Ippolito Nievo: Bekenntnisse eines Italieners
Es dauert nur wenige Augenblicke, und man ist dem greisen Carlo Altoviti verfallen. Schelmisches Gelächter durchdringt die Satzgirlanden. Wir folgen dem Erzähler bei seiner Rückschau auf sein 80-jähriges Leben, das er 1775 als Venezianer begann und als Italiener zu beschließen hofft. Es soll ein Lehrbeispiel sein, eine nützliche Lektion für kommende Generationen aus dem Munde eines verdienten Patrioten.
Erste Station ist das Schloss von Fratta im Friaul, wo Carlo den Bratspieß drehte und als uneheliches Kind von der missgünstigen Gräfin malträtiert wurde. Sind wir in einer Komödie gelandet? In Goldoni-Manier präsentiert uns Carlo Altoviti die Gefährten seiner Kindheit. Mit ihren hoch aufgetürmten Perücken, den endlosen Kartenspielen, affektierten Konversationen und kulinarischen Entgleisungen bietet seine feindselige Familie einen faden Abklatsch des einstigen Glanzes der Serenissma - alles deutet auf den nahenden Untergang hin. Als Gegenwelt zu der maroden Schlossgesellschaft wird die Natur in ihrer ursprünglichen Schönheit gefeiert. Aber Carlos Denken und Fühlen kreist um seine tyrannische Cousine Pisana, die sich wie ein Fisch im Wasser den Gegebenheiten anzupassen weiß.
Ippolito Nievo, mütterlicherseits Abkömmling eines venezianischen Patriziergeschlechts und 1831 in Padua geboren, gelingt mit seinem 1500seitigen Hauptwerk Bekenntnisse eines Italieners eine atemberaubende Mischung aus zeitgenössischer Milieustudie, Abenteuergeschichte, Schauermärchen, Memoirenliteratur und ländlichem Sozialroman. Die unzähligen Verästelungen und Verzweigungen haben Prinzip. Als Verehrer von Laurence Sterne prägt Nievo nicht nur eine italienische Spielart der zwanglosen Abschweifung, sondern knüpft mit seinen Genrebildern und dem Lob auf die Tugenden des einfachen Menschenschlags auch an einen volkstümlichen Begriff von Literatur an, wie er in Frankreich gerade in Mode gekommen war. Nievo ist bewusst anti-elitär: von tiefer demokratischer Gesinnung getragen, will der Jurist, engagierte Publizist und Literat die geschichtlichen Zusammenhänge auf zugängliche Weise darlegen, ohne über die Kluft zwischen Landbevölkerung und aufgeklärtem Bürgertum hinwegzutäuschen. Von Rousseaus pädagogischem Entwurf des unverdorbenen "homme naturel" hält er gar nichts – im Gegenteil, Erziehung und Bildung sind Schlüsselbegriffe. Das legt er lang und breit am Beispiel von Carlos verzogener Cousine Pisana dar, deren kapriziöses Wesen durch mangelnde Anleitung noch verstärkt wird. Ihrem Charme tut das allerdings keinen Abbruch: Die glutäugige Pisana bringt Carlo auch als Erwachsenen dauernd um den Verstand.
Pisana ist geschwätzig, rachsüchtig, galant, schlagfertig, mutig, von berückender Schönheit und unberechenbar – kurzum, ein faszinierendes Geschöpf und eine der schönsten Frauengestalten der Weltliteratur. Anders als sein berühmter Kollege Alessandro Manzoni, der mit seiner herzensguten Lucia das Ideal der katholischen Weiblichkeit formulierte, entwirft Nievo eine in sich zerrissene Figur. Pisana verkörpert den Epochenbruch und wirkt verblüffend modern. Wie ein Wirbelwind fegt sie durch die Kapitel, und die Trennungen, Zerwürfnisse und seligen Vereinigungen des Paares geben den Rhythmus der Verwicklungen vor. Dass Pisana lange vor Carlo stirbt und ihn zuvor in die Ehe mit einer anderen Frau treibt, ist den Forderungen des Entwicklungsromans geschuldet: schließlich muss Carlo zu sittlicher Reife gelangen und überdies ein patriotisches Gewissen herausbilden. Der rasante Zickzackkurs seines privaten Geschicks findet in den nicht minder überraschenden Wechselfällen der Historie seine Entsprechung. Nach Napoleons Sturz sind alle Hoffnungen auf ein vereintes Italien zerstoben, Armut, Krankheit und Exil stehen auf dem Programm.
