen auszuhalten und zu kontern, sucht die Gemeinschaft der Gutmeinenden, das Abweichende zu eliminieren.
Es darf nicht sein, was da ist. Das Ergebnis ist nichts Gutes. Denn was nicht sein darf, macht sich wichtiger, als es ist. Es wird zu einem Sehnsuchtsort. Den Deutschen sind zu viele Sehnsuchtsorte im Laufe ihrer Geschichte zerstört worden. Meistens durch eigenes Tun. Sehnsuchtsorte rufen mehr Angst hervor als Sehnsucht.
Deutschsein als Heimatschutz
Kann und darf sich das deutsche Nationalgefühl auf nichts anderes berufen als auf die Untaten der Nazis? Ist eine romantische Vorstellung von Heimat, die sich auf Folklore, Bräuche und Tradition bezieht automatisch ein Sperrbezirk? Mitnichten.
Die Deutschen werden sich wieder an ihre Volkslieder erinnern, nach und nach. Sie werden auch ihre Sprache wieder lieben lernen. Überhaupt möchten manche Deutsche wieder ein Wir-Gefühl erleben. Am liebsten vor Ort, in ihrem Heimatort.
Das wird nirgendwo deutlicher als in Ostdeutschland, von wo in den letzten Jahren viele Menschen ausgewandert sind. Die Gebliebenen aber wollen sich ihr Bleiben als Heimatrecht versüßen. Ich bin hier, ich gehöre hierher und ich will niemanden hier, der nicht hierher gehört.
Man muss sich mit diesem Zugehörigkeitsgefühl beschäftigen, das keine Fremden verträgt. Ist es ein Wiederaufleben des Schreckgespensts von einst? Ist deutschnational gleich deutsch-homogen? Es ist eben komplizierter.
Provinz als Kurorte der Metropolen
Früher wollte sich die deutsche Dominanz der Welt gegenüber beweisen. Heute geht es um die Vormacht im eigenen Land. Man schottet sich gegen Konflikte ab, die in Ballungszentren ausgetragen werden. Provinzen verstehen sich als Kurorte des Deutschseins, pflegen den Heimatschutz. Wer möchte, kann sich dort von der Kakophonie der Metropolen erholen.
Gäbe es nicht andere Wege für das deutsche Nationalgefühl im Jahr 2015? Zaghafte Versuche werden gemacht. Einige erinnern beispielsweise an die Freiheitsbewegung des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert.
Einer der deutschesten Dichter war Heine, doch war er ein komplizierter Deutscher, so wie es heute wieder viele komplizierte Deutsche gibt. Man könnte sich also als guter Deutscher Heinrich Heine auf die Fahne schreiben. Oder sich zu jenen Farben hingezogen fühlen, die eine gewisse demokratische Tradition repräsentieren: schwarz, rot, gold.
Wider ein Volk ohne Fremde
Wer sich allerdings auf das Volk beruft, möge achtsam sein. "Volk" ist nicht automatisch ein juristischer oder ein sozialer Begriff. Es ist auch die Währung des Deutschseins. Sie schließt den Fremden aus: Wir sind das Volk, ihr seid anders, ihr gehört nicht dazu. Das ist eine böse, gefährliche Position. Zurecht. Sie hat den Nazis die Tore breit gemacht - und lebt im Deutschland des Jahres 2015 wieder auf.
Wir müssen lernen, diese Position auszuhalten und ihr zu widersprechen, ohne ihr Existenzrecht zu leugnen. Nur dann kann der Begriff "Volk" seine Neutralität in einer offenen Demokratie zurückgewinnen. Darauf berufen sich die Richter, wenn sie ihr Urteil im Namen des Volkes sprechen.