Investigativer Journalismus

Missstände aufdecken im Grenzbereich

07:38 Minuten
Ein älterer Mann mit Brille und Basecap.
Günter Wallraff erhält mit 78 Jahren noch immer fast jede Woche gravierende Hinweise auf Missstände, publiziert aber nicht alles sofort. © imago images/Felix Jason
Von Andre Zantow |
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Immer mehr Medien haben Investigativ-Teams aufgebaut. Sich Undercover wie einst Günter Wallraff irgendwo einzuschleusen, wird wenig genutzt - zumindest in Deutschland. Um Skandale aufzudecken, nutzen Journalisten oft andere Methoden.
Günter Wallraff ist so was wie der Urvater der Investigativ-Reportage im Nachkriegsdeutschland. 78 ist er inzwischen und beobachtet seine Nachfolger, die auch monatelang in Rollen schlüpfen, um so Unrecht aufzudecken, noch immer mit großem Interesse. Fündig wird er vor allem im Ausland, erzählt er:
"Der französische Kollege, der Valentin Gendrot, der hat sich ein halbes Jahr angetan, als Hilfspolizist hat er sich einstellen lassen. Hat dort Rassismus schlimmster Art kennengelernt. Das hätte er als normaler Journalist nie recherchieren können."

Der Privatbereich ist tabu

Das erinnert an die früheren Wallraff-Geschichten – aus dem Inneren der Bildzeitung 1977 oder als türkischer Gastarbeiter Mitte der 80er-Jahre in verschiedenen Unternehmen. Bei seinen Enthüllungen, so erzählt Wallraff, habe er immer eine Grenze beachtet:
"Auf jeden Fall ist der Privatbereich ein absolut geschützter Bereich. Erst recht der Intimbereich. Ich habe manchmal über sehr mächtige Prozessgegner, Konzernherren Material zugespielt bekommen. Vielleicht Straftatbestände usw. – aus dem Privatbereich. Da habe ich drauf verzichtet. In einem Fall ging es um einen mächtigen Konzernherrn, da kam ein Filialleiter aus dem Ausland, aus einer der Zweigstellen, der mir Sachen unterbreitete, die wirklich Menschen schädigte.
Aber das betraf seinen Privatbereich. Ich habe über einen Psychiater Kontakt zu ihm aufnehmen lassen und dringlich gemahnt, dass er das unterlässt. Und ich glaube, der hat sich seitdem vorgesehen und sich nicht mehr in dieser Szene betätigt. So wurde es mir gesagt."
Der zurueckgetretene Vizekanzler und FPOe Chef Heinz-Christian Strache im Mai 2019 auf einem Plakat in der Innenstadt von Innsbruck.
Der zurückgetretene Vizekanzler Österreichs und FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache im Mai 2019 auf einem Plakat in der Innenstadt von Innsbruck.© imago images/Manfred Segerer
Welches Material, dass Journalisten zugespielt wird, sollten sie auch veröffentlichen? Vor dieser Frage stand auch die Süddeutsche Zeitung 2019: Sie entschied sich, das sogenannte "Ibiza-Video" zusammen mit dem Spiegel als erste zu publizieren. Warum, erklärt Redakteur Klaus Ott:
"In diesem Fall war es so, dass Herr Strache in diese Situation hinein gelockt wurde und uns das Material hinterher angeboten wurde. Und wir dann entschieden haben bei der Süddeutschen Zeitung, dass die Aussagen von Herrn Strache politisch so bedeutend sind, dass es gerechtfertigt ist, diese Aussagen auch wiederzugeben."

Journalisten dürfen Politiker nicht in Fallen locken

Politiker selbst in solche Fallen zu locken als Journalist, das gehe für den langjährigen Investigativreporter Ott aber gar nicht:
"Nein, natürlich nicht! Wir können als Journalisten keine Fallen stellen, keine künstlichen Situationen schaffen, sondern wir treten mit offenem Visier an. Und falls es in der Medienlandschaft mal zu verdeckten Recherchen kommt – also zur sogenannten 'Wallraff-Methode' – dann geht das nur, wenn grobe Missstände nicht auf andere Weise aufgedeckt werden könnten. Wobei wir bei der SZ diese 'Wallraff-Methode' nicht praktizieren."