Dass Ippolito Nievo mit dem als Bastard gebrandmarkten Carlo einen ausgemachten Anti-Helden mit der Erzählung betraut, ist ein origineller dramaturgischer Schachzug. Seine Froschperspektive erlaubt dem Ausgestoßenen tiefe Einblicke in den Zustand der Markusrepublik. Dies ist der erste Schritt zu eigenverantwortlichem Handeln, wobei er es nie zum strahlenden Heroen bringt, sondern voller menschlicher Schwächen steckt. Sein Engagement für ein vereintes Italien teilt Carlo mit seinem Erfinder: Ippolito Nievo war ein überzeugter Anhänger des Risorgimento. Der 27-jährige wollte moralische Schützenhilfe leisten und schrieb innerhalb von acht Monaten die Bekenntnisse eines Italieners 1858 nieder, um sich bald darauf Garibaldi anzuschließen und in seinem Gefolge den Befreiungskampf in Sizilien auszufechten. Gerade noch hatte er seinen lebenssatten Helden über den Tod sinnieren lassen, da kam Nievo bei der Überfahrt von Palermo nach Neapel 1861 mit knapp dreißig Jahren ums Leben. Es liegt an Nievos narrativer Gestaltungskraft, dass der 1867 posthum erschienene dickleibige Lebensabriss weder in einem politischen Pamphlet, noch in einem Schlachtenkalender oder gar in einem Historiendrama erstarrt, sondern ein äußerst witziges und vitales Gebilde darstellt, das sich wie ein überdimensionales Wandgemälde in alle Richtungen ausdehnt und die Eigenarten Italiens einfängt.
Ippolito Nievos wucherndes Werk ist auch in sprachlicher Hinsicht erstaunlich. Er ist ein früher Vertreter stilistischer Polyphonie, schert sich nicht um die klassische Schriftsprache Toskanisch und Forderungen der sprachlichen Reinheit, sondern mischt gehobene mit niederen Ausdruckweisen und wartet mit einer Fülle von Soziolekten, dialektalen Eigenarten und syntaktischen Fügungen aus der gesprochenen Sprache auf. Gewisse Längen, Wiederholungen und Ungereimtheiten hängen mit Nievos plötzlichem Tod zusammen; zu einer Durchsicht oder gar Überarbeitung des Manuskripts war es nicht mehr gekommen. Die Lektüre beeinträchtigt das kaum, was der Übersetzerin Barbara Kleiner zu verdanken ist. Ihre neue Übertragung der Bekenntnisse eines Italieners ist eine Meisterleistung. Ein nützlicher Anmerkungsapparat, der den deutschen Ausgaben bisher nicht beigegeben war, vervollständigt den Lektüregenuss.
Ippolito Nievo: Bekenntnisse eines Italieners
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Mit einem Nachwort von Klaus Harprecht
Manesse Verlag Zürich 2005
1476 Seiten, zwei Bände
53, 80 Euro
Ippolito Nievo, mütterlicherseits Abkömmling eines venezianischen Patriziergeschlechts und 1831 in Padua geboren, gelingt mit seinem 1500seitigen Hauptwerk Bekenntnisse eines Italieners eine atemberaubende Mischung aus zeitgenössischer Milieustudie, Abenteuergeschichte, Schauermärchen, Memoirenliteratur und ländlichem Sozialroman. Die unzähligen Verästelungen und Verzweigungen haben Prinzip. Als Verehrer von Laurence Sterne prägt Nievo nicht nur eine italienische Spielart der zwanglosen Abschweifung, sondern knüpft mit seinen Genrebildern und dem Lob auf die Tugenden des einfachen Menschenschlags auch an einen volkstümlichen Begriff von Literatur an, wie er in Frankreich gerade in Mode gekommen war. Nievo ist bewusst anti-elitär: von tiefer demokratischer Gesinnung getragen, will der Jurist, engagierte Publizist und Literat die geschichtlichen Zusammenhänge auf zugängliche Weise darlegen, ohne über die Kluft zwischen Landbevölkerung und aufgeklärtem Bürgertum hinwegzutäuschen. Von Rousseaus pädagogischem Entwurf des unverdorbenen "homme naturel" hält er gar nichts – im Gegenteil, Erziehung und Bildung sind Schlüsselbegriffe. Das legt er lang und breit am Beispiel von Carlos verzogener Cousine Pisana dar, deren kapriziöses Wesen durch mangelnde Anleitung noch verstärkt wird. Ihrem Charme tut das allerdings keinen Abbruch: Die glutäugige Pisana bringt Carlo auch als Erwachsenen dauernd um den Verstand.
