Unterschätzte Stärke

Warum wir introvertierte Arbeitskollegen brauchen

Eine Frau sitzt in einem Großraumbüro und versteckt ihren Kopf unter einem Regenschirm.
Laute Großraumbüros und Meetings mit vielen Kollegen können für introvertierte Menschen eine Herausforderung sein. © picture alliance / Westend61 / Kniel Synnatzschke
Introvertierte Menschen haben es in der Arbeitswelt nicht immer leicht. Dabei bringen ruhigere Charakterzüge viele Vorteile für eine gute Zusammenarbeit. Wie auch zurückhaltende Menschen im Job Gehör finden – und wie Unternehmen sie fördern können.
Sich in Diskussionen lautstark zu Wort melden, ungezwungen mit Kollegen interagieren und eigene Erfolge selbstbewusst in den Mittelpunkt stellen – die Charaktereigenschaften extrovertierter (ebenfalls richtig: extravertierter) Menschen werden in unserer Gesellschaft häufig positiv wahrgenommen, insbesondere in der Arbeitswelt.
Wer eher zurückhaltend und in sich gekehrt ist, kann sich gegenüber energiegeladenen, lauteren Kolleginnen und Kollegen oft nur schwer behaupten. Doch Unternehmen können stark von Teams profitieren, deren Mitglieder viele unterschiedliche Wesensmerkmale haben. Was hilft Introvertierten, im Job erfolgreich zu sein?

Was bedeutet Introversion?

Introversion wird in der Persönlichkeitspsychologie als Charaktereigenschaft verstanden. Im Vergleich zu extrovertierten Menschen benötigen introvertierte weniger soziale Kontakte, um sich wohlzufühlen.
„Introvertierte Personen sind Personen, die sich gerne zurückziehen, die gerne Zeit alleine verbringen“, sagt die Psychologin Jule Specht. Während extrovertierte Menschen sich in Gruppen wohlfühlen, suchen Introvertierte seltener gesellige Situationen auf. Stattdessen verbringen sie gern Zeit für sich allein zu Hause.
Auch wenn die beiden Begriffe häufig gleichgesetzt werden: Introvertiert zu sein bedeutet nicht zwangsläufig, schüchtern zu sein. Hinter Schüchternheit stecken soziale Ängste, die überwunden werden können. Introversion hingegen ist eine Charaktereigenschaft. Während Introvertierte gern allein sind, möchten Schüchterne vielleicht gerne geselliger sein, trauen sich aber nicht.
Schüchternheit kann also auch mit mangelndem Selbstbewusstsein zusammenhängen. Dann seien häufig Ängste der Grund für den sozialen Rückzug, sagt die Psychologin Jule Specht. Introvertierte können dagegen sehr selbstbewusst sein. Weniger Trubel ist ihnen aber einfach lieber. „Das heißt also, Introversion ist kein Fähigkeitsmakel, sondern das ist einfach eine Präferenz."

Wie viele Menschen sind introvertiert?

Genaue Zahlen gibt es dazu nicht, es wird aber davon ausgegangen, dass es etwa gleich viele introvertierte wie extrovertierte Menschen gibt. Introversion und Extraversion sind aber keine absoluten Kategorien, in die sich Menschen einteilen lassen. Es handelt sich eher um ein Spektrum an Persönlichkeitsanteilen. Rein introvertiert seien nur ganz wenige, betont die Psychologin Petra Kemter-Hofmann. „Es gibt ein paar Studien, die sagen, dass wir eigentlich fast alle in der Mitte sind.“

Introvertiert sein heißt nicht, dass ich stets und ständig introvertiert bin.

Jule Specht, Psychologin

Die Charakterzüge können also mehr oder weniger stark ausgeprägt sein – und sogar je nach Situation angepasst werden. „Introvertiert sein heißt nicht, dass ich stets und ständig introvertiert bin“, sagt die Psychologin Jule Specht.

Warum haben Introvertierte manchmal Probleme im Job?

