"Moderne Form der Schutzgelderpressung"
Der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes, hat davor gewarnt, den Einfluss ausländischer Geldgeber auf die Miliz "Islamischer Staat" (IS) zu überschätzen. Die Terroristen finanzierten sich unter anderem durch Lösegelder.
Dieter Kassel: Die Bundesrepublik will Waffen liefern an die Kurden im Irak, um sie bei der Bekämpfung der IS zu unterstützen. Diese Maßnahme ist umstritten, die Frage, ob die IS bekämpft werden muss, allerdings nicht. Täglich hören wir neue Nachrichten über den Terror dieser Organisation, sowohl im Irak als auch in Syrien. Aber was wissen wir eigentlich über sie, ihre Ursprünge und ihre Ziele? In wenigen Minuten hoffentlich einiges mehr, denn wir wollen genau darüber reden mit Volker Perthes, dem Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Morgen, Herr Perthes!
Volker Perthes: Schönen guten Morgen!
Kassel: Bis vor Kurzem, daran erinnern sich die meisten noch, hieß die IS noch ISIS, Islamischer Staat im Irak und in Syrien. Hatte sie davor noch andere Namen?
Perthes: Ja. Sie hieß mal Islamischer Staat im Irak und sie hieß vor allem, und damit können wir ja meistens mehr anfangen, Al-Kaida im Irak oder im Land zwischen den Flüssen, in Mesopotamien. Als solches ist sie entstanden, seit etwa 2002 kennt man die Gruppe, und nach der Zerschlagung des Regimes von Saddam Hussein hat sie sich dann relativ schnell im Irak ausgebreitet.
"Sunniten haben sich marginalisiert gefühlt"
Kassel: Nun ist Al-Kaida, das haben wir ja auch lernen müssen, ja mehr so etwas wie ein Netzwerk. Dieser damalige Teil des Netzwerks – kann man erklären, wo der wirklich herkommt, wie er entstanden ist?
Perthes: Der ist entstanden im Afghanistankrieg, erst noch im Kampf gegen die sowjetische Besatzung, dann im innerafghanischen Bürgerkrieg weiter gewachsen, hat sich dann ausgebreitet; im Wesentlichen entstanden aus arabischen Rekruten oder arabischen Teilnehmern für und am Krieg in Afghanistan.
Kassel: Heute ist das ja anders. Wir hören immer wieder davon, wie attraktiv die IS auch für Muslime aus Europa ist, aber wie konnte sie so groß werden. Also einmal rein praktisch gesehen, woher hatte sie gerade auch in ihren Anfängen die Möglichkeiten, die Waffen und das Geld?
Perthes: Ja, ich habe eben schon kurz darauf hingewiesen. Ein ganz wesentliches Moment ist die Zerschlagung oder der Sturz des autoritären, terroristischen Regimes von Saddam Hussein durch die amerikanische Invasion. Da sind dann, wie die Amerikaner heute selber ja auch kritisch feststellen, ganz viele Fehler gemacht worden. Zum einen ist die irakische Armee aufgelöst worden. Ganz viele Soldaten, Offiziere sind gewissermaßen mit ihren Waffen, zum Teil mit ihren Soldaten nach Hause gegangen, sind arbeitslos geworden, wussten aber, wie man kämpft und haben dann gegen die Amerikaner gekämpft. Gleichzeitig hat es eine politische Veränderung gegeben, die grundsätzlich sicherlich richtig war, dass nämlich die Mehrheitsbevölkerung auch die wichtigsten Positionen im neuen irakischen Staat eingenommen hat, also die Schiiten zur dominanten Kraft wurden. Das ist von einigen schiitischen Führern ausgenutzt worden, die Sunniten haben sich marginalisiert gefühlt, und das hat zum Zulauf zu radikalen und radikalsten Organisationen beigetragen.
"Der Islamische Staat nennt das Steuern"
Kassel: Aber woher hat die IS, wie sie sich heute nennt, die Terrororganisation Islamischer Staat, heute ihre Waffen und ihr, so will einem ja scheinen, ihre fast unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten?