Pisana ist geschwätzig, rachsüchtig, galant, schlagfertig, mutig, von berückender Schönheit und unberechenbar – kurzum, ein faszinierendes Geschöpf und eine der schönsten Frauengestalten der Weltliteratur. Anders als sein berühmter Kollege Alessandro Manzoni, der mit seiner herzensguten Lucia das Ideal der katholischen Weiblichkeit formulierte, entwirft Nievo eine in sich zerrissene Figur. Pisana verkörpert den Epochenbruch und wirkt verblüffend modern. Wie ein Wirbelwind fegt sie durch die Kapitel, und die Trennungen, Zerwürfnisse und seligen Vereinigungen des Paares geben den Rhythmus der Verwicklungen vor. Dass Pisana lange vor Carlo stirbt und ihn zuvor in die Ehe mit einer anderen Frau treibt, ist den Forderungen des Entwicklungsromans geschuldet: schließlich muss Carlo zu sittlicher Reife gelangen und überdies ein patriotisches Gewissen herausbilden. Der rasante Zickzackkurs seines privaten Geschicks findet in den nicht minder überraschenden Wechselfällen der Historie seine Entsprechung. Nach Napoleons Sturz sind alle Hoffnungen auf ein vereintes Italien zerstoben, Armut, Krankheit und Exil stehen auf dem Programm.
Dass Ippolito Nievo mit dem als Bastard gebrandmarkten Carlo einen ausgemachten Anti-Helden mit der Erzählung betraut, ist ein origineller dramaturgischer Schachzug. Seine Froschperspektive erlaubt dem Ausgestoßenen tiefe Einblicke in den Zustand der Markusrepublik. Dies ist der erste Schritt zu eigenverantwortlichem Handeln, wobei er es nie zum strahlenden Heroen bringt, sondern voller menschlicher Schwächen steckt. Sein Engagement für ein vereintes Italien teilt Carlo mit seinem Erfinder: Ippolito Nievo war ein überzeugter Anhänger des Risorgimento. Der 27-jährige wollte moralische Schützenhilfe leisten und schrieb innerhalb von acht Monaten die Bekenntnisse eines Italieners 1858 nieder, um sich bald darauf Garibaldi anzuschließen und in seinem Gefolge den Befreiungskampf in Sizilien auszufechten. Gerade noch hatte er seinen lebenssatten Helden über den Tod sinnieren lassen, da kam Nievo bei der Überfahrt von Palermo nach Neapel 1861 mit knapp dreißig Jahren ums Leben. Es liegt an Nievos narrativer Gestaltungskraft, dass der 1867 posthum erschienene dickleibige Lebensabriss weder in einem politischen Pamphlet, noch in einem Schlachtenkalender oder gar in einem Historiendrama erstarrt, sondern ein äußerst witziges und vitales Gebilde darstellt, das sich wie ein überdimensionales Wandgemälde in alle Richtungen ausdehnt und die Eigenarten Italiens einfängt.
Ippolito Nievos wucherndes Werk ist auch in sprachlicher Hinsicht erstaunlich. Er ist ein früher Vertreter stilistischer Polyphonie, schert sich nicht um die klassische Schriftsprache Toskanisch und Forderungen der sprachlichen Reinheit, sondern mischt gehobene mit niederen Ausdruckweisen und wartet mit einer Fülle von Soziolekten, dialektalen Eigenarten und syntaktischen Fügungen aus der gesprochenen Sprache auf. Gewisse Längen, Wiederholungen und Ungereimtheiten hängen mit Nievos plötzlichem Tod zusammen; zu einer Durchsicht oder gar Überarbeitung des Manuskripts war es nicht mehr gekommen. Die Lektüre beeinträchtigt das kaum, was der Übersetzerin Barbara Kleiner zu verdanken ist. Ihre neue Übertragung der Bekenntnisse eines Italieners ist eine Meisterleistung. Ein nützlicher Anmerkungsapparat, der den deutschen Ausgaben bisher nicht beigegeben war, vervollständigt den Lektüregenuss.
Ippolito Nievo: Bekenntnisse eines Italieners
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Mit einem Nachwort von Klaus Harprecht
Manesse Verlag Zürich 2005
1476 Seiten, zwei Bände
53, 80 Euro