Im Arbeitsleben geht es häufig darum, dass die eigenen Leistungen vom Chef oder der Chefin gesehen und anerkannt werden. Introvertierte Menschen neigen aber nicht dazu, sich und ihre Fähigkeiten in den Vordergrund zu stellen. Dadurch kann ihr Engagement möglicherweise übersehen werden. Auch in Teams gehen Introvertierte gegenüber ihren lauteren, lebhaften Kollegen teilweise ein Stück weit unter, sagt die Psychologin Petra Kemter-Hofmann.
Schwierigkeiten kann die Kommunikation mit Kollegen und Vorgesetzten für introvertierte Menschen mit sich bringen. Denn Small Talk ist für sie anstrengend, und auch Veranstaltungen mit vielen Menschen können herausfordernd sein. In Gruppensituationen fühlen sich viele Introvertierte schnell ausgelaugt. Auch die Arbeit im Großraumbüro kann introvertierte Menschen belasten. Viele hätten das Bedürfnis, sich gegenüber ständigen Gesprächen und Lärm abzuschirmen, sagt Kemter-Hofmann.
Aufgrund dieser Eigenschaften würden introvertierten Menschen manchmal negative Stereotype zugeschrieben, so die Expertin: „Die haben keine Kompetenz, die haben keine Führungsqualitäten, die sind keine guten Redner“, so Kemter-Hofmann. In Wirklichkeit seien das aber keine typischen Probleme von Introvertierten.

Wo liegen die Stärken von Introvertierten?

Trotz ihrer zurückhaltenden Art sind viele Introvertierte im Job erfolgreich. Einige typisch introvertierte Charakterzüge sind in bestimmten Berufen große Stärken.
Laut der Expertin für intro- und extrovertierte Kommunikation Sylvia Löhken sind introvertierte Menschen oft empathisch, können sich gut fokussieren und auch selbst hinterfragen. Auch analytisches Denken und die Fähigkeit, Dinge auf den Punkt zu bringen, zählen der Expertin zufolge zu den Stärken von introvertierten Arbeitskräften.

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Empathie und gutes Zuhören machen Introvertierte außerdem zu sehr guten Teamworkern. Auch müssen sie sich in Gruppen nicht immer unbedingt durchsetzen, sondern könnten sich anderen auch mal unterordnen.

Gibt es Berufe, die für Introvertierte besonders geeignet sind?

Die Fähigkeiten von introvertierten Menschen können in fast jedem Beruf Vorteile bringen. Denn im Zuge der Debatte um Diversität hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Teams mit unterschiedlichen Eigenschaften am produktivsten sind. „Wir können froh sein, dass wir nicht alle gleich sind“, betont die Psychologin Jule Specht.
Dennoch gibt es Berufe, in denen die Fähigkeiten eher in sich gekehrter Menschen stärker gefragt sind. „In vielen Berufen ist Zuhören enorm wichtig, zum Beispiel in Führungspositionen, in therapeutischen Berufen“, sagt Autorin Sylvia Löhken.

In vielen Berufen ist Zuhören enorm wichtig.

Sylvia Löhken, Autorin und Sprachwissenschaftlerin

Auch in Jobs, in denen man nicht ständig von Menschen umgeben ist, sind introvertierte Charaktermerkmale von Vorteil - beispielsweise Berufe in der Wissenschaft oder in Bibliotheken.

Was kann introvertierten Menschen im Arbeitsleben helfen?

Teilweise kann man als introvertierte Person selbst Strategien entwickeln, um in herausfordernden Situationen besser zurechtzukommen. Anstelle von Netzwerktreffen in großen Gruppen liegt vielen Introvertierten das Eins-zu-Eins-Gespräch besser. Eine Methode sei, sich auf Veranstaltungen vorab mit einer Kollegin oder einem Kollegen zu verabreden, sagt Melina Royer, die Jobcoachings für Introvertierte anbietet. Soziale Ängste könne man Stück für Stück überwinden, indem man zum Beispiel übt, im Gespräch mit Arbeitskollegen Blickkontakt zu halten.
Zu viele Gespräche und Trubel können Introvertierte erschöpfen. Deshalb kann es für sie hilfreich sein, im Homeoffice zu arbeiten oder ab und zu vom Großraum in ein leeres Büro zu wechseln.
Die Psychologin Petra Kemter-Hofmann plädiert aber auch an Führungskräfte, die Leistungen von introvertierten Mitarbeitenden im Team sichtbar zu machen. Introvertierte selbst machen auf ihre Erfolge eher nicht lautstark aufmerksam. Deshalb könnten Chefinnen und Chefs sie etwa in Teammeetings öffentlich loben, so die Psychologin. Und auch extrovertiertere Teammitglieder hätten die Möglichkeit, die Arbeit einer ruhigeren Person hervorzuheben. „Denn die wird selber nicht zwingend sagen: Hoppla, da bin ich und das habe ich gemacht."

kau
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