Klaus Ott setzt bei seinen Recherchen auf Informanten, auf das Wühlen in Zahlen, Akten und E-Mails. So hat der 61-jährige SZ-Redakteur schon viele große Wirtschaftsskandale aufgedeckt:
"Eine Geschichte, die wir vor zehn Jahren veröffentlicht haben, an der ich selbst auch beteiligt war, da hatten wir herausgefunden, dass ein Vorstand der Bayrischen Landesbank nach seiner Vorstandstätigkeit praktisch als Dankeschön vom Formel 1-Chef Bernie Eccelstone über eine Briefkastenfirma in der Karibik zwischen 40 und 50 Millionen Dollar zugesteckt bekommen hat."

Kein Geld an Informanten bei der Süddeutschen Zeitung

Für solche Geschichten selbst Geld an Informanten zu zahlen, das tue die Süddeutsche Zeitung nicht, erzählt Ott:
"Nein, das machen wir prinzipiell nicht bei der SZ. Da gibt es keine Ausnahmen davon. Aus gutem Grund. Was ich so in der Medienbranche über die Jahrzehnte beobachtet habe, ist das mit der Gefahr verbunden, dass man Leute anlocken würde, die für Geld ihre Großmutter verkaufen würden, wie man so schön sagt.
Andererseits gibt es aber Ausnahmesituationen, wenn große Missstände nur durch diese Methode aufgedeckt werden können. Dann ist das auch in Ordnung für Informationen zu zahlen. Das hat der Spiegel in den vergangenen Jahrzehnten in einem oder anderen Fall gemacht, wenn es um große Skandale ging. Das war dann auch gerechtfertigt. Aber wir bei der SZ machen das nicht."

Missstände aufdecken wie TKKG

Investigatives Arbeiten generell sieht Klaus Ott im Aufwind in Deutschland. Der Rechercheverbund aus Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR sei 2014 einer der Vorreiter gewesen. Davon profitieren auch jüngere Kolleginnen wie Lea Busch:
"Ich habe superviel TKKG, Drei Fragezeichen etc. gehört, fand das einfach superspannend und dachte mir, das ist ja wohl der Traumjob: Mit guten Freundinnen und Freunden ein Detektivbüro zu haben und Missstände aufzudecken."
Die 32-Jährige volontierte 2017 bis 2019 beim NDR – arbeitet jetzt unter anderem für Panorama und das Funk-Format "Strg_F". Da kommt es auch schon mal vor, dass sie in andere Identitäten schlüpfen muss:
"Ich habe mich auch schon unter einer falschen Identität ausgegeben und habe mich sozusagen eingeschleust. Das war natürlich eine große Überwindung. In mir hat das die ganze Zeit gearbeitet: Kann ich das so machen, wie weit kann ich gehen? Ich will einerseits fair und korrekt mit allen umgehen, andererseits hat man auch das Interesse, etwas herauszufinden und ist zu dem Zeitpunkt der Recherche der Meinung, das ist superwichtig, dass das veröffentlicht wird."
Wichtig sei in jedem Einzelfall, neu zu bewerten: Rechtfertigt das öffentliche Interesse die Schwere des Eingriffs? Werden keine gesetzlichen Grenzen überschritten? Das alles sei immer Teamarbeit, so die NDR-Journalistin.
"Ich habe zuletzt mit drei Kollegen länger zur Schufa recherchiert, und da haben wir unter anderem herausgefunden, dass die Schufa plant, an die Kontoauszüge von Verbraucherinnen und Verbrauchern zu kommen und diese auszuwerten. Und diese Pläne haben wir öffentlich gemacht."

Wallraff veröffentlicht heute nicht jeden Missstand

Günter Wallraff macht heute nicht mehr jeden Missstand öffentlich. Nach fast 60 Jahren Aufdeckungsarbeit erhalte er immer noch jede Woche gravierende Hinweise auf Missstände, suche aber inzwischen oft das direkte Gespräch:
"Mir geht’s ja nicht alleine ums Berichten, sondern danach muss sich auch positiv etwas verändern. Und die Hälfte meiner jetzigen Tätigkeit, das sind Versuche, auch hinter den Kulissen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen und an die Betriebe oder Behörden heranzutreten und zu sagen, das und das habe ich erfahren, bringen sie das in Ordnung. Dann muss ich es auch nicht veröffentlichen."
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