Perthes: Heute kontrolliert sie einfach ein großes Stück Territorium in Syrien und Irak, etwa ein Drittel sowohl des Irak und ein Drittel Syriens. Und da gibt es Städte, da gibt es Handwerk, da gibt es Geschäft. Da gibt es in Syrien vor allem Öl, was man verkaufen kann, unter anderem auch an das syrische Regime. Also da gibt es genügend ökonomische Ressourcen, die man ausbeuten kann. Vorher ist es schon so gewesen, was Waffen angeht, danach haben Sie gefragt, dass sowohl der Irak als auch Syrien überläuft mit Waffen, insbesondere mit den Kleinwaffen, die in diesen Kriegen eingesetzt werden. Und das sind Waffen aus der alten irakischen Armee, das sind Waffen der amerikanischen Besatzungsarmee gewesen, das sind neue amerikanische Waffen, die an die neue irakische Armee geliefert worden sind. Die Systeme sowohl in Syrien als auch im Irak sind hoch korrupt. Das heißt eben auch, dass Oppositions- oder terroristische Kräfte sich bedienen bei den jeweiligen Regierungsarmeen, nicht nur immer, indem sie einen Stützpunkt überrennen und die Waffen erobern, sondern auch, indem sie sie einfach kaufen.
Kassel: Sie erobern Waffen oder bekommen welche bei Eroberungen, sie kaufen sie – aber werden sie auch mit Waffen beliefert von irgendwelchen Unterstützerstaaten?
Perthes: Das ist letztlich gar nicht notwendig. Was es in der Anfangsphase oder sagen wir mal, in den letzten Jahren – es gibt die Al-Kaida im Irak, Islamischer Staat im Irak, der schon seit mehr als zehn Jahren – aber was es so in den letzten zehn Jahren nach dem Abzug der Amerikaner verstärkt gab, sind individuelle Spenden, muss man wohl sagen, von reichen Individuen aus den arabischen Golfstaaten gewesen. Keine offizielle staatliche Unterstützung von einem der Staaten, aber eine gewisse Toleranz der Staaten gegenüber privaten Spenden. Das hat die ISIS damals sicherlich unterstützt. Aber man soll diesen Einfluss des ausländischen Geldes, glaube ich, analytisch nicht überschätzen. Es gibt im Irak und auch in Syrien genügend Ressourcen, wo eine solche Organisation sich bedienen kann. Und das können sie auch mit relativ wenigen Waffen. Es ist erpresst worden, es sind Schutzgelder erpresst worden. Es sind Menschen entführt worden und dann gegen Lösegeld freigelassen worden. Und das reicht für eine solche Organisation, am Anfang jedenfalls, um sich am Leben zu halten und Stück für Stück mehr Gewalt auszuüben. In vielen dieser kleinen Städte, die unter der Kontrolle des Islamischen Staates oder eben der ISIS sind, wird den Bürgern Geld abgepresst. Sie können das eine moderne Form der Schutzgelderpressung nennen – der Islamische Staat nennt das Steuern.
Entsprungen aus einer streng konservativen Schule des Islam
Kassel: Gekämpft wird ja nicht nur gegen Nicht-Muslime, sondern auch gegen Muslime, die trotzdem Ungläubige sind, weil sie nicht diesem Weltbild angehören, das die ISIS vertritt. Was ist denn das für ein Weltbild?
Perthes: Das Weltbild ist ein streng radikal islamisches, inspiriert durchaus von der wahhabitischen, also streng konservativen Schule des Islam, wie wir sie in Saudi-Arabien haben, aber angelehnt nicht etwa an das saudi-arabische Staatsmodell, ganz und gar nicht, sondern an ein mittelalterliches Staatsmodell, eben das Kalifat. Wir hatten diverse Kalifate nach dem Tod des Propheten des Islam, Mohammed, also seit dem siebten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Die großen Zeiten des Kalifats gingen um 1250 mit dem Einfall der Mongolen in die arabische Welt unter. Insbesondere das abbasidische, also in Bagdad angesiedelte Kalifat vom achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bis zum 13. Jahrhundert, das dient als Quelle der Inspiration. Und was daran interessant ist, ist, dass dieses Kalifat, ähnlich wie die Reiche im Westen, im heutigen Europa, damals nicht ganz klare territoriale Grenzen hatten. Da gab es sich überschneidende Loyalitäten zwischen Fürstentümern, zwischen Imperien, zwischen eben dem Kalifat. Und das ist ein Stück weit auch ein Bild, was heute hilft, wenn der selbsternannte Kalif sagt, er ist der legitime Herrscher, er erklärt sich selbst zum legitimen Herrscher aller Muslime, egal, wo sie denn sind, aber territoriale Herrschaft übt er in dem Stück Syriens und des Irak aus, das seine Organisation tatsächlich kontrolliert.
Kassel: Volker Perthes, Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, über die IS, die Terrororganisation Islamischer Staat, und ihre Hintergründe.
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